Arthur Müller Lehning - Sozialdemokratie und Krieg

I

Die bürgerliche und sozialistische Welt feiert ihr Jubiläum des Ausbruchs des "Ersten" Weltkriegs, Nach zehn Jahren ist die Frage berechtigt: Wo stehen wir? Auch vor 1914 organisierte man Friedens-Kongresse sowohl im Haag als in Basel. Auch vor 1914 erklärten viele - vom Zar bis Kautsky - den Frieden zu wollen. Trotzdem brach der Krieg aus. Dieser Ausbruch - erklärte Kautsky - "bedeutet nicht einen Bankrott, sondern eine Bestätigung unserer theoretischen Anschauungen. Wir haben nichts zu bereuen, nichts zu revidieren. Wir fühlen uns in den Anschauungen entschieden bekräftigt, die wir bis zum Kriege vertraten." (1) Die Anschauungen, die bestätigt wurden, und für die man heute auch noch eintritt, können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Ursachen des Krieges liegen im kapitalistischen gesellschaftlichen System;
  2. Der Krieg widerspricht allen Interessen des Proletariats;
  3. Der zunehmende Einfluss auf die Regierung - der kapitalistischen Staaten - ist das hauptsächlichste Mittel, die Kriegsgefahr zu bekämpfen.


Verschiedenes wurde auch nicht bestätigt, so z.B. dass das "organisierte sozialistische Proletariat aller Länder der einzig zuverlässige Bürge für den Frieden der Welt" sein würde, (2) Ferner bewies die letzte Zeit, dass auch sogenannte sozialistische Regierungen - die ja auch nur kapitalistische, resp. staatskapitalistische Interessen vertreten - nicht im mindesten die Kriegsgefahr verringern. Da das kapitalistische System noch nicht beseitigt ist, muss man nach diesen marxistischen Anschauungen - mit Recht - mit weiteren Weltkriegen rechnen. Diese Anschauung wird übrigens durch die Tatsachen der internationalen Politik täglich bestätigt. Man weiss, wie seit Versailles sowohl die Konflikte, wie die Bewaffnungen, die unabwendbar zu einem neuen Kriege führen, unaufhaltsam zunehmen. Man weiss, mit welchen irrsinnigen, chemischen und technischen, barbarischen Vernichtungsmitteln die ganze Menschheit bedroht wird. Dies wird alles von bürgerlicher Seite bestätigt. Ich führe es hier nicht weiter aus.

Es ist nicht zu verwundern, dass man erklärt, was wir erlebt haben - und was wir bald erleben werden, wird sich in technischer Hinsicht zu dem Weltkrieg verhalten wie dieser zu 1870 -, darf sich niemals wiederholen. Aber auch vor dem Kriege erklärte man, dass das, was geschehen ist, niemals hätte geschehen dürfen.

Die "internationale revolutionäre Sozialdemokratie", die Sozialdemokratie aller Länder hat nichts gelernt, hat nichts zu bereuen und nichts zu revidieren. Das ist richtig. Zeigte es sich, dass die Friedensresolutionen vor dem Kriege Phrase waren, so sind die heutigen Erklärungen, dass das, was geschehen ist, sich nicht wiederholen darf, ohne weiteres Betrug. Bei jedem Protest gegen Krieg und Militarismus, bei jeder Friedensresolution stelle man die Frage: Was werdet ihr tun, wenn morgen der Krieg ausbricht? Der Beantwortung dieser Frage ist man - bis 1914! - ausgewichen. Man weicht ihr aufs neue aus!

Eigentlich hat Kautsky die Antwort auch schon gegeben: Man hat nichts zu revidieren. Der internationale Sozialismus war nicht bankrott; versagte nicht; es war - in der Tat - eine Bestätigung. Eine Bestätigung der ganzen sozialdemokratischen Taktik. Es war, wenn man will, eine Demaskierung. Es war eine Bestätigung von allem, was seit Jahrzehnten von anarchistischer Seite prophezeit wurde.

So wie der Krieg das Wesen des Kapitalismus vollkommen offenbarte, alles, was im Frieden schon latent vorhanden war, scharf beleuchtete und auf grausame Weise zur Entfaltung brachte (und wie der Friede wieder eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war), so kam auch der wahre Charakter von dem, was Sozialismus hiess, durch den Krieg und nach dem Kriege ans Licht. Auch der Sozialismus musste Farbe bekennen, es halfen hier kein Programm und keine Resolutionen. Und er zeigte sein wahres Gesicht. Der sogenannte "Verrat" folgte von selbst aus seinem ganzen Charakter, aus seiner Ideologie, aus seiner Taktik. Es war eine unumgängliche Konsequenz.

Wir werden im folgenden kurz der Frage des Militarismus in der Arbeiterbewegung des letzten halben Jahrhunderts nachgehen und feststellen, dass diese Frage zusammenhängt mit und bestimmt wird durch die Kampfmethoden der ökonomischen Emanzipation des Proletariats überhaupt. Es war die ganze Ideologie und Taktik dieser sozialdemokratischen, marxistischen Kampfmethoden, deren Bankrott beim Ausbruch des Krieges bestätigt wurde und seitdem in steigendem Masse bestätigt wird.

Die 1864 gegründete Erste Internationale war der erste grosse Versuch, die Arbeiter aller Länder unter der Fahne des Klassenkampfes zu vereinigen und die Arbeit von der Sklaverei zu befreien. Ihre Losung war, dass "die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein muss". Zu ihrer wichtigsten Waffe erklärte sie die "ökonomische Solidarität". Unter der "Emanzipation der Arbeiterklasse", die sie erstrebte, verstand sie die ökonomische Gleichheit, ohne die jede politische Freiheit nur trügerischer Schein ist, und sie erklärte, dass diese Befreiung kein nationales, sondern ein internationales Problem sei. Sie rief deshalb die Arbeiter auf zum internationalen Kampf und zur internationalen Solidarität. Und in Uebereinstimmung mit Marx' Worten aus seinem "Kommunistischen Manifest" von 1848, sollten die Arbeiter von diesem Augenblick an kein anderes Vaterland mehr haben als die grosse Föderation der Arbeiter der ganzen Welt. - Es ist ohne weiteres klar, dass hieraus ein Antikriegsstandpunkt hervorgeht, der sich sehr unterscheidet von der Haltung der heutigen vaterlandsliebenden Sozialisten. In der Internationale wurde die Kriegsfrage ausführlich besprochen, um so mehr, als durch das Luxemburger Problem diese Frage wieder brennend wurde.

Verschiedene Sektionen der Internationale protestierten gegen den drohenden Krieg. So rief z.B. die Sektion Locle - 28. April 1867 auf, "zu protestieren gegen einen Kampf, der nicht anders als katastrophal sein kann für die Arbeit und für die Freiheit. Heute ist jeder Krieg zwischen europäischen Völkern nicht mehr ein nationaler Krieg, sondern ein Bürgerkrieg". Wir werden sehen, wie Marx seine von ihm selbst formulierten Grundsätze bald verleugnete. So schreibt er höhnend an Engels am 7. Juni 1866:

"Die Proudhonclique unter den Studenten in Paris predigt den Frieden, erklärt den Krieg für veraltet, Nationalitäten für Unsinn, attackiert Bismarck und Garibaldi" und am 20. Juni: "Uebrigens rückten die Repräsentanten der "jeune France" damit heraus, dass alle Nationalitäten und Nationen selbst veraltete Vorurteile sind. Proudhonnisierter Stirnerianismus; alles Auflösen in kleine Gruppen oder Kommunen, die wieder einen "Verein" bilden, aber keinen Staat. (3)

1867 fand der zweite Kongress der Internationale in Lausanne statt. Man fasste eine Resolution, in der es hiess, dass nur eine neue soziale Ordnung, die in der Gesellschaft nicht mehr zwei Klassen kennt, von denen die eine durch die andere ausgebeutet wird, den Frieden sichern kann. Indem man den Frieden als erste Bedingung stellt und die Aufhebung der Ausbeutung als eine Folge davon ansieht, zäumt man das Pferd am Schwanz auf, bemerkte de Paepe. Man fasste eine Resolution, die aufs neue feststellte, "dass, um zur Aufhebung des Krieges zu kommen, es nicht genügt, die Heere nach Hause zu schicken, sondern dass man ausserdem die soziale Organisation ändern muss..." (4). Diese Resolution wurde von einer Delegation, u. a. von Guillaume, dem Friedenskongress vorgelegt, der kurz darauf in Genf tagte. Dieser Kongress war von den damaligen republikanischen radikal-demokratischen Elementen in Europa einberufen worden. Auch waren 26 Delegierte des Lausanner Kongresses anwesend, die den Kongress in revolutionär antimilitaristischer Richtung zu beeinflussen hofften. Dupont, der Delegierte der Internationale von London, setzte den Kriegsstandpunkt der Internationale auseinander und kehrte sich scharf gegen allen bürgerlichen Pazifismus:

"Glaubt man denn, dass, wenn die stehenden Heere aufgelöst und durch Volksheere ersetzt sein werden, wir den dauernden Frieden haben werden? Nein! Um den Frieden zu sichern, muss man alle Gesetze abschaffen, die die Arbeit unterdrücken und aus allen Bürgern eine einzige Klasse von Arbeitern machen. In einem Wort: Man muss die soziale Revolution akzeptieren in all ihren Konsequenzen." (5)

Erfuhr diese Auffassung einen starken Widerstand der bürgerlichen Elemente dieses Kongresses, der Rede Bakunins, die das Uebel an der Wurzel angriff, erging es nicht besser. Seine Rede, in der er den Staat als Kriegsursache bekämpfte, war wohl das Konsequenteste und gehört zu dem Besten, was in dieser Zeit gegen den Krieg geschrieben oder gesprochen worden ist. Bakunin war von Neapel nach Genf gekommen, wo er eine günstige Gelegenheit zur Propaganda für seine Ideen zu finden hoffte. Seit einigen Jahren hatte er revolutionäre Elemente um sich versammelt, bekannt unter dem Namen der "Fraternité internationale". Dieser Bund beruhte hauptsächlich auf den persönlichen Verbindungen seiner Mitglieder. Sein Programm war atheistisch, sozialistisch und föderalistisch (gegen den Staat gerichtet). In der "Liga für Friede und Freiheit" hoffte er mit diesem Programm durchzudringen, aber beim folgenden Kongress 1868 in Bern sah er ein, dass von den bürgerlichen Pazifisten nichts zu erwarten war. Die Geschichte der Liga war in gewissem Sinne die Geschichte des Kampfes zwischen der Mehrheit der liberalen und radikalen Bourgeoisie und der Minderheit der revolutionären Sozialisten. Bakunin und seine Freunde trennten sich von der Liga, und Bakunin rief seine Freunde auf, Mitglied der Internationale zu werden. Man gründete die "Internationale Alliance der sozialen Demokratie" (womit Bakunin, der sich schon eher der Internationale angeschlossen hatte, nicht einverstanden war), die sich der Internationale anschloss und deren Statuten annahm.

Bakunins Rede in Genf enthielt im Keim alle Ideen, die er seit 1868 in der Internationale propagierte.

"Wer die Freiheit lieb hat - führte er aus - und diese wünscht, muss begreifen, dass sie nur durch eine freie Föderation von Provinzen und Völkern, d.h. durch die Vernichtung des Reiches, verwirklicht werden kann. Sonst ist die Freiheit der Provinzen und Gemeinden ein leeres Wort. Es gibt keine Freiheit und keinen Frieden, solange der Staat nicht vernichtet ist. Jeder zentralisierte Staat, sogar mit einer liberalen oder republikanischen Staatsform, ist ein Unterdrücker, ein Ausbeuter der arbeitenden Volksmassen zugunsten der privilegierten Klasse. Er braucht ein Heer, um diese Massen zu beherrschen. Es kann deshalb kein Friede sein, solange nicht jede Nation, gross oder klein, jede Provinz, Gemeinde das absolute Recht hat, sich frei und autonom zu regieren. Solange die heutigen Staaten existieren, ist der allgemeine Friede unmöglich. Wir müssen also ihre Auflösung wünschen, damit auf der Ruine dieser forzierten Einheiten, die von oben her durch Despotismus und Eroberung organisiert sind, freie Einheiten, von unten auf organisiert, sich als freie Föderationen von Gemeinde zu Provinz, von Provinz zu Nation und von Nation zu den Vereinigten Staaten von Europa entwickeln können." (6)

Borkheim, der Freund von Marx - und auf dessen Veranlassung erklärte dagegen, um den Frieden in Europa zu sichern, müsste man den Krieg an Russland erklären! Wir werden sehen, wie dieses russische Phantom durch Marx und die deutsche Sozialdemokratie in dem folgenden halben Jahrhundert - bis zur ersten Augustwoche 1914 - stets wieder als Vorwand benutzt wurde, um ihre militaristische und imperialistische Politik zu verteidigen.

"Muss man nicht lachen - bemerkte Domela Nieuwenhuis 1893 in Zürich bei der Verteidigung der holländischen Resolution -, wenn man Russland den Hort der Grausamkeit und Barbarei nennt. Als wenn Deutschland ein Hort der Bildung und Sanftmut wäre! Frankreich könne ebenso gegen Deutschland diesen Vorwurf erheben, denn Frankreich sei eine Republik. Wo soll aber das Ende sein, wenn die Sozialisten gegen andere Nationen solche Vorwürfe erheben?"

Auf dem dritten Kongress der Ersten Internationale 1868 in Brüssel hatte man hinsichtlich der Kriegsfrage seine Haltung genau bestimmt. Es fand eine ausführliche Diskussion statt, an der sich besonders Cäsar de Paepe beteiligte.

"Man erwartet von uns - so führte er aus -, die den Krieg als ein selbstverständliches Uebel betrachten, dass wir ausser unseren ewigen Protesten etwas tun werden, ihn zu beseitigen. Dazu gibt es zwei Wege: Erstens ihn direkt anzugreifen: durch die Militärdienstverweigerung, oder, was dasselbe ist, die allgemeine Arbeitseinstellung, da die Armeen Proviant brauchen. Der zweite Weg ist kein direkter, denn er führt durch die Lösung der sozialen Frage zum Verschwinden des Krieges selbst: das ist der Weg, dem die Internationale durch ihre Entwicklung vorbestimmt ist, zum Siege zu verhelfen. Bei dem ersten muss man immer aufs neue anfangen. Nur der zweite greift das Uebel an der Wurzel an. Man hat die Ursache des Krieges einzelnen zuschreiben wollen. Das ist ein Irrtum: die Könige, Kaiser sind nur Nebensache, Werkzeuge. Die einzig wahre Ursache des Krieges ist in unseren sozialen Einrichtungen gelegen." (7)

In diesem Geist wurde mit Stimmenmehrheit eine Resolution angenommen:

Die wichtigsten permanenten Ursachen des Krieges sind ökonomische Faktoren, aber nicht weniger ist eine Nebenursache die Willkür, "die eine Folge der Zentralisation und des Despotismus ist". Schon jetzt können die Völker die Zahl der Kriege verringern dadurch, dass sie sich gegen diejenigen kehren, die sie machen oder sie erklären. Den arbeitenden Klassen steht ein wirksames und realisierbares Mittel zur Verfügung, dieses zu verwirklichen. Da die Gesellschaft in der Tat nicht leben könnte, wenn die Produktion eine zeitlang aussetzt, brauchen die Produzenten deshalb nur die Arbeit einzustellen, um das Unternehmen der despotischen Regierung unmöglich zu machen. Sie endete wie folgt:

"Der Kongress der Internationalen Arbeiter-Association in Brüssel protestiert aufs energischste gegen den Krieg.

Er lädt alle Sektionen der Association in den verschiedenen Ländern sowie alle Arbeitervereine und Arbeiterorganisationen ohne Unterschied ein, mit der grössten Aktivität dahin zu wirken, einen Krieg von Volk zu Volk zu verhindern, der heute, weil unter Produzenten - also Brüdern und Bürgern - geführt, nicht anders als ein Bürgerkrieg anzusehen wäre.

Der Kongress empfiehlt den Arbeitern besonders die Niederlegung der Arbeit für den Fall des Ausbruches des Krieges in ihrem Lande." (8)

Marx, der auf den Kongressen niemals selbst anwesend war, schrieb sofort danach an Engels über den "belgischen Unsinn", gegen den Krieg zu streiken. Die deutsche Sozialdemokratie und die von ihr beherrschte Zweite Internationale würde auch in dieser Hinsicht ihrem grossen Meister folgen und nach einem Wort von Auer den Generalstreik - überhaupt - für Generalblödsinn erklären. Als zwei Jahre später - 1870 - der seit langem drohende Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ausbrach, erklärte Marx im Namen des Generalrats der Internationale:

"Von deutscher Seite ist der Krieg ein Verteidigungskrieg." Er rechtfertigte damit den Krieg von deutscher Seite, im Widerspruch mit seinen Worten aus dem Kommunistischen Manifest, dass man den Arbeitern nicht nehmen kann, was sie nicht besitzen, und in vollkommenem Widerspruch mit den Entschlüssen von Brüssel, dass jeder Krieg zu verwerfen sei, da dieser nichts anderes als ein Bruderkrieg sein könne.

Mit der Prägung des Wortes "Verteidigungskrieg" wurde jeder konsequenten Kriegsbekämpfung der Boden entzogen. Seitdem wurde und wird denn auch von marxistischer Seite jeder konsequente antimilitaristische Kampf sabotiert und jede imperialistische Politik verteidigt! Diese Erklärung von Marx ist begreiflich, wenn man weiss, dass er den Sieg von Preussen-Deutschland wünschte. Ein Sieg von Bismarck war ihm ein Sieg seines preussischen Staatssozialismus. Die Gründung des deutschen Staates - wenn auch eines imperialistischen - würde der erste Schritt auf dem Wege zum Volksstaat sein. "Bismarck tut jetzt ein Stück von unserer Arbeit", so schrieb Marx an Engels am 15. August - und am 20. Juli:

"Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preussen, so ist die Zentralisation der Staatsgewalt der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse nützlich. Das deutsche Uebergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen ... Ihr Uebergewicht (der deutschen Arbeiterklasse) auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Uebergewicht unserer Theorie über die Proudhons usw." (9)

Die Loblieder über die Verbrüderung der Arbeiter, die Marx in seiner Adresse des Generalrats vom 23. Juli 1870 anstimmte, hatten also nur einen mehr oder weniger platonischen Charakter:

"Während das offizielle Frankreich und das offizielle Deutschland sich in einen brudermörderischen Kampf stürzen, senden die Arbeiter einander Botschaften des Friedens und der Freundschaft. Diese einzige grosse Tatsache, ohnegleichen in der Geschichte der Vergangenheit, eröffnet die Aussicht auf eine hellere Zukunft."

Aber all diese Proklamationen haben natürlich nur wenig Sinn, wenn schliesslich doch das offizielle "Vaterland" verteidigt werden muss ...

Ein Sozialist schrieb im "Volksstaat" (10):

"Was würde geschehen, wenn alle Arbeiter von Frankreich und Deutschland an einem bestimmten Tag und nach einer gemeinsamen Verabredung die Arbeit einstellten und in dieser Weise dem Krieg den internationalen Streik entgegenstellten? Ich bin überzeugt, dass in diesem Fall der Krieg innerhalb einiger Tagen beendet sein würde, ohne dass sogar ein Tropfen Blut vergossen wäre. Denn ebensosehr wie der Krieg gute Arbeit unmöglich macht, würde das Einstellen der Arbeit den Krieg unmöglich machen."

Diese Auffassung entsprach der Resolution von 1868 und war gewiss ein wirksameres Mittel, den Krieg zu verhindern, als gegenseitige Brüderschaftsbeteuerungen. Wäre dieser Vorschlag in die Praxis umgesetzt, er würde jedenfalls mehr Aussichten auf eine "hellere Zukunft" eröffnet haben!

Die Pariser Sektion der Internationale blieb gleichfalls den Beschlüssen von Brüssel treu. In ihrem Aufruf vom 12. Juli 1870 protestierte sie scharf gegen den Krieg: gegen die "systematische Vernichtung der menschlichen Rasse", gegen einen Kampf, der nur "wilde Instinkte und nationalen Hass weckt und nur ein Deckmantel der Regierungen zur Unterdrückung der öffentlichen Freiheit ist." "Hört nicht auf die unsinnigen Provokationen, denn ein Krieg zwischen uns würde ein Bruderkrieg sein. Unsere Spaltung würde nur auf beiden Seiten des Rheins dem Despotismus zum Siege verhelfen."

Als im Anfang 1870 eine neue Aushebung in Frankreich stattfand, waren es die Frauen von Lyon, unter denen Virginie Barbet, die ein Manifest - das wohl als eines der ersten Kriegsverweigerungsmanifeste gelten darf - verbreiteten, in dem sie zur direkten Militärdienstverweigerung aufriefen:

"Man muss durch eine revolutionäre Tat, durch die Tat der Dienstverweigerung, protestieren, und nicht durch nutzlose Proteste. Wir nennen uns zivilisiert, emanzipiert - wir sind noch elende Sklaven, und was das Schlimmste ist, wir sind es nicht nur materiell, sondern auch moralisch, da wir ohne zu revoltieren den Zustand, den man uns aufdrängt, über uns ergehen lassen ... Es bietet sich eine Gelegenheit, ein Beispiel von menschlicher Würde zu geben - lasst diese nicht vorübergehen. Ihr werdet der Revolution damit dienen." (11)

Man kann im allgemeinen wohl sagen, dass eine konsequente antimilitaristische - und das heisst stets antinationalistische - Taktik zu den wesentlichen Kampfmitteln der Ersten Internationale gehörte. Aus der Erklärung, dass die Befreiung der Arbeiterklasse kein nationales, sondern ein internationales Problem sei, folgt dies eigentlich von selbst. Und man kann sagen, dass sie überall dort diesen Charakter behielt, wo sie den revolutionären Klassenkampf nicht mit einem Kampf um Wahlstimmen verwechselte. Es war Marx' Staatsauffassung, die ihn mit dem von ihm selbst vorgezeichneten Weg in Widerspruch brachte und diesen Weg verlassen liess. Und eng war damit verbunden die mehr und mehr in den Vordergrund tretende parlamentarische Politik, mit der eine konsequent antinationale und antimilitaristische Politik nicht zu vereinigen war. Nur die seit 1872 nach der Abtrennung der marxistischen Elemente weiter bestehende antiautoritäre (bakuninistische) Internationale konnte diesen Weg weiter verfolgen, weil sie prinzipiell jede parlamentarische Politik verwarf, weil sie keinen zentralisierten Staat erobern wollte, um den Sozialismus - demokratisch oder diktatorisch - einzuführen, sondern es als die erste Aufgabe der Arbeiter ansah, den Staat zu vernichten, und kein anderes Heil als von den ökonomischen Organisationen der Arbeiter selbst erwartete - wenn sie auch eine ökonomische Zentralisation als notwendig anerkannte.

Die Taktik der nationalen sozialdemokratischen Parteien, in denen sich in gewissem Sinne die marxistische Hälfte der Ersten Internationale aufgelöst hatte, führte schliesslich dorthin, wo sie nicht anders hinführen konnte: zum 1. August 1914. Die Sozialdemokratische Partei - und nicht weniger die vom sozialdemokratischen Geiste durchdrungenen Gewerkschaften - hatten sich schliesslich so in das ganze System des kapitalistischen Staates eingebaut, waren selbst ein so integrierender Teil dieses Staates geworden, dass ihre ganze "sozialistische" Taktik, die ja auch nur darauf ausging, ihren Einfluss in diesem Staat zu vergrössern, es zu einer absoluten Unmöglichkeit machte, dass sie eines guten Tages plötzlich diesen Staat selbst im Stiche lassen könnten. Es war - es kann nicht oft genug wiederholt werden - eine unumgängliche Konsequenz.

Wer die Taktik dieser internationalen Friedensresolutionen, aber nationalen Kriegspolitik zu bekämpfen meint, ohne sich gegen die ganze nationale, staatssozialistische Taktik zu kehren, zäumt aufs neue das Pferd am Schwanze auf.

III

Marx' Prophezeihung bestätigte sich. Der Sieg Preussens war ein Sieg des "deutschen Sozialismus". Der Geist der Internationale wurde bald der Geist der deutschen Sozialdemokratie, die sozusagen den wahren Marxismus gepachtet hatte. In der 1889 gegründeten Zweiten Internationale siegte 1896 in London endgültig der deutsche Standpunkt. Seitdem war die "Internationale" nur noch eine Vereinigung von parlamentarisch-sozialistischen Parteien. Und verliess damit den Weg der Ersten Internationale.

War in Deutschland von dem antiparlamentarischen, anarchistischen Sozialismus wenig oder nichts zu verspüren, er lebte dagegen in anderen, besonders romanischen Ländern um so stärker. Der deutsche Sozialismus wurde zum einzigen, offiziellen Sozialismus proklamiert. Die deutsche Partei wurde ein Beispiel für alle anderen Länder. In keinem anderen Lande war man imstande, solch ein diszipliniertes Arbeiterheer zu organisieren. Schon durch ihre Wahlerfolge marschierte die deutsche Sozialdemokratie an der Spitze der Internationale. Die marxistische Literatur war deutsch, Marx und Engels eng mit der Entwicklung der Partei verbunden. Die späteren Theoretiker des Marxismus waren gleichfalls Deutsche. Es war nicht zufällig, dass der wahre Kern des Marxismus in Deutschland zu seiner vollen Geltung kam: marxistischer Sozialismus war Staatssozialismus. Es war ein preussischer Sozialismus. Seiner Art nach war dieser Sozialismus autoritär und zentralistisch, antirevolutionär, militaristisch.

Oswald Spengler, der den Untergang von Preussen für den Untergang der Welt hält und mehr Morphologe als Soziologe ist, hat diesen Sozialismus objektiv scharf charakterisiert. Man kann aus dieser interessanten Broschüre (12) von Spengler, der zwar etwas vom "preussischen Geist", aber nichts von Sozialismus begreift, lernen, welch eine verhängnisvolle Entwicklung der moderne Sozialismus in Deutschland genommen hat. Spengler, der diesen deutschen Sozialismus sah und eine preussisch-zentralisierte Massenorganisation mit einem militaristischen Beamtenapparat für das Wesentliche des Sozialismus überhaupt hielt, erklärte das Preussentum ohne weiteres zum einzigen, zum Sozialismus par excellence und Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx zum ersten bewussten Sozialisten! "Die preussische Armee, das preussische Beamtentum, die Arbeiterschaft Bebels" - das sind Produkte des preussischen Gedankens. "Sozialismus ist, rein technisch gesprochen, das Beamtenprinzip". (13) Das ist Spengler als Sozialist! Nicht weniger scharf wird von Spengler das Wesen des Staates ergriffen: "Staatengeschichte ist die Geschichte von Kriegen, Wirtschaftskämpfe werden zu Kämpfen zwischen Staaten . . . Krieg ist die ewige Form höheren menschlichen Daseins, und Staaten sind um des Krieges willen da. Sie sind Ausdruck der Bereitschaft zum Kriege." (13)

Es braucht wenig hinzugefügt zu werden. Treffend werden hier von einem Nationalisten die Theorien aller konsequenten Antimilitaristen, die zwar den Krieg nicht als die höchste, sondern als die niedrigste, die meist barbarische Form menschlichen Daseins ansehen, bestätigt: Es ist diese permanente "Bereitschaft" zum Kriege, diese "permanente Unterdrückung nach innen und dieser permanente Krieg nach aussen" (Bakunin) - der Staat, der bekämpft werden muss, wenn man den Krieg bekämpfen will.

Aber dieser Kampf war von der Partei, die sich als deutsche Sozialdemokratie entwickelte, nicht zu erwarten. Man bewegte sich ausserdem in einem Kreise: man erklärte, dass "der Frieden die erste und unerlässliche Bedingung jeder Arbeiter-Emanzipation sei" und zu gleicher Zeit: "dass der Krieg, das traurige Produkt der gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse, erst verschwinden wird, wenn die kapitalistische Produktionsweise der Emanzipation der Arbeit und dem internationalen Triumph des Sozialismus Platz gemacht hat". Aber zur ersten und unerlässlichen Bedingung dieser Emanzipation erklärte man den Frieden . . .

Bereits 1867 hatte de Paepe, wie wir sahen, das Verhängnisvolle dieses Gedankenganges eingesehen, und 1868 erkannte man in Brüssel den einzigen Weg, diesen Kreis zu durchbrechen.

So musste Domela Nieuwenhuis 1891 aufs neue die Frage aufwerfen: Und wenn doch der Krieg ausbricht? Die deutsche Resolution, von Liebknecht verteidigt, erklärte, dass der Militarismus nur durch den Sozialismus beseitigt werden könne, und dass die Verantwortung einer Kriegskatastrophe einzig und allein den herrschenden Klassen zufällt. Domela Nieuwenhuis dagegen verteidigte die holländische Resolution, die mit den folgenden Worten schloss:

"In Erwägung, dass keine einzige Regierung sich entschuldigen kann, dass sie provoziert ist, weil der Krieg das Resultat des internationalen Willens des Kapitalismus ist, beschliesst der Internationale Sozialistische Kongress von Brüssel, dass die Sozialisten aller Länder eine etwaige Kriegserklärung beantworten werden mit einem Aufruf des Volkes zur allgemeinen Arbeitseinstellung."

Wenn man in der deutschen Resolution, führte Domela Nieuwenhuis aus, die Worte Sozialdemokrat und Sozialdemokratie mit Christ und Christentum vertausche, so werden und können die Heilsarmee wie der Papst, kurz alle Parteien dafür stimmen ... Der Chauvinismus ist eine Gefahr für unsere ganze sozialistische Bewegung. Der Chauvinismus führt zu Unterscheidungen zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen. Ich verwerfe diese Unterscheidung. Es ist bekannt, dass die Diplomaten die Kunst verstehen, jeden Krieg als offensiven oder defensiven hinzustellen, wie sie es brauchen. Was unsere Haltung beim Kriegsausbruch anbetrifft, so gibt es nur einen Weg: passiven Widerstand. Der Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie wird unsererseits dem Kriege der Nationen vorgezogen. Wenn die Regierungen den Krieg erklären, so ist das eine Revolution. Und darauf haben wir das Recht, unsererseits mit einer Revolution zu antworten, mit der Aufforderung an das Volk, die Waffen nicht zu ergreifen. Das Volk will den Krieg nicht... (14)

Liebknecht protestierte: "Der ganze Weltstreik ist nichts als eine jämmerliche Phrase! Wollten wir den Weltstreik proklamieren, würde die Bourgeoisie uns auslachen! Der Fluch der Sozialdemokratie wäre die Herrschaft der Phrase! Befreien Sie sich von der Phrase! Die revolutionärste Betätigung des Proletariats ist: dem Proletariat durch Organisation die Macht zu verschaffen" . . .

Domela Nieuwenhuis wusste damals noch nicht, wie er in seiner Autobiographie "Van christen tot anarchist" mitteilt, dass sein Vorschlag in Uebereinstimmung war mit den Auffassungen der Internationale 1868 in Brüssel. Zwei Jahre später, auf dem folgenden Kongress in Zürich 1893, berief er sich mit Recht auf die Resolution des Brüsseler Kongresses. Aufs neue brachte er einen Antrag ein, der in seinem entscheidenden Passus lautete:

"dass die sozialistischen Arbeiter der in Betracht kommenden Länder eine Kriegserklärung seitens der Regierungen mit der

Dienstverweigerung der Militärpflichtigen, der Reserve (Militärstreik), durch einen allgemeinen Streik, besonders in all den Industriezweigen, welche auf den Krieg Bezug haben, und durch einen Appell an die Frauen, ihre Männer und Söhne zurückzuhalten, beantworten sollen."

"Das Merkwürdigste ist, dass die Idee, die ich 1891 verteidigte, schon im Jahre 1868 auf dem Kongress der Internationale in Brüssel nicht nur besprochen, sondern sogar einstimmig angenommen worden ist. Man hat mich einen Träumer, einen Schwärmer, einen Utopisten genannt - aber ich teile diesen Namen mit Longuet, der 1868 in Brüssel diesen Antrag stellte, mit Cäsar de Paepe, ja mit dem ganzen Kongress . . . Ist es nun ein Fortschritt oder ein Rückschritt, dass man 1891 gegen 1868 zurückwich? . . . Die Folge der Verweigerung ist allerdings der Bürgerkrieg, aber der Bürgerkrieg ist dem Kriege der Nationen vorzuziehen; der Bürgerkrieg wird wenigstens gegen den wahrhaften Feind, den Kapitalismus, geführt. Wir haben hier gleichzeitig einen Kongress der Eisenbahnangestellten. Diese haben es in der Hand, durch einfache Arbeitseinstellung jeden Krieg unmöglich zu machen." (15)

Aufs neue wurde sein Vorschlag, wie man weiss, verworfen. Der Vertreter von Australien Sceusa erklärte: "Ich kann es nicht verstehen, wie sich Brüder noch dazu kommandieren lassen können, sich gegenseitig zu zerfleischen. Würde ich zu einem solchen Morde kommandiert werden, so würde ich der erste sein, der seinen Kommandanten niederschösse." Für die holländische Resolution stimmten ausser Australien nur Norwegen und Frankreich. Die übergrosse Mehrheit war für den deutschen Vorschlag. Man meinte, ein Militärstreik würde gerade in erster Linie die Kulturvölker (!) entwaffnen und West-Europa den russischen Kosaken preisgeben. Das einzige Mittel, zum Ziele zu gelangen, ist, dahin zu arbeiten, dass die Massen von den sozialistischen Ideen durchdrungen werden, "dass die Leute schon als Sozialisten in die Kasernen kommen". Indem stets mehr sozialistische Rekruten einverleibt werden, ist der Militarismus auf dem Wege seiner Selbstvernichtung, bis er schliesslich keine Schutzwehr für den Kapitalismus mehr bildet. Eine Auffassung, die der von Engels entsprach.

In seinem Anti-Dühring schrieb er: "Die Armee ist Hauptzweck des Staats, ist Selbstzweck geworden, die Völker sind nur noch dazu da, die Soldaten zu liefern und zu ernähren. Der Militarismus beherrscht und verschlingt Europa. Aber dieser Militarismus trägt auch den Keim seines eigenen Untergangs in sich; indem er das ganze Volk mit dem Waffengebrauch vertraut macht, wird es befähigt, in einem gewissen Moment seinen Willen gegenüber der kommandierenden Militärherrlichkeit durchzusetzen... Die Maschine versagt den Dienst, der Militarismus geht unter an der Dialektik seiner eigenen Entwicklung". (Vgl. 3. Aufl. 1894, S. 177.)

Aber die Marx-Engelssche historisch-materialistische Dialektik war keine gesetzmässige; ebensowenig, wie der Kapitalismus an seiner eigenen Dialektik zugrunde ging, ebensowenig erfolgte die Sprengung des Militarismus von innen heraus.

Diese Auffassungen waren in Uebereinstimmung mit der ganzen Taktik der Sozialdemokratie, die ja auch keineswegs den Militarismus konsequent bekämpfen wollte. Man bekämpfte nur die Form des Militarismus, und wenn man den Heeresetat verwarf, so nur deshalb, weil man dieses bestimmte militärische System verwarf. Das Parteiprogramm forderte ja auch die allgemeine Wehrbarmachung des Volkes; statt stehender Heere wollte man Volksheere. Mit einem Wort, man wollte das Heer demokratisieren, die Auswüchse bekämpfen, wenn möglich, das System verbessern.

So forderte z.B. Bebel im Reichstag andere Uniformen, damit "im nächsten Krieg nicht Zehntausende unserer eigenen Genossen durch die Ungeschicklichkeit unserer Militärverwaltung zwecklos auf die Schlachtbank geführt werden". Das war der Kampf gegen den Militarismus.

Typisch für die Haltung der Sozialdemokratie war die Auseinandersetzung mit Schippel auf dem Kongress in Hamburg 1897. Sie wurde von Auer, Liebknecht und Bebel bestätigt. Bezüglich der Kritik über die Haltung der Parlamentsfraktion hinsichtlich der von der Regierung geforderten neuen Kanonen erklärte Schippel:

"Wir haben die Soldaten nicht bewilligt, aber sie sind nun einmal da. Für Milizanträge und Abschaffung aller stehenden Heere ist keine Mehrheit vorhanden und in absehbarer Zeit auch nicht zu schaffen. Das ist eine Tatsache, die uns sicher unangenehm ist, mit der wir aber rechnen müssen. Sollten wir nun, weil die bürgerlichen Parteien uns in dieser Beziehung nicht unseren Willen tun, die deutschen Arbeiter, gleichsam zur Strafe, vor die Gefahr stellen, dass sie mit ihrem Blut den Unverstand der Gegner einmal zu büssen haben? Das wäre widersinnig und gegen die Interessen der Arbeiter gehandelt."

Und Auer führte aus: "Wir sind prinzipielle Gegner des Krieges, wir können ihn aber nicht verhindern, wir müssen mit der Eventualität rechnen, dass es gegen unseren Willen zum Kriege kommt. Zum entscheidenden Punkt unseres Angriffs auf den Militarismus können wir diese Angelegenheit (Bewilligung der neuen Kanonen) nicht machen, das ist nicht der Punkt, wo die Agitation einsetzen kann."

Mit Recht bemerkte die Opposition, dass man mit diesen Auffassungen auch für eine fortwährende Vermehrung der Flotte eintreten und stets neue Kanonen für das Heer bewilligen müsse:

"Wo die Parole ist, diesem System keinen Mann und keinen Groschen, da kommt der Genosse Schippel und ist sogar für Kanonen zu haben. Der Krieg, ob er gegen Frankreich, ob er gegen Russland geführt wird, er richtet sich in letzter Linie gegen das arbeitende Volk, und dem müssen wir entgegentreten. Wer die Aktionsfähigkeit der Armee stärkt, stärkt den Kampf gegen das Proletariat, und das müssen wir ablehnen." (16)

Die Opposition war vergeblich. Die Auffassung von Schippel war die herrschende in der Partei, und das in Deutschland, wo der Militarismus wie kaum in einem anderen Lande zeigte, welch mächtige Waffe er in der Hand der herrschenden Klasse war; welche Bedrohung er in jeder Hinsicht für die Befreiung der Arbeiterklasse darstellte. Wo der Charlatan Kaiser Wilhelm diesen Charakter und diese Aufgabe des Militarismus brutal-offen anerkannt hatte: "Aber nicht nur ein äusserer, ein innerer Feind wird zu bekämpfen sein, und auch dagegen schützt uns mit Gottes Hilfe unser starkes Heer".

Kennzeichnend schrieb die nationalistische Presse nach diesem Hamburger Parteitag: "Es ist wirklich beruhigend, zu wissen, dass solche Männer die ausschlaggebenden Männer der Sozialdemokratie sind".

Und auf jedem Parteitag, bei dem der Militarismus auf der Tagesordnung war, erklärte man mit dem Motto "Keinen Mann und keinen Groschen", dass, wenn Deutschland "angegriffen" werden würde, man das Vaterland mit Begeisterung verteidigen und gegen die bürgerlichen Parteien nicht zurückstehen würde. Was man bekämpfen wollte, war der unnötige Drill und die Soldatenmisshandlungen, die Abschliessung der Offizierskaste usw. Scharf verwahrte man sich gegen den Vorwurf, dass die Sozialdemokratie die Disziplin im Heer untergraben würde, mit dem Hinweis darauf, dass man in der Partei ja auch Disziplin forderte! Und man stimmte sogar für Steuern, die man für Kriegszwecke verwendete, weil die Form dieser Steuer eine direkte war, die hauptsächlich auf der besitzenden Klasse lastete, mit der Motivierung, dass diese Steuer wegen ihrer Form im Interesse des Proletariats sei. Man war wohl sehr weit entfernt von der Auffassung, die Liebknecht Dezember 1875 vertrat, dass man dem kapitalistischen System prinzipiell jede Steuer verweigern müsste. Gerade wie heute sozialistische Führer und Gewerkschaftler den Bau von Kriegsschiffen beschliessen, und freudig zustimmen mit dem Argument, dass dieses im Interesse des Proletariats sei, weil dadurch die Arbeitslosigkeit bekämpft wird! Wie sehr wird die Meinung von Max Nettlau bestätigt, der schon 1897 auseinandersetzte, dass das Proletariat sich nicht von der Sklaverei der Arbeit befreien wird, solange die Arbeiter sich nicht verantwortlich fühlen für die Arbeit, die sie leisten. (17)

Man stimmte für diese verschleierten Kriegsausgaben, obgleich man auf den Parteitagen beschlossen hatte, dem zwar in dieser Form existierenden militaristischen System nichts zu bewilligen, obgleich es den Beschlüssen des Internationalen Sozialisten-Kongresses in Paris (1900) widersprach, wo man klar und unzweideutig festgelegt hatte: "dass die sozialistischen Vertreter in allen Parlamenten unbedingt gegen jede Ausgabe des Militarismus, Marinismus oder der Kolonialexpeditionen zu stimmen verpflichtet sind".

Es ist begreiflich, dass die Entwicklung dieses deutschen "Antimilitarismus" von vielen Sozialisten mit einigem Misstrauen beobachtet wurde. Aber die Auffassung der deutschen Partei wurde mehr und mehr richtunggebend für die ganze Internationale. Sie musste dies auch werden in dem Masse, wie sie überall den Weg der Ersten Internationale, die den Schwerpunkt auf den ökonomischen Kampf legte, verliess, um dagegen politischen Einfluss zu gewinnen in dem nationalen und militaristischen Staat. Man wollte ja auch nicht den Militarismus bekämpfen. - Wie man den Staat nicht mehr abschaffen, sondern reformieren wollte, so wollte man den Militarismus "demokratisieren".

Beschloss man 1900 noch, sich gegen jede koloniale Expedition zu widersetzen, so führte Bernstein 1907 in Stuttgart aus: "Eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber Nicht-Kulturvölkern ist eine Notwendigkeit, die auch Sozialisten anerkennen sollten. . . . Jedenfalls steht fest, dass es besser wäre, wenn der Kongo unter der Herrschaft eines Parlaments (!) stände, in das die Arbeiterklasse ihre Vertreter sendet, als wenn er von einer rein kapitalistischen Privatgesellschaft ausgebeutet wird!" Mit den Arbeitervertretern im Parlament fand man mehr und mehr die Ausbeutung im allgemeinen weniger schlimm als die Ausbeutung des Kapitalismus - von schwarzen und weissen Sklaven - ohne Parlament und ohne Vertreter der Arbeiterklasse, bis schliesslich, im Interesse des Kapitalismus, Sozialisten sogar Kriegsminister wurden, scheinbar mit demselben Motiv, dass es besser sei, einen Krieg mit Sozialisten in der Regierung zu führen, als dass dieser Krieg ein rein kapitalistisches Unternehmen sei.

Und was nach der sogenannten Revolution in Deutschland geschah, übertraf die höchsten Erwartungen. Es erreichte schliesslich seinen Höhepunkt, als die kapitalistische Regierung mit seinen sozialistischen Ministern eine reaktionäre Soldateska nach Sachsen schickte und mit klingendem Spiel und aufgepflanztem Bajonett die parlamentarisch-sozialistische Regierung aus den Ministerien holte, die Regierung für abgesetzt erklärte und den Landtag nach Hause schickte. Es würde zu weit führen in diesem Zusammenhang, den Weg zur Macht weiter zu verfolgen. Es war schliesslich grotesk!

1907 trat diese nationalistische Haltung eigentlich schon in Stuttgart klar zutage. Bebel sprach es öffentlich aus: Solange die Verhältnisse der einzelnen Staaten zueinander sich nicht von Grund aus geändert haben, können wir auch als Sozialdemokraten militärische Rüstungen nicht gänzlich entbehren.

Die Mehrheit der französischen Delegation beantragte: "Die Verhütung und Verhinderung des Krieges durch nationale und internationale sozialistische Aktionen der Arbeiterklasse mit allen Mitteln, von der parlamentarischen Intervention, der öffentlichen Agitation bis zum Massenstreik und zum Aufstand zu bewirken".

Sie wurde von Vaillant und Jaurès verteidigt. Bekannt ist das Wort von Vaillant: "Plutôt l'insurrection que la guerre". (Lieber die Revolte als den Krieg.) Gerade bei dieser Frage, welche Mittel man anwenden würde, den Ausbruch des Krieges zu verhindern, entstand von deutscher Seite die heftigste Opposition: "Wir müssen die Resolution mit aller Entschiedenheit bekämpfen und als völlig unannehmbar erklären!" Man könne sich nicht mit anarchistischen Träumereien beschäftigen. Nicht nur aus Klugheitserwägungen, sondern aus prinzipiellen Gründen. "Wir können uns nicht zu Kampfmethoden drängen lassen, die dem Parteileben und unter Umständen auch der Existenz der Partei verhängnisvoll werden können." Die deutsche Resolution wurde schliesslich mit Stimmenmehrheit angenommen. Der Schlusspassus lautete: (18)

"Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäss ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttlung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."

Weiter sah die Resolution in der demokratischen Organisation des Heerwesens, der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere, eine wesentliche Garantie dafür, Angriffskriege unmöglich zu machen. Die Engländer und Amerikaner aber wollten von der Forderung der allgemeinen Volksbewaffnung nichts wissen, wollten nicht, dass der Militarismus auch in ihrem Lande ausgebreitet würde. Sie waren der Meinung, dass die Resolution die militaristischen Neigungen keineswegs bekämpfe. Der Vertreter der Schweiz bemerkte, dass in seinem Lande bereits ein Milizheer bestand, das aber ebensosehr einen Klassencharakter trug.

Wenn Kautsky bemerkt, dass die Internationale das Schwergewicht auf die "Verhinderung" des Krieges legte, und behauptet: "Sie untersuchte kaum die Haltung, die sie einzunehmen hatte für den Fall, dass der Krieg trotzdem ausbrach" (19), so ist dieses eine bewusste Irreführung. Wir sahen, wie stets auf allen Kongressen darauf hingewiesen wurde, dass Friedensresolutionen keine genügende Bürgschaft dafür seien, dass der Krieg nicht ausbrechen würde. Ein Vorschlag, diesen Ausbruch des Krieges zu verhindern, erschien immer wieder auf der Tagesordnung. Und er wurde stets als anarchistische Schwärmerei charakterisiert und stets - am heftigsten von deutscher Seite - als unannehmbar bekämpft und schliesslich immer vom Kongress verworfen.

Auf dem dritten Kongress in Kopenhagen 1910 wurde die Haltung, die man "einzunehmen hatte für den Fall, dass der Krieg ausbrach, ausführlich diskutiert. Dies kann Kautsky, der selbst in Kopenhagen war, doch nicht unbekannt sein. Diesmal war es Keir Hardie von der Independent Labour Party, der nicht nur zu einem wirklich konsequenten antimilitaristischen Kampf aufrief, sondern es zu einer absoluten Notwendigkeit erklärte, dass man seine Haltung und die Mittel bestimmte, die, wenn die kapitalistischen Regierungen einen Krieg erklären würden, den Ausbruch dieses Krieges verhindern. Diese Haltung die Keir Hardie eingenommen sehen wollte, würde zugleich das Mittel sein, den Krieg überhaupt unmöglich zu machen.

"Wir sind", führte Keir Hardie aus, "nicht nur gegen den Krieg, sondern auch gegen den Militarismus. Militarismus und Freiheit stehen in unüberbrückbarem Gegensatz, und weil wir die Freiheit lieben, kämpfen wir gegen den Militarismus. Wir sind deshalb auch hocherfreut, dass unsere dänischen und norwegischen Genossen so glänzend den Kampf für die allgemeine Abrüstung aufgenommen haben und sich nicht begnügt haben, auf eine Verminderung der Kriegslasten hinzuwirken, sondern absolut die vollständige Entwaffnung des Landes gefordert haben. Die Geschichte der Menschheit wird ein neues Ruhmesblatt aufschlagen, wenn das erste Volk vollständig abrüstet, alle Waffen wegwirft. Wir müssen hier einen Schritt weitergehen wie in Stuttgart. Die Arbeiter sind stark genug, den Krieg zu verhindern. Entfalten wir die lebhafteste Agitation gegen den Krieg in den Gewerkschaften. Am Tage der Kriegserklärung müssen die Arbeiter aufhören zu arbeiten. Schon der Streik der Bergleute würde genügen, den Krieg zu verhindern. Wenn die parlamentarischen Vertreter des Proletariats nicht stark genug sind, den Krieg zu verhindern, müssen es die Arbeiter selbst tun, indem sie sich weigern, Waffen und Munition herzustellen und Kohlen für die Schiffe zu fördern (20).

Der Vorschlag (Keir Hardie-Vaillant) lautete: "unter allen Mitteln, welche angewandt werden sollen, um einem Kriege vorzubeugen und ihn zu verhindern, beschliesst der Kongress als besonders zweckmässig den allgemeinen Streik der Arbeiter, hauptsächlich in den Industrien, welche für den Krieg die Materialien liefern (Waffen, Munition, Transport usw.), eine aktive Agitation des Volkes und zwar mit den äussersten Mitteln."

Der Kongress dagegen erneuerte die Beschlüsse von Stuttgart. Man beschloss, den Vorschlag Keir Hardie-Vaillant dem Internationalen Sozialistischen Büro "zum Studium zu überweisen", da man der Meinung war, dass eigentlich nur die Frage des Schiedsgerichts und der Abrüstung zu prüfen sei. Ein Vorschlag, den Krieg mit der Tat zu bekämpfen, war noch stets unannehmbar. Das war der Grund, weshalb man die Haltung, die man bei Ausbruch des Krieges einzunehmen hatte, nicht näher "untersuchte", und jeden Vorschlag - wie wir sahen - von 1891 bis 1910, der eine Haltung, die in Uebereinstimmung war mit dem Geiste der Resolutionen und in Uebereinstimmung mit dem Lebensinteresse des Proletariats, verwarf.

Das Büro sollte dem nächsten Internationalen Sozialistenkongress über sein Studium Bericht erstatten. Da dieser nächste Kongress Basel 1912 - zwar gegen den Krieg, aber ausserdem als ein ausserordentlicher Kongress einberufen worden war, stand diese Frage scheinbar nicht auf der Tagesordnung. Dagegen fanden grosse Demonstrationen statt, und man verfasste ein Friedensmanifest. Die Beschlüsse von Stuttgart und Kopenhagen wurden nochmals bestätigt. Unter grosser Bewegung und langanhaltendem stürmischen Beifall erklärte Jaurès "Wir sind zu allen Opfern bereit". Und zum letztenmal appellierte Keir Hardie an das internationale Proletariat, nicht zu zögern, seine zweite grosse ökonomische Waffe zu gebrauchen: den internationalen revolutionären Gegenkriegsstreik.

Der Kongress, dem das I.S.B. über den Vorschlag von Keir Hardie Bericht erstatten sollte, fand nicht mehr statt. Einige Wochen, bevor man aufs neue über den Frieden sprechen sollte, brach der Krieg aus.

Es war die Apotheose der Eroberung der politischen Macht.

Es war der endgültige Sieg, der grosse Tag des preussischen Sozialismus.

IV

Man war zu allen Opfern bereit.

Am 4. August erklärte Hugo Haase im Namen der sozialdemokratischen Fraktion im Reichstag: "Jetzt machen wir wahr, was wir immer betont haben, wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich. . . . Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft (!) steht bei einem Sieg des russischen Despotismus viel, wenn nicht alles, auf dem Spiel."

Wenn dieses alles weder dem Geiste der internationalen Kongresse, noch den Worten der nationalen Parteiresolutionen entspricht (oder man müsste die Kriegskredite nicht als eine militaristische Ausgabe ansehen), so kann mit einem relativen Recht gesagt werden, dass die Sozialdemokratie ihre Haltung nicht prinzipiell veränderte, ihre Grundsätze nicht verriet, sondern ihrer Tradition treu blieb.

Diejenigen, die zuviel von den internationalen Friedensresolutionen erwartet hatten, hatten vergessen, dass Bebel noch 1913 auf diese Tradition unzweideutig hingewiesen hatte: wir müssen mit der Möglichkeit eines Angriffskrieges rechnen. Ein solcher Krieg würde zum Weltkrieg führen und unser Vaterland vor die Frage von Sein oder Nichtsein stellen. Deshalb ist die Wehrhaftmachung des letzten Mannes bei uns nicht nur gerechtfertigt, sondern sie ist eine notwendige Folgerung. "Die Sozialdemokratie war die erste grosse politische Partei, die das klar erkannt hat und daher in ihr Programm den Satz aufgenommen hat, der die Wehrhaftmachung, der die Erziehung des Volkes zur allgemeinen Wehrhaftigkeit ausspricht."

Aber, so heisst es in einer offiziellen Parteibroschüre, die Sozialdemokratie geht noch weiter! "Sie will die Wehrhaftmachung des Volkes nicht nur vom körperlichen und technischen Standpunkt aus betreiben. Das Vaterland verteidigt man nicht nur mit Kanonen, Gewehren, Säbeln, starken Fäusten und schnellen Beinen. Dazu gehören auch bestimmte geistige und sittliche Eigenschaften desVolkes, und die Sozialdemokratie will auch diese geistigen Eigenschaften des Volkes stärken... Diese geistigen und sittlichen Eigenschaften sieht sie tief begründet in dem auf wirklicher Freiheit und Gleichheit wurzelnden Gefühl der Zusammengehörigkeit der Volksangehörigen." (21)

Jedes weitere Zitat in dieser Hinsicht ist wohl überflüssig. Diese Worte schrieb die Partei, in deren Programm die Worte standen:

"Immer grösser wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat..."

Die übrigen Taten der "Internationalen revolutionären Sozialdemokratie" waren in Uebereinstimmung mit diesen Proklamationen, in denen man auf den seit einem halben Jahrhundert verkündeten revolutionären "Klassenkampf" verzichtete und das nationale Interesse des Kapitals, die kapitalistischen Interessen der Nation über die elementarsten Interessen der Arbeiterklasse stellte. Auch in dieser Hinsicht ist es richtig dass man seine Traditionen fortführte und nichts Neues begann. Neu war nur, dass es für jeden deutlich und unzweideutig ans Tageslicht trat.

Auf die Worte und Taten der Parteien der Internationale seit der Zustimmung der Kriegskredite bis zur Unterzeichnung des Versailler Friedens gehe ich hier nicht weiter ein. Ich führe hier nur eine offizielle "Rechtfertigung" an, die so kennzeichnend ist für den wahren Charakter der Partei, dass jede weiteren Erörterungen unnötig sind.

"Die Ursache des Krieges ist in ökonomischen Gründen gelegen - so heisst es dort (22) -, das Ziel der Feinde ist die ökonomische Vernichtung Deutschlands. Dieses würde eine grosse Arbeitslosigkeit mit sich ziehen. Der Lohn würde sinken und auch der Mut zum Kampf gegen das Schicksal, gegen Druck und Elend. Die Grundlagen brechen zusammen, auf denen sich der stolze Bau der deutschen Arbeiterbewegung erhob: die starken politischen und Gewerkschaftlichem Organisationen, die Früchte langjähriger gewerkschaftlicher Organisationsarbeit, das dichte Netz der politischen Sekretariate usw.: "Dies alles, was unsere Bewegung ausmacht", denn die Stärke dieser Bewegung und ihre Erfolge beruhten auf dem wirtschaftlichen Aufstieg der deutschen Arbeiterklasse, der seinerseits, erst durch den Aufstieg der deutschen Volkswirtschaft möglich wurde. Diesen aber will die Entente treffen. Es wäre so, als wenn man einem Gebäude die Fundamente herausreissen wollte - das Ganze müsste zusammenbrechen. Darum hat das Wort: "Für das bedrohte Vaterland", den besonderen Sinn "für den deutschen Sozialismus". Der Sozialismus als Schatten, als Reflex, nur noch als Produkt des Kapitalismus! - kann es deutlicher ausgedrückt werden? Behauptete Kautsky, dass aus der Eroberung der politischen Macht der Sozialismus von selbst folgen würde, und wollte Renner noch den "Staat als Hebel" für den Sozialismus brauchen, so zog Heinrich Cunow die letzte Konsequenz, indem er einfach den "weiterentwickelten Staat" zum Sozialismus erklärte. In diesem Zusammenhang ist es erklärlich, wenn er bemerkt, dass es lächerlich ist, sich dem Imperialismus widersetzen zu wollen, da er ja nicht etwas Zufälliges, sondern eine notwendige Etappe auf dem zum Sozialismus führenden kapitalistischen Entwicklungswege ist.

Auf diese Weise betrachtete man auch den Krieg als eine notwendige Etappe auf dem kapitalistischen Entwicklungsweg zum Sozialismus.

V

Wie will man die folgende Etappe des Kapitalismus, den nächsten Weltkrieg, bekämpfen, da man ja den bis jetzt verfolgten Weg nicht glaubt revidieren zu müssen? Oder glaubt man, dass der Kapitalismus etwas zu revidieren hat? Wenn Kautsky den Zusammenbruch der Zweiten Internationale und ihre Friedenspolitik entschuldigen will mit der Behauptung, dass sie "im wesentlichen ein Friedensinstrument, aber "kein wirksames Werkzeug im Kriege" gewesen sei, dann ist dieses wohl sehr naiv. Um so mehr, da Kautsky ebenfalls meint, dass man (obgleich sie also kein wirksames Werkzeug im Kriege war) weder die Internationale, noch ihre Leitung, noch ihre Organisation für diesen Bankrott verantwortlich machen kann. Wenn keine der sozialistischen Parteien vermochte, ihre Regierung vom Eintritt in den Krieg abzuhalten, lag das teils daran, dass das Proletariat noch nicht über die genügende Kraft verfügte, zum Teil daran, dass grosse Massen des Proletariats sich selbst vom Kriegstaumel fortreissen liessen. Für die Schwäche und Unselbständigkeit des Proletariats in einzelnen Ländern kann man aber unmöglich die Internationale verantwortlich machen, weder ihre Leitung, noch ihre Organisation." (23) An denjenigen, die die Kraft der sozialistischen Parteien in den Ländern, die den Krieg entfesselten, überschätzt haben, lag der Fehler, nicht an der Internationale.

Das Argument der Schwäche des Proletariats wird man richtig einschätzen, wenn man bedenkt, dass Kautsky - in derselben Broschüre bemerkt, dass die deutsche Sozialdemokratie, gerade weil sie so stark, weil sie mehr Massenpartei war als jede andere sozialistische Partei, im Kriege vom nationalen Empfinden besonders stark erfasst wurde, was sie an die Seite der wilhelminischen Regierung trieb. Die Ursache der verschiedenen Haltung der russischen und deutschen Sozialdemokratie bei der Abstimmung über die Kriegskredite liegt, nach Bernstein, im Unterschied der Grösse und des Einflusses dieser sozialistischen Partei: Je grösser die Partei und je grösser ihr parlamentarischer Einfluss, desto grösser auch die "sachliche Verantwortung".

Was von dieser Partei zu erwarten ist, wenn sie noch grösser und stärker geworden sein wird, und demzufolge die Verantwortlichkeit auch noch grösser ist, ist ohne weiteres deutlich. Dem Proletariat wird weiter seine Unselbständigkeit vorgeworfen von dem Theoretiker der Partei, die ein halbes Jahrhundert lang dieses Proletariat in einer militärischen Disziplin erzogen hatte, die jede eigene Initiative, jede Selbstaktion unterdrückte und damit jeden Keim schöpferischer Kraft vernichtete. Ihm wird seine nationalistische Haltung zum Vorwurf gemacht, wo ihm ein halbes Jahrhundert lang, mit der russischen Gefahr vor Augen, die Notwendigkeit seiner Wehrhaftmachung und der Verteidigung des bedrohten Vaterlandes eingeprägt wurde. Kautskys Versuch, die Taktik der Internationale und ihrer nationalen Parteien auf diese Weise zu entlasten, ist zu durchsichtig, um nicht zu sagen, zu feige. Während er dem Proletariat seinen nationalen Kriegstaumel vorwirft, sieht er selbst den deutlichsten Ausdruck der "Bedeutung, die das Proletariat bereits erlangt hat, in den sozialistischen (Kriegs-) Ministern Frankreichs und Belgien"! Es ist, wie wenn man einem Kind syphilitischer Eltern seinen Idiotismus zum Vorwurf machen wollte.

Die Zweite Internationale, nach dem Krieg in Hamburg versammelt, fasste zwar den Beschluss, dass man aus dem Kriege die Erfahrung geschöpft habe, dass die Internationale nicht nur ein Instrument für die Aufgaben des Friedens, sondern ein ebenso unentbehrliches Instrument während des Krieges sein muss. Dieses bedeutet vor allem, "dass das, was wir erlebt haben, sich niemals wiederholen darf."

Die Auffassung der deutschen Mehrheitler, dass die Sozialisten "in der Stunde der Gefahr" stets zu ihrem "Lande", d.h. zu ihrer Regierung stehen müssten, wie auch immer deren Politik sei, müsste jede internationale Politik unmöglich machen. Kautsky schlägt deshalb vor, dass man nur dann Kriegskredite einer Regierung votieren soll, wenn sie "unzweideutige Garantien" dafür gibt, dass sie den Krieg bloss als Verteidigungs-, nicht als Eroberungskrieg führt. Dass man den sogenannten Verteidigungskrieg nicht ablehnen kann, ist die allgemeine Auffassung der Zweiten Internationale, und dieses, während von sozialdemokratischer Seite selbst anerkannt wird, dass man bei einer Kriegserklärung absolut nicht imstande ist, zu konstatieren, ob es sich um einen Verteidigungs- oder Eroberungskrieg handelt.

In solch einem Moment, schreibt Bernstein, spitzen sich die Beziehungen der Staaten zu einander zu einer Krise zu, wird die Information der Völker über die Vorgänge an beiden Seiten der Grenze immer lückenhafter einseitiger und tendenziöser, so dass ein klarer Ausblick nicht mehr möglich ist. Die objektivste Stimme des Proletariats wird von dem lauten nationalistischen Geschrei übertönt. Bei der heutigen Natur der militärischen Rüstungen und der Grösse der modernen Heere ist der Streit darüber, wer mit den Kriegsvorbereitungen angefangen habe, und auf welcher Seite zuerst die Grenze verletzt worden sei, die am schwersten zu entscheidende Sache von der Welt. Das Urteil über den Anlass zum Krieg wird unsicher; man kann nicht beurteilen, ob der Krieg Angriff oder Verteidigung heisst. (24)

Auch Kautsky selbst schreibt übrigens, dass in keinem Kriege die Dinge einfach genug liegen, "um eine sofortige einheitliche Stellungnahme schon bei Kriegsausbruch zu ermöglichen". Da aber jede Regierung die Mittel in Händen hat, jeden Krieg als einen Verteidigungskrieg hinzustellen, läuft der neue Standpunkt der Internationale hinsichtlich des "Verteidigungs"-Krieges wesentlich auf die Verteidigung jedes Krieges hinaus. Praktisch gibt es also keinen Unterschied mit dem Standpunkt, der jede "internationale Politik unmöglich macht".

Dass man den Charakter eines Krieges bei seinem Ausbruch nicht feststellen kann, ist nun für Bernstein wieder ein Grund, jedes Mittel, diesen Ausbruch des Krieges zu verhindern, zu verwerfen, da man ja dann nicht weiss, "ob der Streik gegen den Krieg nicht Streik gegen das in legitimer Abwehr eines Angriffs begriffene eigene Land heissen würde". Wozu dann noch kommt, dass der in solchem Augenblick verkündete Kriegszustand die Militärbehörde in die Lage versetzt, jeden Versuch einer Propagandierung und Organisierung von gegen den Krieg gerichteten Streiks mit Gewalt und unter Verhängung schwerster Strafen zu unterdrücken. (Deshalb eben muss im Frieden vorbereitet werden, dass das Proletariat bei jeder Kriegserklärung automatisch, ohne einen Befehl der Führer abzuwarten, und - wenn nötig - gegen die Führer in den Streik tritt.) Ausserdem haben die Organisationen der Arbeiter in solchen Tagen ganz andere Sorgen, als einen Massenstreik ins Werk zu setzen. Sie haben so viel mit den schon Arbeitslosen zu tun, dass sie gar nicht daran denken können, die noch in Arbeit stehenden Mitglieder zur Niederlegung der Arbeit aufzufordern. Nur wilde Organisationen, die sich um ihre Arbeitslosen nicht kümmern, könnten das tun. Es ist denn auch gerade in denjenigen der am Krieg beteiligten Länder, wo die Arbeiter gut gewerkschaftlich organisiert sind, ein ernsthafter Versuch in dieser Richtung nicht einmal gedanklich in Angriff genommen worden." (25)

Das ist richtig. Man lernt aus dieser Auseinandersetzung von Bernstein die Argumente kennen, mit denen die Propaganda für die Kriegsverhinderung mit der Tat bekämpft wird. Um die Arbeitslosigkeit nicht zu vergrössern, stürzt man die Arbeiterklasse in einen Kampf, der ein Anschlag ist auf ihr Leben und ein Anschlag auf den Sozialismus. Statt einer nationalen Arbeitslosigkeit wählte man lieber den internationalen Massenmord, der Millionen von Proletariern im Interesse ihrer Unterdrücker das Leben kostete und ein solch unerträgliches Elend mit sich brachte, dass dieses Proletariat sich, sogar gegen den Willen dieser Führer (26), erhob und das herrschende System, ohne es in seiner ökonomischen Macht anzugreifen, zu Fall brachte.

Man darf dabei das eine nicht vergessen: dass Bernstein nicht bestreitet, und dass von sozialdemokratischer Seite nie bestritten worden ist, dass ein Generalstreik in allen Ländern den Ausbruch des Krieges verhindern könnte.

Und wieviel mehr gilt heute die Bemerkung von Domela Nieuwenhuis von 1901: Wenn die Sozialisten den Mut gehabt hätten, auf dem Kongress in Brüssel 1868 anzunehmen, dass die Sozialisten eine Kriegserklärung mit dem Generalstreik beantworten sollten, dann glaube ich meinen zu dürfen, dass eine kräftige Propaganda für diesen Gedanken uns in zehn Jahren viel weiter gebracht hätte, als wir jetzt sind. (27)

Trotzdem meint Bernstein, dass die erste Augustwoche 1914 die Unrealisierbarkeit der Idee der Bekämpfung der Kriege durch den Massenstreik bewiesen hat (während man es nicht einmal "gedanklich in Angriff genommen hat"!) und daher aus den Diskussionen zukünftiger Arbeiterkongresse als Programmpunkt wohl ausscheiden wird.

Dieses Argument zeigte sich leider nur als zu richtig. Als auf dem Weltfriedenskongress im Haag 1922 das I.A.M.B., das eine grosse Anzahl revolutionär-antimilitaristischer Organisationen und revolutionärer Arbeiterorganisationen vertrat, diese Frage auf die Tagesordnung stellte, wurde kaum die Gelegenheit gegeben, die diesbezügliche Resolution zu verteidigen, und sie wurde ohne Diskussion verworfen. (28) Diese Resolution endete folgendermassen:

"In Uebereinstimmung mit der auf dem Kongress der Ersten Internationale 1868 angenommenen Resolution, in Uebereinstimmung mit den Vorschlägen von Domela Nieuwenhuis 1891 und 1893 und von Keir Hardie in Kopenhagen 1910, ruft der Kongress die Arbeiterklasse auf, Kriege unmöglich zu machen, indem sie die Solidarität mit den herrschenden Klassen bricht und eventuellem Krieg durch Generalstreik und Massendienstverweigerung vorbeugt.

Der Kongress erklärt es für die Aufgabe aller, die diese Auffassungen als die ihrigen anerkennen, mit oder ohne Zustimmung der Führer ihrer Organisationen jede Mobilisation in den betreffenden Ländern durch Streik und Dienstverweigerung zu beantworten, dahingestellt, ob man Aussicht hat, den Kampf zu gewinnen oder zu verlieren.

Der Kongress ruft alle Organisationen der sozialistischen Arbeiter auf, sich in moralischer, technischer und organisatorischer Hinsicht vorzubereiten, sich zu Generalstreik und Massendienstverweigerung bereit zu halten, und darauf hinzuzielen, einen trotzdem ausgebrochenen Krieg zur sozialen Revolution zu wenden."

VI

Es ist vorläufig in dieser Richtung nicht viel zu erwarten.

Es ist aus dem Vorhergehenden wohl zu begreifen, dass die Sozialdemokratie heute genau so "international", genau so "revolutionär" und "völkerbefreiend" ist wie vor zehn Jahren. Auch wenn sie nach dem vierjährigen Intermezzo, wo sie "Proletarier aller Länder mordet Euch" zur Losung nahm, aufs neue auf ihre Fahne geschrieben hat:

"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!"

Auch von den kommunistischen Parteien ist kein wesentlicher Kampf gegen Krieg und Militarismus zu erwarten. Dass dies nicht der Fall ist im Lande, wo diese Partei die Regierungsmacht in Händen hat, ist selbstredend. Auch sie konnte den eisernen Konsequenzen, die nun einmal ein zentralisierter, nationaler Staat mit sich bringt, nicht entgehen. Denn wer den Staat will, muss den nationalen Staat wollen, und wer den nationalen Staat will, muss den Krieg wollen. Sogar auch dann, wenn nach Trotzki's "Ideal" diese Staaten vereinigt sein würden vom Ural bis zum Atlantischen Ozean. Was die K. P. verwirklichen will, ist ja auch nur das sozialdemokratische, marxistische Staatsideal, wenn auch mit putschistischen, blanquistischen (nicht bakuninistischen!) Mitteln. Um so mehr, als die K.P. der verschiedenen Länder, die ganze Dritte Internationale nur ein Instrument in Händen der Regierer des nationalen, staatskapitalistischen Sowjetstaates ist. Es war die zentralisierte Parteidiktatur und Staatsdiktatur, die die ersten Keime wirklicher proletarischer Selbstbefreiung, die sich in den Räten manifestiert hatten, vernichtete. Das Dekret, das die Rote Armee einsetzte - im Gegensatz zu den Freiwilligenheeren, die, unterstützt durch den Partisanenkrieg, die russische Revolution gegen die konterrevolutionären Angriffe verteidigt hatten - war nicht die Rettung, sondern die Vernichtung der Revolution.

Die heutige Kommunistische Partei kann und will den Militarismus nicht bekämpfen, weil sie die meist militaristischen und gewalttätigsten Methoden anwenden will, um ihr Ziel, die Eroberung der politischen Macht (die für sie die soziale Revolution bedeutet!) zu verwirklichen. Sie will die Produktionsmittel des Todes, den ganzen militärischen Machtapparat nicht vernichten, sondern diese der herrschenden Klasse entreissen. Dies bedeutet, dass sie bei der Anwendung ihrer Gewaltmittel natürlich nicht hinter denen des Imperialismus zurückstehen kann. Henriette Roland Holst hat bereits in einer Untersuchung über die Kampfmethoden der sozialen Revolution (1918) darauf hingewiesen und in unübertrefflicher Weise auseinandergesetzt, dass der revolutionäre Sozialismus die Ansicht überwinden muss; dass er mit allen Mitteln, welche es auch sein mögen, sein Ziel erreichen kann, dass mit diesen Methoden die soziale Revolution mit derselben Notwendigkeit versagen muss, als der Irrtum der Reformisten, die meinten, dass die Grösse und die Vollkomenheit ihrer Organisationen das Proletariat unbedingt zum Siege führen würde. Jede militärische Organisation wird unumgänglich ein Instrument, das die Freiheit der Masse bedroht oder angreift. Deshalb muss nicht nur der Militarismus tatkräftig bekämpft werden, sondern jede militärische Organisation muss verworfen werden. Es wird für das Proletariat keine Befreiung geben, solange es sich nicht vollkommen lossagt von dem Glauben, in der Waffengewalt eines der Mittel zu sehen, die die Volksmassen zum Siege führen müssen (29).

Wort für Wort findet man hier eine Bestätigung für die Notwendigkeit der revolutionär-antimilitaristischen Taktik im Klassenkampf. Wort für Wort ist es eine Verurteilung der Politik, die die Sowjetregierung seit 1919 geführt hat, Wort für Wort ist es eine Verwerfung der heutigen Taktik der Kommunistischen Partei.

Die heutige Kommunistische Partei hat auch nichts mehr gemein mit dem Spartakusbund, noch mit seinen Gründern. Ueber die Einführung des Sozialismus durch die diktatorische Macht einer Regierung sagt Rosa Luxemburg in ihrer Programmrede auf dem Gründungsparteitag der K. P. D.: "Der Sozialismus wird nicht gemacht und kann nicht gemacht werden durch Dekrete, auch nicht von einer noch so ausgezeichneten sozialistischen Regierung. Der Sozialismus muss durch die Massen, durch jeden Proletarier gemacht werden. Dort, wo sie an die Kette des Kapitals geschmiedet sind, dort muss die Kette zerbrochen werden."

Und in dem Spartakusprogramm heisst es: "Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will."

Ich weise auf dies alles nur mit einem Worte hin, weil sich auch hier wieder zeigt, wie sehr die revolutionär-antimilitaristische Taktik, die konsequente Kriegsbekämpfung unlöslich mit den Kampfmethoden der sozialen Revolution verbunden sind.

Der Krieg hat bewiesen, dass der Weg, den das Proletariat ging, nicht der Weg seiner Befreiung, nicht der Weg der Befreiung vom Kriege war.

Es gibt für die Befreiung des Proletariats kein anderes Heil als die ökonomischen Kampforganisationen, als Selbstorganisation, als internationaler revolutionärer Klassenkampf. Es gibt auch keinen anderen Weg, den Krieg zu bekämpfen. Man muss sich von der Utopie befreien, dass der Staat "absterben" würde durch eine ungekannte zentralistische Staatsdiktatur. Man muss sich von der Utopie befreien, dass die Freiheit zu verwirklichen sein würde durch den Despotismus.

Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein - von keinem Staat, von keinem nationalen oder internationalen Parlament, von keiner politischen Partei kann die Arbeiterklasse die Befreiung erwarten. Sie wird sich auch nur selbst befreien können von der furchtbaren Geissel, die sie zu vernichten droht - von dem Krieg.

Und wer den Krieg wesentlich bekämpfen will, muss die prinzipielle Umwälzung dieses ganzen gesellschaftlichen Systems wollen, "in einem Wort, man muss die soziale Revolution akzeptieren in all ihren Konsequenzen."

Der August 1914 brachte den Bankrott des offiziellen Sozialismus. - Das war das Schlimmste nicht. Millionen starben für eine Lüge, auch das war vielleicht das Schlimmste nicht.

Am 15. August 1914 publizierte das schwedische Blatt "Brand" ein anarchistisches Manifest (30), in dem gesagt wird, dass die Tausend, die mit gebeugtem Nacken den Tod jetzt erwarten, tausendmal gehört haben, wie der Krieg hätte verhindert werden können, und das mit den Worten endet:

"Einmal richten sich doch wohl noch die Arbeiter der ganzen Welt aus Blut und Tränen empor, aufs neue gedenken wir aus dem Chaos uns zu erheben, das die Gewaltpolitik geschaffen hat, und dann bringen wir eine teuer erkaufte, aus dem Schlunde der Hölle selbst geholte Erfahrung mit, eine Erfahrung, Genossen, die mit donnernder Stimme, doppelt gewaltig uns ruft zum Kampf wider die verbrecherische kapitalistische Gesellschaftsordnung, die erste und letzte Ursache dieses Weltunglücks ist. Mögen wir dann zeigen, was wir gelernt haben, und dass das Blut nicht vergebens geflossen ist."

Das ist das Schlimmste, das ist das unbegreiflich Fürchterlichste dieses Krieges. Dort stehen wir heute. Morgen vielleicht bricht die Hölle wieder los. Vielleicht war der Weltfriedenskongress im Haag bereits ein zweites Basel. Man wird "Nieder mit dem Krieg" rufen und gegen die "Kulturschande" protestieren - und dann werden wieder alle marschieren.

Herzen hat einmal das prophetische Wort gesprochen: "Ihr habt den Sozialismus nicht gewollt, nun gut, so werdet ihr den Krieg haben."

Der Weg, den die Arbeiterklasse heute geht, ist der Weg zu neuem Krieg und neuem Untergang.

Arthur Müller Lehning

Fußnoten:

(1) Vergl. Karl Kautsky: Die Internationalität und der Krieg S. 6.
(2) Vergl. die Friedensresolution des Internationalen Sozialistenkongresses 1910 in Kopenhagen.
(3) Vergl. Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx (Stuttgart 1921) Band III, S. 323, 328.
(4) Vergl. James Guillaume, L'Internationale. Documents et Souvenirs. Tome 1, S. 37.
(5) Guillaume a.a. O.S. 51.´
(6) Vergl. Bakunin's Sozialpolitischer Briefwechsel mit A. J. Herzen und Ogarjow (Stuttgart 1895) S. 311.
(7) Vergl. 0. Testut, Livre bleu de l'Internationale, Paris 1870, S. 170.
(8) Vergl. Guillaume a. a. 0. 1 S. 68, 69.
(9) Briefwechsel a. a. 0. Band IV, S. 319 und 296.
(10) Vergl. Guillaume a. a. 0. II, S. 70.
(11) Vergl. 0. Testut, L'Internationale et le Jacobinisme S. 277
(12) Oswald Spengler, Preussentum und Sozialismus (1920) S. 32, 42, 76.
(13) Vergl. Spengler a. a. 0. S. 52, 53. Man muss ein preussischer Philosoph sein, um den Mut zu haben, 1920 zu erklären, dass die höchste Form menschlichen Daseins in Schützengräben, Giftgasen, Dumdumgeschossen, Kathedralbeschiessungen, Lusitaniaversenkungen, Hungerblockaden, Bombardierungen aus der Luft und so weiter und so weiter besteht!
(14) Vergl. Verhandlungen und Beschlüsse des Internationalen Arbeiterkongresses zu Brüssel 1891, S. 27 ff.
(15) Protokoll des Intern. Soz. Arbeiterkongresses in Zürich 1893, S. 21-30.
(16) Vergl. Parteitags-Protokoll Hamburg 1897, S. 122, 134-155.
(17) Vergl. Max Nettlau "Verantwortlichkeit und Solidarität im Klassenkampf" (Der Syndikalist, Berlin).
(18) Vergl. Protokoll des Allgem. Inter., Soz. Kongresses Stuttgart 1907, S. 65, 66, 67, 81-105.
(19) Karl Kautsky "Vergangenheit und Zukunft der Internationale" (Wien 1920) S. 5.
(20) Vergl. Protokoll Intern. Soz.-Kongress Kopenhagen 1919, S. 36, 37, 99, 103.
(21) Vergl. Sozialdemokratie und Landesverteidigung; herausgegeben vom Bezirksvorstand der Provinz Brandenburg (Vorwärts, Berlin 1915) S. 9.
(22) Vergl. "Die Kriegspolitik der Partei". (Herausgegeben vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.)
(23) Kautsky, Vergangenheit und Zukunft der Internationale, S. 3.
(24) Vergl. Eduard Bernstein: Die internationale der Arbeiterklasse und der europäische Krieg. S. 4, 5, 18, 22, 23.
(25) Bernstein a. a. 0. S. 4-5
(26) Auf dem sozialdemokratischen Parteitag-Kongress 1924, Berlin, erklärte Scheidemann: Ich bin dankbar, dass festgestellt worden ist, dass Ebert und ich an der Novemberrevolution nicht schuld sind.
(27) Domela Nieuwenhuis, Krieg dem Krieg, Freier Arbeiter-Verlag, Berlin 1907, S. 14.
(28) Vergl. Directe Actie! De antimilitaristen van de daad op het vreedes-kongres van het I. V. V., 10.-15. Dec. 1922 door B. de Ligt. B. I. A., Edition du Bureau International Antimilitariste (Bilthoven, Hollande 1924).
Siehe: "Erkenntnis und Befreiung". Jahrg. Vl. Nr. 1.
(29) Vergl. Henriette Roland Holst "De strijdmiddelen der sociale revolutie" (Bos & Co., Amsterdam).
(30) Vergl. Die Internationale und der Weltkrieg. Materialien gesammelt von Carl Grünberg. S. 289.

Originaltext: http://ch.indymedia.org/de/2003/03/5416.shtml


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