Der Patriotismus

Was wir über die Familie gesagt haben, findet in noch höherern Maße Anwendung auf den Begriff "Vaterland."

Was ist das "Vaterland? Eine zufällige Anhäufung von Menschen auf einem bestimmten Stück Erde, die infolge von blutigen Kriegen da zusammengepfercht wurden. Wenn die Waadtländer in ihrem schweizerischen Patriotismus die Schlachten von Grandson und Murten feiern, wenn unser Landsmann Eugene Burnand in seiner meisterhaften Weise uns auf seiner Leinwand die finstere und traurige Figur Karls des Kühnen zeigt, dessen Stolz sich vor dem Schweizer Hirten beugen mußte, dann vergessen wir ganz, daß unsere Waadtländer Voreltern Soldaten eben dieses Herzogs von Burgund waren und in diesen Schlachten vor ihren ehemaligen Eroberern, den Schweizern, flohen.

Es ist eben eine drollige Sache um diesen Patriotismus, der sich wie ein Aal windet, und an alle Verhältnisse anpaßt. Sind nicht die chauvinistischten "Franzosen" in Frankreich geborene Deutsche? Sind die wütendsten Antisemiten nicht selbst getaufte Juden? Sehen wir nicht Deutsche, Schweizer, selbst Franzosen nach einigem Aufenthalte in England die Vollblut-Engländer spielen, ja englischer sich gebärden als ein alter Lord? Man hat behauptet, daß der Patriotismus aus der Rassenzugehörigkeit entstehe und auf die Gemeinschaft des Blutes gegründet sei. Welche Absurdität! Sehen wir nicht die Yankees, die Nordamerikaner, jene seltsame Mischung aller Rassen der Welt, jenes Zwittervolk, in welchem englisches, irländisches, chinesisches und Negerblut rollt, heute sich mit einem amerikanischen Patriotismus brüsten, der ebenso chauvinistisch und ebenso exklusiv ist wie der der Tschechen, Ungarn und Basken? Und die Ungarn, die so stolz sind auf ihren Namen und ihren magyarischen Patriotismus? Untersuchen wir sie näher, so finden wir bei ihnen ein Gemisch von Juden, Slaven und magyarisierten Deutschen, das derartig verbreitet ist, daß man in Budapest oft vergeblich nach einem wahren ungarischen Typus sucht.

Dieses ganze künstliche und unbeständige Sammelsurium dessen augenblickliche Zusammensetzung dem jeweiligen Patriotismus seine Gestalt gibt, beruht heutzutage, abgesehen von der Verschiedenheit der Sprachen, auf nichts anderem, als auf müssigen Überlieferungen vergangener Zeiten, Überlieferungen, welche man aus ehrgeizigen und egoistischen Zwecken den Eifersüchteleien und den kleinlichen Gehässigkeiten der gegenwärtigen Zeit anpaßt.

Der Patriotismus hatte ehemals seine Daseinsberechtigung, als die Zivilisation auf kleinen Gebieten lokalisiert war, die Erdteile kaum bekannt, die Völker unter sich natürliche Feinde waren, als die menschliche Solidarität als die einer großen, hoch entwickelten Völkerfamilie auf unserem kleinen Erdglobus weder begriffen noch überhaupt vorausgeahnt werden konnte. Aber heutzutage hat er sich überlebt, er ist nur noch ein Rest von Barbarei und Unwissenheit, der gegründet auf Engherzigkeit und Heuchelei nur dazu dient, Bruderkriege zwischen den Menschen anzufachen. Höchstens können wir ihm die Berechtigung als provisorisches Verteidigungsmittel der Schwächeren gegen die Angriffe der Stärkeren einräumen.

Die Moral des Patriotismus ist eine falsche, heute veraltete; sie ist die Mutter der Kriege, und der schlimmsten Unmoralitäten, weil sie zu einer übertriebenen Liebe einer Gruppe von Menschen zum Nachteil aller Anderen treibt, und weil sie so Nebenbuhlerschaft, Haß und Kampf zwischen den Nationen erzeugt.

Man liebe seine Heimat und seine Landsleute, das ist sehr gut, und dagegen ist gewiß nichts einzuwenden. Aber diese Zuneigung muß der viel höher stehenden Liebe zur Menschheit untergeordnet werden. Wird sie das nicht, so gebiert sie notwendigerweise den Chauvinismus und alle mit diesem zusammenhängenden Übel.

Prof. Dr. A. Forel.

*) Aus der neuesten Schrift des so modern und freiheitlich denkenden Gelehrten, die den Titel trägt: "Die Rolle der Heuchelei, der Beschränktheit und der Unwissenheit in der landläufigen Moral." Verlag Deutschschweizerischer Freidenkerbund. Zürich 1900.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 9 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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