Paul Goodman - Prüfstein für das anarchistische Programm (1945)
Das "politische" Programm der Anarchisten ist gewöhnlich negativ, da positive Güter durch andere Kräfte als durch (zwanghafte) politische Institutionen erreicht werden. Aber ein Programm der Opposition verändert sich mit der Art der Unterdrückung und Beschränkung. Anarchisten dürfen nicht in die Falle laufen, Kräfte zu vergeuden beim Opponieren gegen Zwänge, die die Autorität gar nicht mehr auferlegt, während sie die neuen Ausbeutungsmethoden übersehen.
Die Massenpresse und das Radio sind in den Demokratien Meister darin, freiheitlichen Wind aus den Segeln zu nehmen. Es gibt keine Worte und Handlungen, die dem Geschwätz der Massenmedien, selbst wenn es gut gemeint ist, standhalten könnten. Die industrielle Autorität übt mit der Technologie des Überflusses andere Formen der Unterdrückung aus, als sie unter der Technologie des Mangels üblich waren. In der Zeit des Mangels bestand das Hauptmittel des Profits für die Ausbeuter in der Drückung des Lebensstandards der Arbeiter auf das Existenzminimum; in der des Überflusses besteht das Problem manchmal mehr darin, einen künstlich "hohen" Lebensstandard, der die Lager räumen soll, zu bewältigen und zu kontrollieren. Dies ist wieder rein autoritärer Zwang, aber besonders mit psychologischen Mitteln ausgeübt: Werbung, Verziehung und Konsumterror. Im Ergebnis sind die Menschen, ohne es zu merken, mehr versklavt in ihrer Zeiteinteilung, ihrer Wahl, ihren Möglichkeiten zur Veränderung, ihrer Spontaneität und ihrer Kultur als in den dunklen Tagen des Mangels, als die Misere der Menschen unverdorben war und natürliche Reaktionen hervorrufen konnte. Ausgestattet mit einem Überfluß an Waren und Massenmedien der Fehlinformationen ist es für die Autorität möglich, alle Krisen zu polstern und die "Freiheit der Rede" einer kleinen, exzentrischen Presse zu erlauben (oder sie sogar als ungefährliches Ventil zu ermutigen).
Ich möchte eine Art Prüfstein für das richtige anarchistische Programm in einer Zeit wie der jetzigen vorschlagen, in der die körperschaftliche Integration von Ökonomie, Moral, Geschmack und Information der Gesellschaft so fest ist; einer Zeit, in der die Presse, die Filme etc., selbst Waren, den ansteigenden Konsum von Waren anheizen. Der Prüfstein ist dieser: Bezieht unser Programm eine große Zahl genau der Handlungen und Worte ein, für die Menschen in der Tat ins Gefängnis geworfen werden? Wir müssen auf Grundlage der Überzeugung weitermachen, daß die Zwangsgesellschaft sehr gut die Handlungen kennt, welche ihr gefährlich sind und welche nicht; Handlungen, die Zwangsmaßnahmen hervorrufen, haben anarchische Kraft; solche, die früher bestraft wurden, heute aber toleriert werden, haben diese Kraft verloren.
Das ist nicht neutral, sondern hat selbst zwanghafte Folgen. So wird jemand, der öffentlich über die Verhandlungsmacht der organisierten Arbeiter spricht, nicht mehr eingesperrt; im Gegenteil, er wird anerkannt. Aber er wird nicht deshalb anerkannt, weil die Organisationen der Arbeiter stark genug geworden wären, um ihre Duldung zu erzwingen (wenn dem so wäre, könnten sie viel mehr erzwingen). Vielmehr ist die Organisation der Arbeiter ein Mittel der sozialen Kontrolle geworden. Höhere Löhne sind ein Mittel des Profits - besonders dann, wenn durch Preisdiktat der öffentliche Markt ein einziges Warenhaus geworden ist; und es ist zunehmend bequem für die Gewerkschaften, sich selbst als einen Teilhaber an der allgemeinen Korporation von Produktion und Konsum zu sehen. Auf der anderen Seite wird jemand, der einen wilden Streik anzettelt, ins Gefängnis geworfen, nicht nur deshalb, weil seine Forderungen gefährlich für die Profite sind, sondern weil er das geordnete System, den legalen Prozeß, stört. (…)
Betreffs der "Verbrechen", die heute bestraft werden, muß ein freier Mensch sich selbst fragen: welche von ihnen sind jeder Gesellschaft entgegengesetzt, einschließlich einer natürlichen nicht-zwanghaften Gesellschaft, in der es zwar Disziplin gibt, die aber hier nicht stark und fest in (zweckrationaler) erfolgreicher Repression und offener Unterdrückung begründet ist? Welche "Verbrechen" auf der anderen Seite sind genau die Handlungen, die die gegenwärtige Zwangsstruktur unterminieren? Ich denke, daß die Liste der ersten Kategorie sehr kurz wäre - ein offensichtlicher Fall ist Mord. (...) Aber im Hinblick auf die zweite Kategorie könnten viele schöne Chancen für anarchistische Aktionen gefunden werden.
Wozu ich dränge ist nicht, daß der Anarchist sich genötigt sieht, solche "Verbrechen" zu begehen - ich denke übrigens auch nicht, daß unsere kleine Zahl die Gefängnisse unbequem überfüllen würde -; aber ich fordere dazu auf, daß der Anarchist seine "Disziplin" und seine Vorurteile gegen solche Handlungen abbaut; da die meisten von uns nicht vergegenwärtigen wie stark und tief die Zwangsbeziehungen, in die wir hineingeboren und in denen wir aufgezogen wurden, uns diszipliniert haben, eben diese Zwangsbeziehungen fortsetzen. Ist er aber zu seinem Urteil befreit, so muß der Anarchist mit Hinblick auf solche "Verbrechen" so handeln, wie er in überhaupt jedem Fall handeln sollte: wenn irgendetwas seiner Natur angemessen, wenn es richtig und notwendig für ihn selbst und seine Genossen im gegenwärtigen Augenblick ist, laßt es ihn tun ohne Schuldgefühle und mit Vergnügen. Laßt ihn die Zwangsfolgen mit natürlicher Vorsicht umgehen, aber nicht durch Hemmung und furchtsame Absage an das, was Sache ist; denn unsere Handlungen der Freiheit sind unsere stärkste Propaganda. Unglücklicherweise, wie die Leute so sind, ängstlich und empfindlich, mag die unmittelbare Folge von ausgeführter freier Kraft beunruhigend und manchmal katastrophal sein - z.B. das Schulmädchen, das sich umbringt, weil ihre Zimmergenossin mit ihrem Freund Sex hatte. Gewiß muß man den Sturm auf das geschorene Unschuldslamm zügeln, bis ihm das Fell nachwächst. Aber wir müssen auch die weitreichenden und universellen Folgen des Hasses, des Sadismus, der Gefühlskälte und der Furchtsamkeit bedenken, die durch unsere gegenwärtigen Wege produziert werden: wie der Junge, der immer "solch ein braver Junge" war, explodiert und seine Mutter und seinen Vater und vier Nachbarn erschießt. (…)
Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, nämlich zu der Notwendigkeit, das anarchistische Programm mit dem Wandel der Zwangsumstände zu verändern, möchte ich eine Kritik an dem fortgeführten Gebrauch eines der Lieblingsworte der anarchistischen Literatur anbringen, eine Kritik des Wortes "individuell" wie in "individueller Freiheit", "individuellem" Ausdruck etc. Tatsächlich ist es gegenwärtig das Ziel aller Agenturen der Propaganda, Unterhaltung und Erziehung, die Individualität so zu formen, daß ein Mensch seine persönliche Wahl so trifft, wie es objektiv der Zwangsvereinigung förderlich ist, von der er sich dann als Teil fühlt. Wegen ihres Gebrauches der Ausdrücke "freie Individualität", "individuelle Spontaneität", "individuelle Mitwirkung" hat das Gewäsch von Psychologen wie Fromm und Homey das Lob sogar eines hervorragenden Anarchisten wie Herbert Read erlangt. Aber es ist nicht schwer zu zeigen, daß diese Psychologie als Ziel die Zwiespältigkeit des Geistes in der perfektionierten Form des gegenwärtigen Gesellschaftssystems hat - mit seinen Monsterfabriken, seinen Stromlinienbefriedigungen und seinen entfernten repräsentativen Regierungen. Diese Art Subjektivismus ist eine Folge des Zwanges, ist Handeln im Unbewußten; sie ist nicht ein ursächliches Prinzip der Freiheit. Auf Rousseau zurückgehend laßt mich vorschlagen, das Wort "Individualität" durch "Natur" zu ersetzen. Natur meint solche Triebe und Kräfte, sowohl auf der tierischen als der menschlichen Ebene, die sich gegenwärtig trotz solcher Konventionen, die wir und unsere Freunde alle übereinstimmend als veraltet und nicht mehr "natürlich" bezeichnen, ausdrücken. Diese Triebe und Kräfte werden in einer freien Gesellschaft die Motoren der persönlichen Eigenart und gegenseitigen Hilfe sein.
Aus: Paul Goodman. Anarchistisches Manifest, Verlag Büchse der Pandora, Münster/Wetzlar 1978, S. 23-26; Neuabgedruckt in: Blankertz/Goodman: Staatlichkeitswahn, Verlag Büchse der Pandora, Wetzlar 1980)
Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at