Parlamentarismus vs. Basisdemokratie
Wenn wir uns das heutige politische System anschauen, und es mit jenem früherer Zeiten, der Habsburger-Monarchie, dem Austrofaschismus (1) oder dem Nazi-Faschismus vergleichen, dann fällt sofort auf, dass wir - sofern mensch eine/r ist - als StaatsbürgerInnen heute mehr Rechte haben, diese eher eingehalten werden und dass ein bestimmter Grad an Opposition möglich ist. Wir sehen auch graduelle Unterschiede in der Politik, die unterschiedliche Herrschaftsformen, unterschiedliche Parteien, Entscheidungs- und Kontrollinstanzen ausüben.
Doch unterstellen wir auch dem liberalsten und ausgewogensten Herrschaftssystem, eben ein Herrschaftssystem zu sein. In dem eine Oligarchie (2) aus politischen EntscheidungsträgerInnen mit Hilfe staatlicher Repressionsorgane (Polizei, Militär...) über die Mehrheit Entscheidungen treffen.
Jedoch: "Im Unterschied zur nationalistischen und neonazistischen Parlamentarismuskritik kritisiert der Anarchismus am Parlamentarismus nicht, daß zuviel, sondern daß zuwenig frei dikutiert wird, er kritisiert nicht dessen anscheinende Unfähigkeit, sondern seine tatsächliche Fähigkeit zur Entscheidung, nicht seine Ineffektivität, sondern seine Effektivität des Regierens." (3)
Gerade weil es auch Kritik von autoritär Gesinnten am parlamentarischen System gibt, gilt für die AnarchistInnen die Faustregel, dieses System nur dann zu stürzen, wenn die begründete Aussicht auf eine basisdemokratische, föderalistische und herrschaftsfreie Gesellschaftsform realistisch erscheint.
"Volksherrschaft"?
Aus der Sicht der AnarchistInnen ist schon das Wort "Demokratie" eine Zumutung. Demokratie heißt "Volksherrschaft". Herrscht aber irgendwo "das Volk" (4)? Natürlich nicht. Das Wahlvolk (5) darf sich jene auswählen, von denen "es" beherrscht werden will. Und selbst die bekommen sie vorsortiert, kennen sie nicht, müssen darauf vertrauen, was via Medien, Wahlwerbung.... über sie gesagt wird. Und glauben, was sie versprechen.
Genau genommen ist das Wort Demokratie theoretischer Unsinn: Wenn das Volk alle sind, und das Volk herrscht, über wen herrscht es dann? Jeder über jeden? Keiner über keinen? Demokratie, radikal verstanden, käme der Anarchie, Akratie, also Herrschaftslosigkeit gleich.
Dennoch wird - in Ermangelung besserer Begriffe - von AnarchistInnen öfters das Wort Basisdemokratie der heutigen Repräsentativdemokratie gegenübergestellt.
Als AnarchistInnen stellt uns die repräsentative Demokratie, sprich jene Staatsform, in der gewählte ParlamentarierInnen und von ihrer Mehrheit gebildete Regierungen die politischen Entscheidungen treffen, vor mehrerlei Probleme: Das, was wir wollen, eine herrschaftslose, freie, klassenlose Gesellschaft lässt sich schlichtweg durch Wahlen und Parteien nicht erreichen. Herrschaft lässt sich nicht per Dekret durch ein paar Mächtige abschaffen. Das wäre ein Widerspruch in sich, es hieße ja, dass sich die Mächtigen selbst entmachten. Selbst wenn sie das täten, wären damit noch keine neuen - nichthierarchischen - Gesellschaftsstrukturen geschaffen.
Das heißt, wenn ich mit dem politischen System nicht zufrieden bin, kann ich durch Wahlen zwar mithelfen ihre RepräsentantInnen auszutauschen, aber nicht das Herrschaftssystem im libertären (6) Sinne ändern oder gar abschaffen.
Autoritären Strömungen war es durchaus möglich, das System von innen heraus zu ihren Gunsten zu verändern: So gelang es der NSDAP 1933 (trotz realer Stimmverluste) legal - über den Weg der Wahlen - die absolute Macht zu erringen. Das zeigt, dass in dieser Form der "Demokratie" das autoritäre Prinzip dem Prinzip der Freiheit offenbar überlegen ist.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch linke und liberale PolitikerInnen, erst einmal im Amt und mit entsprechender Macht versehen, weder willens noch fähig sind, das Gesellschaftssystem, das sie mächtig gemacht hat, grundlegend in Frage zu stellen. Macht korrumpiert, das ist nichts neues. Je größer diese Macht, desto größer wird zumeist die Entfremdung zwischen jenen, die die Leute zu vertreten vorgeben und den Leuten selbst. Gerade jene, die am lautesten schreien, dem "kleinen Mann" zu dienen, sind´s, für die der eine oder andere kleine Mann ein nötiges Bauernopfer ist, und ihre Gesamtheit eine Herde von nützlichen Idioten.
Freiheit und Selbstbestimmung, die Selbstregulierung der Gesellschaft, wie es der Anarchismus will, kann nur durch die Selbstorganisierung der Menschen selbst entstehen.
Zum anderen sind dem/der einzelnen PolitikerIn enge Grenzen gesetzt. Etwa, die durch die ökonomisch Mächtigen (Kapitaleigentümer, Konzerne, Banken.....) gezogenen. Selten gelang es einem/einer PolitikerIn, sei er/sie zu Beginn seiner/ihrer Amtszeit auch noch so "revolutionär" gewesen, sich gegen die Interessen der "Wirtschaft" durchzusetzen. Das heißt, nicht nur die Selbstregulierung der Gesellschaft, sondern auch die soziale Gerechtigkeit ist nicht wirklich auf dem Weg der Wahlen durchzusetzen. Wenn dies doch einer versucht hat, wurde er zumeist (Beispiel: Der Sozialist Allende in Chile) schlichtweg durch die anderen Mächtigen (z.B. Militär und Kapitaleigentümer) gestürzt. Dort wo es einer Regierung (etwa einer sozialdemokratischen) gelang, zumindest geringfügig umzuverteilen, den Prozess der Verelendung zu verlangsamen, lag das weniger an der Macht der Regierungsmitglieder, als vielmehr an der organisierten ArbeiterInnenschaft und der Masse unzufriedener Menschen, die hinter ihnen standen. Zudem benötigte das Kapital zeitweilig kaufkräftige Massen - eine Tendenz, die heute längst umgekehrt wurde.
Oft war es den Herrschenden lieber "dem Pöbel" ein paar Krümelchen abzugeben, bevor er sich den ganzen Kuchen oder gar die Bäckerei schnappte.
Heute zeigen auch "linke" PolitikerInnen ganz unverhohlen, dass sie sich im Zweifelsfall immer auf die Seite der Kapitalbesitzer schlagen und deren Regeln vorbehaltlos akzeptieren (siehe Standortdebatte, Steuererleichterungen für "die Wirtschaft", Sozialabbau...).
Selbst die staatskapitalistischen Systeme, "der Kommunismus", wie sie landläufig genannt wurden, konnten soziale Gerechtigkeit nicht herstellen. Statt der Privatkapitalisten waren es nun Parteibonzen, Militärs, Bürokraten...die ökonomische Privilegien genossen und über die Arbeitskraft der einfachen Bevölkerung und das Kapital verfügten.
H. Stowasser beschreibt das Dilemma der Alternativlosigkeit bei Wahlen folgend: "Wenn ich Gefängnisinsasse bin und freikommen möchte, werde ich diese Freiheit nicht erreichen, indem mir die Gefängnisverwaltung die Wahl des Wachpersonals ermöglicht. Da mag es zwar Wärter geben, die nicht prügeln und mir den Alltag erträglicher machen. Vielleicht ist es gut, wenn ich wähle, dann geht es mir besser. Aber im Gefängnis sitze ich nach wie vor. Womöglich gewöhne ich mich sogar an den Knast, ebenso wie meine Mitgefangenen: Wir lassen uns in das System einspannen, genießen kleine Verbesserungen und vergessen das Ziel. Am Ende beteiligen wir uns gar an einer Häftlingsselbstverwaltung und bewachen uns selbst."
Die Staats-KommunistInnen haben ein Loch in die Mauer gesprengt und an anderer Stelle ein noch größeres Gefängnis errichtet, die SozialdemokratInnen haben gemeint, mensch könne der Gefangenschaft entrinnen, indem mensch zuerst die netteren Bewacher wählt - und sich später selbst zum Bewacher wählen läßt.
Die AnarchistInnen wollen das Gefängnis niederreißen. Ersatzlos. Weil sie der Meinung sind, dass die Gefangenen auch ganz gut und noch besser ohne Bewacher und Mauern überleben können.
Doch gehen wir auf das heutige System ein wenig genauer ein:
Die Repräsentation - das StellvertreterInnenprinzip
Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch am besten weiß, was für ihn/sie am besten ist. Das jenes Gesellschaftssystem das beste sei, in dem die Menschen selbst und mit den anderen Betroffenen ihre Probleme in Angriff nehmen. Die Möglichkeit haben, die Gründe für ihre Probleme aus der Welt zu schaffen. Ohne staatliche Bevormundung und Autoritäten.
In der Repräsentativdemokratie wird die Selbstregulierung der menschlichen Gesellschaft durch das Weiterdelegieren der Verantwortung an BerufspolitikerInnen auf ein Minimum reduziert. Tatsächlich haben wir nur das Recht alle paar Jahre das Kreuzerl an vorgefertigter Stelle zu machen.
Dazwischen haben diese PolitikerInnen die Möglichkeit, losgelöst vom Wahlvolk Entscheidungen treffen zu können, an die sich dieses jedoch halten muß, ob es ihm passt oder nicht. Sonst gibst Häfn.
Eine Machtelite trifft also für einige Jahre die Entscheidungen, der Großteil der Bevölkerung bleibt von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. "DemokratInnen" sollten sich ehrlicherweise Oligarchisten nennen.
Gerade in Österreich gesellten sich zu den direkt gewählten VertreterInnen bei bestimmten sozialpolitischen Entscheidungen die sogenannten Sozialpartner, also Vertreter der UnternehmerInnen und der ArbeiterInnen.
Innerhalb dieser Vertretungen geht es nicht wesentlich demokratischer her. So wird beispielweise der Vorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) nicht von den Gewerkschaftsmitgliedern gewählt, sondern hängt von den Gnaden mächtiger Teilgewerkschaftsführer bzw. von der Anerkennung die er (eine Frau gab es in dieser Position ja noch nie) bei seinen Verhandlungspartnern (Regierung, Wirtschaftstreibende) genießt ab. Gemäß ihrer volkswirtschaflichen (7) Ausrichtung und zentralistisch-hierarchischen Struktur ist es für die Mitglieder der Gewerkschaft hier ebenso wenig möglich, grundlegende Dinge zu ändern wie innerhalb des gesamten politischen Systems. Die Sozialpartnerschaft ist ein Instrument des Interessensausgleichs zwischen verschiedenen Machtcliquen, kann aber den naturgemäßen Gegensatz zwischen Arbeitenden und Ausbeutenden nicht aus der Welt schaffen, sondern lediglich verschleiern. Sie verdammt die Gewerkschaften dazu, ein Instrument der sozialen Kontrolle zu sein, anstatt eine Kampforganisation der Lohnabhängigen.
Die schwarz-blaue Regierung hat uns zudem auch deutlich vor Augen geführt, wie sehr die Beteiligung der "Sozialpartner" an sozialpolitischen Entscheidungsprozessen vom goodwill der Regierenden abhängig ist.
Demokratische Konkurrenz?
Die Konkurrenz zwischen den wahlwerbenden Parteien läßt sich durchaus mit der Konkurrenz kapitalistischer Unternehmen vergleichen.
Die Parteien versuchen durch ihre Maßnahmen bzw. Versprechungen WählerInnenstimmen zu maximieren (vermehren). Indem PolitikerInnen nach immer mehr Macht streben, wollen sie auch immer mehr WählerInnenstimmen.
Dabei geht es nicht so sehr um Programme oder den Inhalt, sondern um den Tauschwert der Politik. Die PolitikerInnen tauschen ihre Politik gegen WählerInnenstimmen.
Diese Konkurrenz schafft jedoch kaum jene "Kontrolle" welche "die Macht" brauche, was uns Wahlplakate so gerne weismachen wollen. Denn dabei wird eines gerne vergessen: Zum einen sind die PolitikerInnen und die Parteien an die Regeln dieser Gesellschaftsordnung gebunden, verpflichten sich also, die herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse weitgehend unangetastet zu lassen. Um es zu verbildlichen: Ein Armutschgerl kann sich zwar ein nettes Politikergesicht aussuchen, fliegt aber am nächsten Tag trotzdem aus der Firma oder der Wohnung raus, wenn es dem, der über das Kapital verfügt sinnvoll, angenehm oder notwendig erscheint.
Zum anderen schaffen die politischen EntscheidungsträgerInnen neue politische Realitäten. Es geht nicht so sehr darum, was sie machen, sondern wonach es für die WählerInnen aussieht. Ähnlich der kapitalistischen Wirtschaft werden Bedürfnisse durch PolitikerInnen geschaffen, welche diese dann befriedigen oder zu befriedigen vorgeben. D.h. es geht einer/m "guten" PolitikerIn nicht darum, das zu tun, was die Bevölkerung tatsächlich will oder braucht, sondern die WählerInnen glauben zu machen, "das Volk" wolle, was die PolitikerInnen (der eigenen Fraktion) tun. Unter dem Hinweis auf Sachzwänge werden allerlei Krisen "gemanagt", welche nicht selten an den Haaren herbeigezogen werden (siehe z.B. die vermeintlichen "EU-Sanktionen", Anti-Tschechische Stimmungsmache der Regierung). Grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Organisierung, des politischen und ökonomischen Systems werden nicht gestellt. Zum Beispiel, ob wir BerufspolitikerInnen überhaupt brauchen.
PolitikerInnen lösen Probleme, die wir ohne sie nicht hätten.
Daß die Vermehrung von WählerInnenstimmen aber nicht zwangsläufig notwendig zum Regieren ist, zeigt das Beispiel der ÖVP im Jahr 2000 - "Als Dritter gehen wir in Opposition" (W. Schüssel).
Dieses Beispiel relativiert auch die vermeintliche Möglichkeit der WählerInnenmehrheit auf die Regierungsbildung tatsächlich Einfluss nehmen zu können. Ebenso zeigt sich, daß selbst Staaten, in denen kaum die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, von Parteien regiert werden, die ihrerseits kaum 10% des "Wahlvolks" hinter sich haben.
Die Bevölkerung muss sich also an die politischen Entscheidungen halten, darf sie aber nicht selbst treffen, andernfalls drohen straf- oder verwaltungsrechtliche Konsequenzen.
Eine Klasse von politisch Herrschenden kann losgelöst von der Bevölkerung zumindest eine Regierungsperiode lang Entscheidungen treffen. Bildlich gesprochen geben die WählerInnen ihre Stimme ab, um auf tatsächliche Mitbestimmung zu verzichten.
"Direkte Demokratie"?
In der Verfassung sind verschiedene Formen der "direkten Demokratie" vorgesehen: Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen. Offensichtlich ändern diese aber nichts an dem entmündigenden Verhältnis der Bevölkerung eines Staates zu "ihrer" Regierung.
Abgesehen davon, dass es nur finanzkräftigen und infrastrukturell gut ausgerüsteten Gruppen möglich ist, ein Volksbegehren einzuleiten, ist ein solches, wie die Erfahrung zeigt, völlig unwirksam. Es verpflichtet ab einer gewissen Anzahl von geleisteten Unterschriften das Parlament zur Behandlung eines bestimmten Themas, aber zu keiner bestimmten Entscheidung. Sie haben lediglich propagandistischen Wert, warum das Volksbegehren gerne von der FPÖ zur Aufstachelung und Mobilisierung der WählerInnen gebraucht wurde (z.B. Ausländervolksbegehren, Temelinvolksbegehren...).
Volksabstimmungen sind für die politischen Entscheidungsträger bindend, können aber auch nur von diesen angesetzt werden. Die Ausarbeitung der Fragestellung und der konkreten Gesetze, die damit zusammenhängen, obliegen ebenfalls ihnen. Die WählerInnen können zwischen Antwortmöglichkeit A oder B wählen, ohne tatsächlich auf die Hintergründe Einfluss zunehmen.
Deshalb wurden derartige "Abstimmungen" auch gerne von faschistischen Systemen inszeniert, um "dem Volk" das Gefühl zu geben, die Entscheidungen mitgetragen zu haben, oder seine Maßnahmen gegenüber dem Ausland zu rechtfertigen.
Zudem schauen die Herrschenden schon darauf, dass das Ergebnis einer Abstimmung keine ihnen unangenehmen Überraschungen bringt.
Die Antwort ist in der Fragestellung bereits vorgegeben. Oder hat mit dem eigentlichen Problem gar nichts zu tun.
Wahlboykott - eine Alternative?
Ein Ausdruck des Protests - für sich alleine genommen aber keine Alternative. Tatsächlich können Alternativen nur entstehen, wenn die Menschen beginnen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Jede/r seine/ihre eigene Politik macht.
Durch das simple Nichtwählen wird sich sicherlich nichts ändern. Es mag oft schwer sein, diese Unterscheidung zu treffen; doch der/die NichtwählerIn verzichtet darauf, wenigstens das kleinere Übel gegen das größere zu unterstützen (sofern diese Unterscheidung überhaupt möglich ist). Auf der anderen Seite sprechen die steigenden NichtwählerInnenzahlen auch für eine Legitimationskrise, in der das herrschende System steckt. Zunehmend mehr Menschen trauen "der Politik" nicht mehr über den Weg. Was uns als AnarchistInnen wenig stört.
Die Bedeutung einer Wahl für gesellschaftliche Alternativen wird aber sowohl von ihren GegnerInnen wie ihren BefürworterInnen zumeist überschätzt. Wenn beispielweise manche Linksradikale (zumeist in sozialistischen Splitter- und Kleinstparteien organisiert) ein Wahlboykott propagieren und zugleich die SPÖ des Verrats an der ArbeiterInnenklasse bezichtigen, dann suggeriert das, es könne auf längere Sicht eine Partei geben, die nicht antiemanzipatorisch oder zumindest emanzipationshemmend sei. (8)
Ein Aufruf zum Wahlboykott suggeriert auch, eine Parlamentswahl wäre eine Wahl zwischen wirklichen Alternativen. Man/frau stimme bei einer Wahl über den Verbleib oder die Abschaffung des heutigen Systems ab: Gültig wählen ja, zu Hause bleiben nein.
Tatsächlich wählen wir (wie oben erwähnt) bei einer Wahl zwischen vorsortierten Gruppen von BerufspolitikerInnen, die weltanschaulich manchmal unterschiedlich, in ihrer prinzipiellen Haltung zum ökonomischen System und zum hierarchischen Repräsentativssystem (zwangsläufig) gleichartig sind.
Eine "Wahl" zwischen wirklichen gesellschaftlichen Alternativen, wie sie beispielweise die AnarchistInnen vorschlagen, gibt es nur dann, wenn sie von genügend Menschen durchgesetzt werden. Anarchie ist nicht "wählbar", sie kann nicht einfach eingeführt werden, sie entsteht durch den Aufbau unhierarchischer gesellschaftlicher Selbstorgansierungs- und Selbstverwaltungsstrukturen. Das zu propagieren und voranzutreiben - nebst der Kritik an den herrschenden Zuständen - sollte die Aufgabe der AnarchistInnen sein.
Flash G.
Fußnoten:
(1) Ständestaat in Österreich 1933-38, angelehnt an das faschistische Italien unter Mussolini. Beherrscht von der christlich - sozialen Partei ("Vaterländische Front"), der Vorgängerin der heutigen ÖVP.
(2) Oligarchie: Statt einem König oder Diktator wie in der Autokratie herrscht hier ein Gruppe von Leuten.
(3) Graswurzelrevolution Nr.146/47/48
(4) Das Wort "Volk" wird hier vereinfachter weise im staatsrechtlichen Sinn verwendet. Gemeint ist nicht die völkisch-nationalistische Definition von Volk als vermeintliche sprachliche, religiöse oder kulturelle Einheit, sondern alle BewohnerInnen eines Staatsgebietes. Anzumerken wäre hier nur, dass der Staat Österreich durchaus völkische Kriterien in seinem Staatsbürgerrecht hat: So erhält ein Kind österreichischer StaatsbürgerInnen automatisch die Staatsbürgerschaft, während ein Kind von EinwanderInnen ohne österreichischen Pass, selbst wenn es in Österreich geboren ist, keine erhält. Zudem meinen wir, dass jede Form der Abgrenzung, durch welche die Menschenwürde geteilt wird, abgeschafft und überwunden gehört, d.h. auch jegliche Form der "Staatsbürgerschaft".
(5) das sind auch nicht alle, die auf dem Gebiet des jeweiligen Staates leben - z.B. Nicht-StaatsbürgerInnen, Häftlinge, Entmündigte, Kinder, Jugendliche...
(6) libertär = anderes Wort für "freiheitlich", da dieser Begriff aber in Ö. durch eine rechte Partei missbraucht wird, ist das aus dem (7)Hier geht es nicht um das wirtschaftliche Wohl des Einzelnen oder der Klasse der Lohnabhängigen als Gesamtheit, sondern um das Wohlbefinden der Wirtschaft eines Landes, und damit v.a. das der Wirtschaftstreibenden.
(8) Emanzipation=Befreiung, suggerieren=etwas jemand anderen einreden/glaubenmachen wollen
Aus: Anarchie Nr. 0
Originaltext: www.schwarzwurzeln.org