Augustin Souchy - Die soziale Revolution in Spanien 1936

Der freiheitliche Sozialismus

In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte der freiheitliche Sozialismus in der Schweiz, Italien und Frankreich zahlreiche Anhänger. In den germanischen Ländern gelangte er nie zu größerer Bedeutung. In Frankreich feierte er im Syndikalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Auferstehung. Am stärksten hatte er in Spanien Wurzeln gefaßt. Er trat anfangs als Anarchismus und später als Anarchosyndikalismus in Erscheinung. Der Einfluß des spanischen Anarchismus machte sich selbst in den Reihen der spanischen Sozialdemokraten in gewissen Äußerungen bemerkbar. Die zahlreichen sozialrevolutionären Experimente des spanischen Proletariats sind vom Geiste des Anarchismus getragen.

Die Arbeiterbewegung hat in jedem Lande ihren besonderen Charakter. Die spanischen Formen der sozialen Bewegung kann man in etwas veränderter Weise auch in Lateinamerika finden. Man kann sie als freiheitlichen Sozialismus bezeichnen. Im Gegensatz zum marxistischen Sozialismus ist der freiheitliche revolutionärer, dabei aber doch antidiktatorisch. Er verteidigt die Freiheit und predigt Toleranz. Er lehnt die Nationalisierung oder Verstaatlichung der Produktionsmittel ab und stellt ihr die Sozialisierung entgegen. Beide dürfen nicht verwechselt werden. Bei der Nationalisierung wird der Staat der neue Eigentümer, die Wirtschaftsführer sind Staatsbürokraten. Nach der freiheitlich-sozialistischen Definition sind Staat und Volk nicht identisch. In einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaftsordnung soll die Wirtschaft von Gewerkschaften, Genossenschaften aller Art und den Gemeinden geleitet werden. Das Privateigentum an Produktionsmitteln würde im freiheitlichen Sozialismus wie im Staatssozialismus abgeschafft sein, doch nicht in Staats-, sondern in Kollektiv- und Gemeindeeigentum umgewandelt werden. Die politischen Organe im freiheitlichen Sozialismus sind die Gemeinden, die sich zu kleineren oder größeren Bünden zusammenschließen können. Diese Bünde sollen an die Stelle des heutigen Staates treten.

Diesen Weg des freiheitlichen Sozialismus hat der spanische Anarchosyndikalismus beschritten. In allen Teilen Spaniens, wo nach dem 19. Juli 1936 der faschistische Aufstand niedergeschlagen wurde, sind die Ideen des freiheitlichen Sozialismus mehr oder weniger vollkommen verwirklicht worden. Das war ein soziales Experiment von großer geschichtlicher Bedeutung für die Zukunft des Sozialismus.

Von allen sozialen Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts war die soziale Revolution in Spanien nach dem 19. Juli am meisten vom sozialistischen Geiste erfüllt. Sie ging nicht den Weg der Diktatur des Proletariats wie in Rußland, sondern den Weg der Freiheit. Das ist ihr großes Verdienst. In der Sowjetunion herrschen die Bürokraten über die Produktionsmittel und auch über die Produzenten. Das Volk ist dem allmächtigen Sowjetstaat unterworfen. Die Freiheit ist in der Sowjetunion unterdrückt. Es wird eine neue Revolution erforderlich sein, um die Freiheit zurückzuerobern.

In der deutschen Revolution von 1918 wagten die Sozialdemokraten es nicht, sozialistische Experimente zu machen. Die privilegierten Klassen blieben im Besitze ihrer Vorrechte. Die Junker herrschten uneingeschränkt auf ihren Gütern wie vorher. Der Einfluß der Militärklasse blieb ungebrochen, die privatkapitalistischen Kartelle und Konzerne beherrschten die Wirtschaft. Diese Beispiele zeigen, daß weder der revolutionäre Marxismus russischer Observanz, noch der gemäßigte Marxismus der deutschen Sozialdemokratie zur Freiheit, zur sozialen Gerechtigkeit und zum Sozialismus führen.

Einen anderen Verlauf mit ganz neuen Perspektiven hat die spanische Revolution genommen. Es ist nicht übertrieben, den Prozeß der Kollektivierung des Wirtschaftslebens in Spanien als das bedeutendste soziale Experiment des Zwanzigsten Jahrhunderts zu betrachten. Es handelt sich nicht um Staatsdekrete. Es war keine Revolution von oben. Alles wurde von unten, an der Peripherie, vom Volke selbst unternommen. Eine neue Wirtschaftsordnung wurde organisiert, das Privateigentum an Land und Produktionsmitteln wurde abgeschafft. An Stelle des Privateigentums trat das Kollektiveigentum. Es gab keine privaten Unternehmergewinne mehr. Doch auch der Staat wurde nicht zum Herrn der Produktionsmittel, wie Marx und Engels es in ihren Schriften gefordert hatten. In Spanien zeigte sich an praktischen Beispielen der Unterschied zwischen dem Staatssozialismus und dem freiheitlichen Kollektivismus.

Der Verlauf der spanischen Revolution ist faszinierend. Die Kollektivierung des Landes durch die Bauern, der Fabriken und Werkstätten durch die Arbeiter und Techniker und der Geschäftsunternehmen durch die Angestellten, hat überraschende Ereignisse gezeitigt. Das gesamte Volk nahm an dem neuen Wirtschaftsaufbau Anteil. Die Erfahrungen der spanischen Revolution sind für die Zukunft des Sozialismus von größter Bedeutung. [1] ...

Für die Arbeiterbewegung der westlichen Länder können die Erfahrungen der spanischen Revolution von größerem Nutzen sein als die Erfahrungen des Ostens. Auch Mitteleuropa kann davon lernen. In Rußland baute eine Gruppe energischer Männer mit einer formlosen Masse von Herdenmenschen eine große staatliche Zwangsanstalt. In Spanien schufen individualistisch eingestellte Lateiner aus sich selbst heraus einen eigenen Volkssozialismus.

Fußnoten:
[1] Anmerkung des Verfassers: Mein Urteil über die Kollektivierungen in Spanien stützt sich auf eigene Beobachtungen. Ich habe gleich nach der Kollektivierung zahlreiche Betriebe in Barcelona besucht, um mich über den Charakter der Kollektivierungen zu informieren. Später bin ich aufs Land gereist, um mich mit dem Kollektivismus bekannt zu machen. Die nachfolgenden Beschreibungen über die Kollektivierungen stützen sich auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen. Im Jahre 1920 habe ich mich sechs Monate in Rußland aufgehalten. Auch dort habe ich mich eingehend mit den revolutionären Veränderungen in Stadt und Land beschäftigt... Mein Aufenthalt in Rußland 1920 und meine Anwesenheit in Spanien während des Bürgerkrieges von 1936-1939 versetzten mich in die Lage, einen Vergleich zwischen beiden Ländern zu ziehen. Ich habe feststellen können, daß die spanischen Bauern und Arbeiter 1936 weit mehr vom sozialistischen Geiste des Neuaufbaus erfüllt waren als ihre russischen Brüder vom Jahre 1920.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach:
Anarcho-Syndikalisten über Bürgerkrieg und Revolution in Spanien. Ein Bericht. Darmstadt 1969. S. 92 ff. [Erste Auflage unter dem Titel: Nacht über Spanien. Bürgerkrieg und Revolution in Spanien. Darmstadt-Land o. J.]

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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