Die anarchistische Alternative - Selbstorganisation statt parlamentarische Fremdbestimmung

Die parlamentarische Demokratie mag die beste aller möglichen Regierungsformen sein - die anarchistische Parlamentarismuskritik richtet sich jedoch gegen die Zumutung, überhaupt regiert zu werden. Es geht dem Anarchismus nicht um eine alternative Regierung, sondern um Alternativen zur Regierung.

Ausgangspunkt anarchistischer Gesellschaftsutopien ist das menschliche Bedürfnis nach Freiheit. Es ist der individuelle Wille, nicht regiert werden zu wollen, auch nicht durch Mehrheiten, auch nicht durch gewählte VertreterInnen, sondern die eigenen Angelegenheiten gemeinsam und gleichberechtigt mit anderen selbst zu regeln. Voraussetzung ist die Vorstellung eines menschlichen Individuums, das aktiv und am Tagesgeschehen interessiert Gesellschaft selbst gestalten will und nicht durch ParteiführerInnen und Parlamente tagtäglich darin bestärkt wird, apathisch den Entscheidungen anderer zu folgen oder den vielen Gesetzgebungsprozessen in den Parlamenten passiv und ehrfürchtig zuzusehen. Die Parlamente spiegeln eine Komplexität und Fülle von notwendigen Entscheidungen nur vor, um den Individuen den Mut zu nehmen, die sie betreffenden Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.

Doch es ist ja gar nicht so, dass so viele Entscheidungen wirklich überregional gefällt werden müssten, wie es die Parlamente vorgaukeln. Der Anarchismus stellt überhaupt erst die Frage, welche Dinge jedes Individuum für sich entscheidet und welche gemeinsam mit anderen entschieden werden müssen. Der Anarchismus stellt auch die Frage, mit wem entschieden wird: nur mit den NachbarInnen oder der Gemeinde oder einer größeren Region.

Dadurch werden sich die notwendigen gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen auf weniger, aber substantielle, wirklich alle betreffende Fragen reduzieren. Das wiederum entzieht den BerufspolitikerInnen ihre Daseinslegitimation. Die ungeheure Menge parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren mit Hunderten von Gesetzgebungsentwürfen und Gesetzen pro Legislaturperiode hat auch den Zweck, bei den BürgerInnen jegliches Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sich selbst zu organisieren, zu zerstören.

In den siebziger und achtziger Jahren, als die Grünen noch nicht oder nur als chancenlose Radikalopposition in den Parlamenten vertreten waren, als parlamentarische Machtbeteiligung und Mitregierung noch jenseits aller parlamentarischen Möglichkeiten schien, gab es gleichzeitig vielfältige Formen der Selbstorganisation innerhalb sozialer Bewegungen: selbstverwaltete Betriebe, Projekte, Lebensmittelkooperativen, Kommunen, Genossenschaften, Kollektive, Frauenprojekte, selbst verwaltete Presse- und Informationsnetze (zig Alternativzeitungen, Informationsdienst-ID, taz als selbst verwaltete Tageszeitung in den Anfangsjahren), soziale Aktionsgruppen, vielerlei ehrenamtliches Engagement in ökologisch und sozial orientierten BürgerInneninitiativen. Dass diese Initiativen der Selbstorganisation heute zahlenmäßig rückläufig sind oder sich Chefstrukturen zugelegt haben und von bürgerlichen Kleingewerbetreibenden nicht mehr zu unterscheiden sind, hat durchaus ähnliche Ursachen wie der Parlamentarisierungsprozess der Grünen selber (Kapitulation vor dem neoliberalen Kapitalismus, individualisiertes Karrieredenken, angeblicher Realismus durch opportunistisches, angepasstes Verhalten usw.). Aber die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre haben gezeigt, dass vielfältige Formen der Selbstorganisation von einer zahlenmäßig relativ großen gesellschaftlichen Minderheit eine Zeit lang in die Praxis umgesetzt werden konnten.

Auch heute fällen wir im Alltag ständig Entscheidungen über Konsumgewohnheiten, ökologische oder synthetische Nahrung, fleischhaltiges oder veganes/vegetarisches Essen, über Investieren oder Sparen, über das Verhalten in Beziehungen, gegenüber NachbarInnen, zwischen Frauen und Männern, über einen den eigenen Fähigkeiten entsprechenden Berufswunsch, über die sozialen Auswirkungen unserer Arbeit und Arbeitsprodukte usw. Die Vielzahl der Entscheidungen, die wir je nach Notwendigkeit allein oder gemeinsam mit anderen treffen, fällt uns gar nicht mehr auf, weil wir sie gewohnt sind und für selbstverständlich halten.

Dass uns die Fähigkeit, diese Entscheidungen fällen zu können, Kraft und Selbstvertrauen zur Wiedereinforderung und Wiederaneignung fremdbestimmter, lange enteigneter Entscheidungskompetenzen geben könnte, kommt uns nicht in den Sinn. Zu oft akzeptieren wir die vorgegebenen Grenzen unserer Handlungsspielräume, anstatt sie selbstbewusst zu durchbrechen und Selbstbestimmungsfähigkeiten zu erweitern.

Das parlamentarische Organisationsprinzip stärkt diese Tendenz, eigene Verantwortung an Gewählte abzugeben, die dann auf angeblich "repräsentative" Weise die Interessen der WählerInnen zu vertreten vorgeben (StellvertreterInnenpolitik, "Repräsentation"). Doch verfassungsrechtlich sind die Gewählten nur ihrem eigenen Gewissen verantwortlich, was der Willkür ihrer Entscheidungen Tür und Tor öffnet.

AnarchistInnen wollen eine andere, wirklich freie Gesellschaft. Im Unterschied zur nationalistischen und neonazistischen Parlamentarismuskritik kritisiert der Anarchismus am Parlamentarismus nicht, dass zuviel, sondern dass zuwenig frei diskutiert wird, er kritisiert nicht dessen anscheinende Unfähigkeit, sondern seine tatsächliche Fähigkeit zur Entscheidung, nicht seine Ineffektivität, sondern seine Effektivität des Regierens. Die auf das Parlament und immer wieder neue Oppositionsparteien hoffenden BürgerInnen von heute verhalten sich in Wirklichkeit weitgehend entmündigt. Die sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre haben gezeigt, dass sich nur im Widerstand, im Kampf gegen parlamentarische Entscheidungen Alternativen entwickeln: die örtlich Betroffenen wollten das letzte Wort darüber haben, ob ein industrielles Großprojekt bei ihnen gebaut wird; Partei- und Parlamentspraktiken wie Abstimmungen und Mehrheitsentscheid wurden durch das bei direkten Aktionen praktizierte Konsensprinzip erstmals in Frage gestellt. Nur über die direkte Aktion wird erlernt, die eigenen Belange selbst in die Hand zu nehmen, sie den repräsentativen InteressenvertreterInnen zu entreißen, die in Anspruch nehmen, anstelle der Individuen zu handeln und sie dadurch beherrschen. Direkte Aktion bedeutet permanente Rebellion der Individuen gegen alle Versuche der Entäußerung ihrer Selbstbestimmungsfähigkeiten. Nicht in der unpolitischen, fatalistischen Abkehr, sondern nur im Kampf gegen parlamentarische Herrschaft und ihre Entscheidungen entwickelt sich daher die anarchistische Alternative. Nur so können aktive, an den vielfältigen gesellschaftlichen Belangen interessierte Individuen entstehen.

Das massenhafte Erlernen von individuellen Selbstbestimmungsfähigkeiten durch direkte Aktion mündet unmittelbar in den revolutionären Prozess der Gesellschaftsveränderung. Direkte Aktion als individuelle und selbstbestimmte Handlung führt zu freiheitlichen Formen der Verbündung mit anderen und kollektiver direkter Aktion, wo gegen Herrschaft und staatliche Versuche, individuelle Freiheiten zu beschneiden, gemeinsam mit anderen vorgegangen werden muss, um zu Erfolgen und sozialen Veränderungen zu gelangen. Wenn sich direkte Aktionen ausschließlich gegen Herrschende richten und von ihren Durchsetzungsformen her gewaltlos bleiben, besteht die Chance, dass sich durch ihre massenhafte Anwendung die Freiheitsspielräume aller Individuen vergrößern, ohne neue Herrschaftsformen - vor allem militärischer Art - zu schaffen, die an die Stelle der alten treten. In einer freien Gesellschaft wird dagegen die direkte Aktion eher wieder zur Ausnahme, denn eine Gesellschaft weitgehend selbst organisierter, mündiger und selbstbestimmter Individuen wird es nicht mehr nötig haben, sich ständig gegen Herrschaft und Entmündigung zu verbünden.

Originaltext: www.graswurzel.net, gefunden auf www.linkslinxooe.at


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