April Carter - Gewaltfreie Aktionen gegen den Staat (1963)
Aktionen gegen die Regierungsmaschinerie sind wegen ihrer revolutionären Auswirkungen die letzte und extremste Form der gewaltfreien direkten Aktion; sie bedeuten eine umfassende Opposition gegen das gesamte Regime. Sie können von Einzelpersonen aus Gewissensgründen ebenso wie als Teil einer Massenbewegung durchgeführt werden; sie können aufgrund ihres Charakters jedoch niemals mehr als eine Geste des Protests sein, wenn sie nicht von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt werden.
Darüberhinaus kann es taktisch unklug sein, diese Methoden zu früh einzuführen, da den meisten Menschen daran gelegen sein dürfte, die gewohnten Institutionen beizubehalten. Dieser Vorbehalt gilt in besonderem Maße für Kampagnen in relativ demokratischen Gesellschaften (…)
Opposition gegen den Staat erstreckt sich auf fünf Aktionsbereiche: Entzug des staatlichen Steuereinkommens; Entzug der Mitarbeit in den politischen, rechtlichen und kulturellen Institutionen des Staates und Arbeitsverweigerung für Regierungsinstitutionen; massenhafter ziviler Ungehorsam und Generalstreik. Jede dieser Aktionsformen ist imstande, die Regierung zu stürzen, falls sie von genügend vielen Menschen getragen und unterstützt wird. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist ein anerkannter Bestandteil der pazifistischen Tradition und gilt im allgemeinen als rein persönliche Angelegenheit, obwohl ihre logische Weiterentwicklung darauf hinausläuft, die Streitkräfte zur Meuterei anzustiften und auf diese Weise einem Staat seine Armee zu nehmen. Da die Streitkräfte nach wie vor die Hauptstütze der Staatlichkeit und im äußersten Fall auch die Richter über Recht und Ordnung sind, ist die Weigerung, sich in die Armee einberufen zu lassen, ein im wesentlichen revolutionärer Akt. (…)
Die Weigerung, Steuern für einen bestimmten Zweck zu bezahlen, ist, auch wenn sie sich nur gegen einen einzelnen Aspekt der Politik richtet, eine potentielle Mißachtung der gesamten Regierungsmaschinerie, da jeder Staat auf seine Steuereinnahmen angewiesen ist. Je effektiver der Staat seine Steuern eintreibt, desto revolutionärer wird die Waffe der Steuerverweigerung. (...)
Die politische NichtZusammenarbeit erstreckt sich auf einen großen Bereich. Sie umfaßt den Verzicht auf Ehrentitel und -ämter; die Weigerung, in Regierungsinstitutionen zu arbeiten; den Boykott von Verwaltungsgremien und -beamten; den Boykott von Gerichten, Schulen, Universitäten; den Boykott von offiziellen Jugendorganisationen, Berufsfachverbänden und von religiösen, kulturellen oder sportlichen Vereinigungen.
Zu dieser Form von NichtZusammenarbeit ist es im Indischen Unabhängigkeitskampf mehrmals gekommen. Auch gegen tyrannische Regimes kann sie ein sehr machtvolles Widerstandsmittel sein. So widersetzten sich die norwegischen Lehrer erfolgreich den Versuchen des Quisling-Regimes, eine totalitäre Ideologie in den Schulen einzuführen, indem sie sich weigerten, dem faschistischen Lehrerverband beizutreten oder Erlassen zu folgen, die den Inhalt von Unterrichtsstunden vorschrieben. Damit versetzten sie Quislings Plänen, einen totalitären Staat nach dem Muster Mussolinis zu schaffen, einen schweren Rückschlag. Auch Studenten, Journalisten und Pfarrer weigerten sich, faschistischen Organisationen beizutreten oder Erlassen zu folgen, die in ihre berufliche Tätigkeit eingriffen. (…)
Revolutionärer ziviler Ungehorsam richtet sich nicht gegen bestimmte Ungerechtigkeiten oder gegen einzelne ungerechte Gesetze, sondern zielt auf den Sturz des ganzen Regimes ab und kann auch die Übertretung von solchen Gesetzen beinhalten, die für sich genommen nicht sonderlich unterdrückerisch sind. Auf dieser Stufe der Kampagne wird das Regime selbst für so ungerecht und autokratisch gehalten, daß alle Gesetze, die zu seiner Stützung beitragen, zu gerechtfertigten "Angriffs"-Zielen werden. Das Ziel besteht darin, die Regierung soweit wie möglich in Verlegenheit und ihre Arbeit zum Stillstand zu bringen. Eine solche Kampagne könnte aber nur mit der massenhaften Unterstützung der Bevölkerung und in einer Zeit hoher politischer Spannung im Lande gestartet werden. (…)
Auch massenhafte physische Intervention kann zur Erzeugung einer revolutionären Situation oder zum Widerstand gegen ein ganzes Regime eingesetzt werden. 1953 besetzten Aufständische in der DDR die Polizeistationen und die Büros des Staatssicherheitsdienstes und brachten sämtliche Waffen, derer sie habhaft werden konnten, unter Verschluß. Während des Aufstandes in Ungarn legten sich Frauen vor russische Panzer. Physische Interventionshandlungen können auch die Blockierung von Straßen und Eisenbahnen und die Besetzung von Radiostationen und Regierungsgebäuden einschließen.
Mit dem Generalstreik weiten sich Streikaktionen zu Aktionen gegen den Staat aus, da sie die vollständige Lähmung des Wirtschaftslebens und der sozialen Dienstleistungen eines Landes beinhalten. Generalstreiks sind u.a. zur Verhinderung von Kriegen ausgerufen worden, so etwa 1917 in Argentinien. Die Drohung mit einem Generalstreik reichte aus, um Lloyd George daran zu hindern, 1920 den Russen den Krieg zu erklären. Er ist auch eingesetzt worden, um eine bestehende Regierung zu stützen und einen Staatsstreich zu verhindern wie beispielsweise beim Kapp-Putsch in Deutschland 1920; er ist ebenso zum Sturz von diktatorischen Regimes eingesetzt worden wie etwa in Ungarn 1956, als nach dem Scheitern des bewaffneten Aufstandes ein Generalstreik ausgerufen wurde. Er kann aber auch zur Durchsetzung unverhüllt wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden, wie etwa der Generalstreik von 1926 in Großbritannien.
Ob unverhüllt revolutionär oder nicht - jeder Generalstreik kann revolutionären Charakter annehmen, zum einen wegen der durch ihn ausgelösten Zerrüttung, zum anderen deshalb, weil das Bestreben zur Milderung dieser Zerrüttung die Tendenz erzeugt, alternative Dienstleistungen durch die Streikenden selbst zu schaffen. In seiner Studie The General Strike schreibt WH. Crook über den britischen Generalstreik von 1926:
"Der Generalrat hatte offenbar beabsichtigt, daß die Arbeiter selbst die Verteilung der Lebensmittel und der absolut notwendigen Dinge weiterführen, wenn nicht sogar in eigener Regie organisieren sollten. (...) Die Regierung hatte durch Herrn Churchill erklären lassen, daß sie sich absolut weigern werde, 'mit einer rivalisierenden Regierung eine Partnerschaft anzuknüpfen'." (...)
Dieses Zitat illustriert einen der wichtigsten Aspekte von Aktionen gegen den Staat - den des "konstruktiven Programms". Abgesehen von der praktischen Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung bestimmter Dienstleistungen existiert auch ein starkes psychisches Bedürfnis, für abgelehnte oder abgeschaffte Institutionen einen Ersatz zu schaffen. Im Widerstand gegen Staatsstreiche haben die Widerständler u.U. die Möglichkeit, an ihren traditionellen Institutionen festzuhalten und die vom Putsch-Regime angebotenen Ersatzeinrichtungen zu ignorieren; wo aber ein fest im Sattel sitzendes Regime bekämpft wird, müssen neue Institutionen geschaffen werden, um das vom Zusammenbruch der alten Institutionen hinterlassene Vakuum auszufüllen.
Handelt es sich nicht um ein tyrannisches Regime und richtet sich die Kampagne nur gegen einen bestimmten Aspekt seiner Politik, kann es nahezu unmöglich sein, die Widerständler zur Praktizierung von Methoden zu überreden, die eine Opposition gegen den bestehenden Verfassungsrahmen der Gesellschaft bedeuten.
Im Widerstand gegen eine Invasion von außen könnte die Fraternisierung mit den feindlichen Truppen einen wichtigen Aspekt des konstruktiven Programms ausmachen. Selbst wo der Widerstand sich nicht gewaltfreien Prinzipien verpflichtet fühlte, hat es Beispiele dafür gegeben, daß sich Soldaten geweigert haben, auf Widerständler zu schießen oder anderweitig zu unterdrücken. Während des Volksaufstandes von 1953 in der DDR wurden 17 sowjetische Offiziere und gewöhnliche Soldaten wegen ihrer Weigerung, Vergeltungsmaßnahmen gegen Aufständische durchzuführen, hingerichtet. In Ungarn mußten 1956 die ursprünglichen Invasionstruppen gegen neue ausgetauscht werden, weil sie zuviel Sympathie für die Aufständischen entwickelt hatten.
Aus: April Carter, Direkte Akion. Leitfaden für den gewaltfreien Widerstand, Reihe Konstruktiv 1, AHDE-Verlae Berlin 1983 (3. Aufl.), S. 50-57
Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at