Anarchismus - Solidarität

„Anarchismus und Kommunismus sind unvereinbare Gegensätze" haben einige unehrliche Gegner behauptet, denen im Grunde herzlich wenig daran gelegen war, diese Frage aufzuklären. „Kommunismus bedeutet Organisation, diese verhindert die Entwickelung der Individualität, dies dürfen wir nicht zugeben; wir sind Individualisten, wir sind Anarchisten, nichts mehr," haben manche aufrichtige Männer ausgerufen, vielfach, weil sie das Bedürfnis fühlten, fortgeschrittener als alle ihre anderen Kameraden zu scheinen, und die, da sie keine eigene Originalität besassen, sich zu übertreffen suchten, indem sie die Ideen übertrieben und ad absurdum führten; diesen schlossen sich dann diejenigen an, welche die Regierenden gern sich in die Reihen ihrer Gegner schleichen sehen, damit sie dieselben teilen und vom Wege ablenken.

So sieht man denn die Anarchisten sich in den Haaren liegen und über Anarchismus, Kommunismus, Initiative, Organisation, Egoismus und Altruismus diskutieren, kurz über eine Menge gleich absurder Dinge; denn nach einer gründlichen Diskussion zwischen ehrlichen Gegnern kommt man schliesslich zu der Einsicht, dass man dasselbe wollte, und nur verschiedene Bezeichnungen anwandte.

In der Tat, die Anarchisten, welche den Kommunismus fordern, erkennen vor allem an, dass der Mensch nicht für die Gesellschaft in die Welt gesetzt worden sei; dass im Gegenteil sich diese nur gebildet hat, um jenem eine grössere Möglichkeit, sich zu entwickeln, zu bieten. Es ist klar, dass, wenn sich eine grössere Zahl Individuen zusammenschliessen und ihre Kräfte vereinigen, sie dies in der Absicht tun, um bei einem geringeren Aufwand von Kräften eine grössere Summe von Genüssen tu erlangen. Sie haben keineswegs die Absicht, ihre Initiative, ihren Willen, ihre Individualität zu gunsten einer Wesenheit zu opfern, welche nicht vor ihrer Gruppierung bestand, und welche mit deren Auflösung verschwinden würde.

Ihre Kräfte zu sparen in dem rauhen Kampfe mit der Natur, um ihr die notwendigen Existenzmittel zu entreissen, das war sicherlich der erste Gedanke, der die Menschen leitete, als sie zur Gruppenbildung schritten, oder der diesem Vorgang als stillschweigendes Einverständnis zu Grunde lag, wenn er nicht in ihren ersten Gruppierungen diskutiert worden ist, die wahrscheinlich immer nur vorübergehend und nur auf die Dauer der gemeinsamen Anstrengung beschränkt waren, sich jedoch nach einmal erlangtem Resultate auflösten. Also bei den Anarchisten denkt niemand daran, die Existenz des Individuums der Gesellschaft unterzuordnen.

Das freie Indiviuum, vollkommen frei in allen seinen Betätigungen, das ist es, was wir alle fordern; und wenn es einige gibt, welche die Organisation verwerfen und erklären, dass ihnen alles Gemeinwesen lächerlich vorkomme, dass der Egoismus des Individuums der einsige Massstab für sein Verhalten sei, dass die Anbetung seines Ichs vor und über jede humanitäre Betrachtung gehen müsse — und dabei kommen sitz sich ausserordentlich weise vor — dann beweist es eben nur, dass solche Leute niemals die psychologische und physiologische Struktur des Menschen studiert und sich nie Rechenschaft über die eigenen Empfindungen abgegeben haben. Sie besitzen keine Vorstellung von dem, was das Leben des modernen Menschen ist, welches seine physischen, moralischen und intellektuellen Bedürfnisse sind.

In der modernen Gesellschaft finden wir verschiedene dieser ausgeprägten egoistischen Typen. Die Delobelle, die Hjalmar, die Eikdal u.s.w. sind nicht selten heute; sie existieren nicht nur in den Romanen, sondern in der Wirklichkeit. Es wäre überflüssig, weitere Namen anzuführen, die wenigen genügen; es sind Typen, die wir kennen, Menschen, denen im ganzen Leben nichts anderes als ihre eigene Persönlichkeit vor Augen schwebt. Ohne irgend welche Bedenklichkeiten monopolisieren sie die besten Brocken, denn die Rücksicht auf die Anderen ist nie ihre schwache Seite gewesen. Sie leben herrlich und in Freuden, während andere zu gründe gehen in Hunger und Elend. Die Aufopferung der Anderen, die Aufopferung von Vätern und Müttern, Frauen und Kindern erscheint ihnen als eine selbstverständliche Sache; während sie sich selbst mit gewohnter Unverschämtheit als die Elite, als die Auserwählten der Gesellschaft betrachten. Die Leiden der Anderen zählen nicht bei ihnen, solange ihre persönliche Existenz nicht beeinträchtigt wird; im Gegenteil, sie finden es ganz in Ordnung, dass die grosse Masse für und durch sie leidet. Solange ihr Dasein gesichert ist, mag die Gesellschaft ruhig und zufrieden sein.

Das ist der Typus des vollkommenen Egoisten in des Wortes verwegenster Bedeutung, aber gestehen wir es offen, es ist der Typus eines traurigen Menschen. Sogar der eingefleischteste Bourgeois steht nicht ganz auf dieser Stufe; auch in seinem Herzen existiert eine gewisse Liebe für die Seinen, auch in ihm lebt manchmal eine gewisse Sympatie für Andere.

Wir glauben nicht, dass sogar die übertriebensten Anhänger des Individualismus diesen Typus jemals als das Ideal der zukünftigen Menschheit betrachtet haben. Ebenso wenig haben die kommunistischen Anarchisten jemals die Verleugnung der Individualität gepredigt. Wer kein Verständnis für das innere Wesen der Gesellschaft besitzt, der muss auch notwendigerweise das Wesen des Individuums verkennen und falsch beurteilen. Dieses dürfen wir niemals vergessen, Wenn wir anders unsere Theorien nicht zum Absurden treiben wollen.

Aus: Jean Grave, „Die sterbende Gesellschaft und die Anarchie".

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 41, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email