Christian Fuchs - Anarchie und Selbstorganisation. Über die Möglichkeiten der Selbstorganisation einer herrschaftsfreien Gesellschaft

Der vorliegende Text stellt einen kurzen Auszug aus dem neuen Buch des Autors dar: Christian Fuchs (2001) - Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen. Norderstedt. Libri Books on Demand. 246 Seiten.

Die Gesellschaft, in der wir leben, befindet sich heute in einem dauerhaften Krisenzustand: ökonomische und ökologische Krisen, Verschärfung der globalen Probleme, Massenarmut und -arbeitslosigkeit, Prekärisierung der Lebensverhältnisse weiter Teile der Weltbevölkerung, Rassismus, Nationalismus, Kriege, nationalistische Demagogie, Stagnierung der Löhne etc. Gleichzeitig wird von den unkritischen und fortschrittsoptimistischen Apologeten des Kapitalismus in Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur von den Chancen der "New Economy" gesprochen, von den Vorteilen flexibler Arbeitsverhältnisse und der "Internetgesellschaft" gesprochen. Kritisches Denken ist heute nicht unbedingt in Mode, obwohl oder gerade da die soziale Situation der Menschen sich permanent verschärft. Ist all dies aber Anlaß genug, um in einen Kulturpessimismus zu verfallen und vom baldigen Ende der Menschheit auszugehen? Keineswegs. Die Welt kann bleiben wie sie ist, dann sind solche Befürchtungen nicht unrealistisch. Das kapitalistische Weltsystem befindet sich in einer Entwicklung, die die Herrschaft über Menschen und die Zerstörung der Natur konsequent vorantreibt.

Die Welt darf allerdings nicht bleiben, wie sie ist. Nur die Etablierung einer qualitativ anderen Gesellschaft wäre die Basis für die Lösung der globalen Probleme. Dazu bedarf es aber dem aktiven gesellschaftstransformierenden und emanzipatorischen Handeln des Menschen. Welche Rolle kann dabei die Gesellschaftstheorie und -kritik einnehmen? Ein kritisches praktisches Handeln muß wissen, worauf es sich bezieht, was es verändern will und wogegen bzw. wohin eine Aufhebungsbewegung stattfinden soll. Eine kritische Theorie der Gesellschaft kann dabei die Rolle spielen, bestehende Verhältnisse und die Möglichkeit deren Veränderung zu verdeutlichen. Was sie nicht kann und nicht soll, ist den Menschen vorzugeben, wie ein alternativer Gesellschaftsentwurf auszusehen hat. Denn eine Transformations- und Aufhebungsbewegung in Richtung einer anderen Gesellschaft kann nur eine von unten sein. Was Kritische Theorie leisten kann, ist das Bewußtmachen der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift ist. Sie umfaßt immer auch die Anregung zur Phantasie, denn als Einbildungskraft bezeichnet diese "einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandenen kann sie die Zukunft vorwegnehmen" (Marcuse 1937, S. 122).

Das aktive selbstorganisierte Handeln der Menschen ist also von grundsätzlicher Bedeutung. Und hier kommt nun ein neues wissenschaftliches Paradigma ins Spiel: Die Theorie der Selbstorganisation. Dieser interdisziplinäre Ansatz kann emanzipatorisch gefaßt die Möglichkeiten gesellschaftskritischen Handelns näher analysieren sowie Grenzen und Perspektiven verdeutlichen. Ziel der Arbeit "Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus" ist, eine kritische Bestandsaufnahme des postfordistischen Kapitalismus zu geben und Möglichkeiten von emanzipatorischer sozialer Selbstorganisation heute und in anderen Gesellschaftsformationen (als potentiellen Zukünften) zu verdeutlichen.

Anarchie - Demokratie - Selbstorganisation

Im Anarchismus wird eine Vorstellung von Demokratie als Repräsentativdemokratie abgelehnt, da dies die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit bedeute, also die Herrschaft von gewählten RepräsentantInnen, die im Parlament Entscheidungen treffen, über das Volk. Nichtsdestotrotz gibt es Ansätze, die Anarchie als Demokratie begreifen. Demokratie nicht im Sinne einer Repräsentationsherrschaft, sondern im Sinn einer unmittelbaren, direkten Selbstbestimmung von Entscheidungen durch die Betroffenen. Die bürgerliche Demokratie koppelt dazu im Gegensatz stehend Entscheidung von den Betroffenen ab.

"Demokratie" kommt von den Wörter "demos" (Volk) und "kratein" (herrschen, Macht ausüben) und bedeutet damit eigentlich "Volksherrschaft". Herrschaft wird aber über jemanden ausgeübt. Damit wären eine Vereinbarung von Demokratie und Selbstorganisation also geradezu ausgeschlossen. Wird allerdings Demokratie als die Möglichkeit und Macht des Volkes, sämtliche Entscheidungen selbst zu treffen, gesehen oder als "Volks-Selbstbestimmung" (Burnicki 1998, S. 9), so kann Anarchie sehr wohl als direkte Form der Demokratie bezeichnet werden. "Direkte Demokratie meint also die unmittelbare 'Volk'-Selbstbestimmung. [...] [Das Volk] sind alle Leute, die von einer Politik betroffen sind, egal, welche Sprache, Religion, Hautfarbe oder Ohrengröße sie haben. [...] Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit. Die Umsetzung von Herrschaftslosigkeit bedeutet Direktdemokratie. Das, was Anarchie beinhaltet, ihr Gegenstand also, ist Direktdemokratie. Direktdemokratie bedeutet, daß sich die Menschen - ohne Eliten zu bilden - selbst organisieren" (Burnicki 1998, S. 9f). Damit ist der Zusammenhang Anarchismus - Demokratie - Selbstorganisation hergestellt, es bedarf aber noch einer genaueren Untersuchung, inwiefern dieses Verständnis von Selbstorganisation mit einem Konzept sozialer Selbstorganisation vereinbar ist.

Im Gegensatz zu einem unreflektierten und undialektischen Verständnis von Demokratie, das die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem gewisser Begriffe vernachlässigt, erscheint die anarchistische Philosophie bei näherer Analyse als eine eigenständige Konzeption von Demokratie. Unterschiedliche anarchistische Ansätze wie Mutualismus, Individualanarchismus, kommunistischer Anarchismus, libertärer Kommunalismus und Anarchosyndikalismus vereint ein Verständnis, das sich gegen jede Form der Herrschaft wendet. Insbesondere wird in Frage gestellt, daß es einer staatlichen Autorität bedarf, um Entscheidungen verantwortungsvoll zu treffen. Der Staat wird als eine Instanz gesehen, die die kapitalistische Gesellschaft durch Gewalt, Repression und Zwang aufrechterhält. Dazu ist die staatliche Autorität und die Zurechtweisung der BürgerInnen durch Gesetze notwendig. Das Menschenbild des Anarchismus ist eines, das davon ausgeht, daß die Menschen bei Aufhebung der bestehenden kapitalistischen Widersprüche die Kompetenz erlangen können, Entscheidungen verantwortlich zu treffen und ein hohes Maß an Solidarität, Altruismus, Kooperation und Gemeinsinn zu zeigen. Dazu sind partizipatorische Strukturen notwendig, die den Menschen ein hohes Maß an Autonomie ermöglichen und ihnen die Möglichkeit geben, an allen Entscheidungen, die sie betreffen, teilzunehmen. Die entsprechenden in Betracht gezogenen Organisationsformen sind zumeist Rätemodelle auf der Basis von Versammlungen von Betroffenen.

Unter sozialen Informationen können wir allgemein Strukturen verstehen, die aus dem Zusammenwirken mehrerer Individuen emergieren. Emergenz heißt dabei, daß eine Einzelperson die entsprechende Struktur nicht etablieren könnte und daher mit anderen zusammenwirken muß. Als eine Art sozialer Information können Gesetze gesehen werden. Der Anarchismus wendet sich gegen Gesetze, da er sie als staatliche Mittel zur Entmächtigung, Beherrschung und Disziplinierung der Individuen begreift. Peter Kropotkin (1985) beschrieb in diesem Zusammenhang Gesetze als modernen Fetisch. Die meisten Menschen können sich demnach ein Zusammenleben ohne Gesetze nicht vorstellen, die Ermöglichung des gesellschaftlichen Umgangs wird Gesetzen zugeschrieben. Der tatsächliche Zweck der Gesetze ist jedoch der Schutz von Privateigentum und Kapitalismus.

Wenn AnarchistInnen sich gegen Gesetze aussprechen, was sind dann die sozialen Informationen der Gesellschaft, die sie sich vorstellen? Es wird davon ausgegangen, daß im Anarchismus Entscheidungen getroffen werden können, mit denen die Menschen leben können, da sie selbst an der Ausarbeitung als Betroffene teilgenommen haben. Nichtsdestotrotz gibt es in jeder Form der Gesellschaft soziale Normen und Werte. Der Anarchismus geht davon aus, daß diese Normen und Werte darin bestehen, daß die Menschen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft verantwortungsvoll, solidarisch und altruistisch handeln und daß sie die Eigennutzenmaximierung zu Gunsten der Berücksichtigung allgemeiner Interessen aufgeben. Durch eine Sozialisierung in einem gesellschaftlichen System, das auf Werten wie Kooperation, Solidarität und Altruismus an Stelle von Konkurrenz, Eigennutzenmaximierung und Egoismus basiert, kann dies sehr wohl möglich sein. So etwas ist aber für viele Menschen unter den bestehen Verhältnissen nur schwer vorstellbar, da im Kapitalismus alle gesellschaftlichen Bereiche dem Konkurrenzprinzip unterworfen sind. Soziale Informationen im Anarchismus sind also Entscheidungen und Werte wie Solidarität, Kooperation, Altruismus, Verantwortung und Selbstbestimmung.

Wie sieht es nun mit dem Selbstorganisationsgrad anarchistischer Entscheidungsstrukturen aus? Unter sozialer Selbstorganisation wird verstanden, daß Individuen, die von Strukturen betroffen sind, Eintreten, Form, Verlauf und Ergebnis des Prozesses der Strukturetablierung selbst bestimmen und gestalten können, indem sie durch Wechselwirkungen auf der Mikroebene Strukturen auf der Makroebene hervorbringen. Wir können von einem mangelnden Selbstorganisationscharakter repräsentativdemokratischer Modelle ausgehen; des weiteren ist direktdemokratischen Strukturen - wie sie auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht sind - , bei denen die Entscheidungsausarbeitung von den Betroffenen entkoppelt wird, die Gefahr eines Übergangs zu plebiszitären Modellen immanent, bei denen jegliche Selbstorganisation erlischt und durch Führungspersonen verunmöglicht wird. So war beispielsweise das Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus an Vorstellungen eines plebiszitären Führersystems angelehnt.

Der Anarchismus koppelt die Entscheidungsfindung unmittelbar und relativ vollständig an die Betroffenen. JedeR soll dieselbe Möglichkeit haben, Entscheidungen, die ihn/sie betreffen, mitzugestalten. Staatskritik wird dabei immer auch als Parlamentarismuskritik verstanden, da in einem derartigen politischen System den Menschen die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, abgesprochen werde, um die Beherrschung einer Mehrheit durch eine Minderheit (vgl. z.B. Bakunin 1995, S. 118; Bakunin 1999, S. 130f) aufrechtzuerhalten. Moderne Staatswesen können daher kaum als Demokratien im Sinn der unmittelbaren Volksselbstbestimmung in allen gesellschaftlichen Belangen aufgefaßt werden, sondern vielmehr als oligarchische Systeme. AnarchistInnen wie Murray Bookchin sehen den Anarchismus als die Form tatsächlicher Demokratie, da es hier keine Entmächtigung des Volkes durch die Wahl von RepräsentantInnen und die Entkopplung der Entscheidungsfindung von den Menschen, die mit den einmal getroffenen Entscheidungen leben müssen, gäbe (vgl. z.B. Bookchin 1992, 1996). Anarchistische Entscheidungsmodelle entsprechen daher der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation besser als die modernen Staatswesen, die auf repräsentativ- und in eingeschränktem Ausmaß auf direktdemokratischen Mechanismen beruhen. Es gilt in der anarchistischen Theorie geradezu als wesentliches Ideal, daß Betroffene kooperieren, um durch Wechselwirkungen Entscheidungen, die einen basisdemokratischen Rückhalt haben, hervorzubringen. Und dies ist auch der Inbegriff sozialer Selbstorganisation.

Exklusvie soziale Informationen werden in einem sozialen System etabliert, in dem es soziale Hierarchien gibt. Dabei üben Teilsysteme, die in der Hierarchie weiter oben stehen, Herrschaft über weiter unten stehende Teilsysteme aus. Außerdem zeichnet sich diese Hierarchie durch eine asymmetrische Machtverteilung aus. In einem solchen hierarchischen sozialen System entstehen häufig Entscheidungen dadurch, daß sie von mächtigeren Teilsystemen getroffen werden, indem sie die Vorteile, die sie dadurch besitzen (z.B. bessere Verfügbarkeit von notwendigen Ressourcen, Informationen, usw.), nutzen. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen bezeichnen wir als exklusive soziale Informationen; die sozialen Informationen in Gesetzesform, die unsere moderne Gesellschaft wesentlich prägen, sind exklusiv, da sie von einer Minderheit, die sich alle paar Jahre durch Wahlen legitimieren läßt und sich dadurch auch verändern kann, unter dem Ausschluß der Mehrheit getroffen werden. Gesetze stellen also grundsätzlich immer eine Form der exklusiven sozialen Information dar und sind daher den sozialen Selbstorganisationspotenzen der Menschheit entgegengesetzt.

Der Anarchismus wendet sich gegen Herrschaft, Hierarchien und asymmetrische Machtverteilungen. Es ist daher naheliegend, daß es ihm um die Eliminierung der Dominanz exklusiver sozialer Informationen geht. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Vorstellungen über anarchistische Entscheidungsprozesse tatsächlich durch inklusive soziale Informationen geprägt sind. Als inklusive soziale Informationen sehen wir soziale Informationsstrukturen, die sich dadurch auszeichnen, daß alle Elemente eines sozialen Systems, die von der Anwendung der entstehenden sozialen Information betroffen sind, diese durch Wechselwirkungen gemeinsam hervorbringen und daß jedes Individuum dieselben Möglichkeiten und Mittel hat, um die entstehende Informationsstruktur in seinem eigenen Sinn zu beeinflussen. Dem Anarchismus geht es um die unmittelbare Entscheidungsfindung durch Betroffene unter Abwesenheit von Autorität, Herrschaft und Hierarchie. Die Abwesenheit solcher Strukturen, Verhältnisse und Prozesse kann als Annäherung an eine Symmetrisierung der Machtverhältnisse gesehen werden. Symmetrische Macht bedeutet, daß jedeR Betroffene dieselben Möglichkeiten und Ressourcen besitzt, entsprechende Entscheidungen im eigenen Sinn zu beeinflussen. Partizipatorische Basisdemokratie, alle Betroffenen entscheiden alles, das sie betrifft - so könnte ein Ideal des Anarchismus formuliert werden. Und dieses Ideal kommt der Vorstellung der Etablierung inklusiver sozialer Information durch Prozesse der sozialen Selbstorganisation sehr nahe.

Es kann gesagt werden, daß der Anarchismus i.A. von kleinen organisatorischen Einheiten ausgeht, in denen basisdemokratische Entscheidungen getroffen werden. Dabei ist es eine Streitfrage, ob ein Konsens erzielt werden sollte oder ob Mehrheitsabstimmungen über Entwürfe, an deren Ausarbeitung alle Betroffenen beteiligt waren, stattfinden sollten. Mehrheitsbeschlüsse erhöhen den Exklusionsgrad demokratischer Prozesse, da der Mehrheitswille verbindlich gilt und der Wille der Minderheit unberücksichtigt bleibt. Der Selbstorganisationsgrad sinkt dadurch also und soziale Informationen, die in dem Sinn inklusiv sind, daß jedeR dieselbe Möglichkeit der Gestaltung und Mitbestimmung hat, bekommen einen zusätzlichen, nämlich exklusiven Charakter. In einer anarchistischen Entscheidungsstruktur mit Mehrheitsprinzip haben Entscheidungen einen inklusiv-exklusiven Charakter: Die Exklusion besteht im Mehrheitsprinzip, die Inklusion in dem hohen Maß der Beteiligung aller Betroffenen. Konsensentscheidungen wären also die Idealform, um inklusive soziale Informationen zu etablieren.

Allerdings müssen auch jene Einwände gegen das Konsensprinzip beachtet werden, die Murray Bookchin und andere einbringen (vgl. z.B. Bookchin 1994): Es kann nicht von homogenen Interessen und Meinungen ausgegangen werden, daher werden mehrheitsfähige Meinungen Minderheitenpositionen möglicherweise unterdrücken oder jene, die sich der Mehrheit nicht anschließen wollen, aus dem Entscheidungsprozeß hinausdrängen. Dann entsteht ein formaler Konsens, eine formelle inklusive soziale Information, die jedoch in dem Sinn wiederum exklusiv ist, daß der Konsens nur ein Konsens der Mehrheit ist, die sich gegen Minderheiten wendet.

Es kann wohl keine allgemeine Empfehlung für die Anwendung von Konsens- oder Mehrheitsprinzip von AnarchistInnen gegeben werden, da dies eine praktische Frage ist, die einzig von Gruppen, die einen basisdemokratischen Anspruch haben, in konkreten Situationen gelöst werden kann. Sehr wohl aber meinen die meisten AnarchistInnen, daß ein Konsens darüber erreicht werden sollte, ob in einer konkreten Entscheidungssituation das Konsens- oder das Mehrheitsprinzip anzuwenden ist. Ansonsten entsteht nämlich sehr leicht Handlungsunfähigkeit.

Charakteristisch für Rätemodelle, auf die sich der Anarchismus häufig bezieht, sind föderalistische Vorstellungen, nach denen Entscheidungen, die nicht nur eine Organisationseinheit betreffen, sondern mehrere, in der Form von Föderationsräten behandelt werden sollten. Im allgemeinen wird in der Demokratietheorie davon ausgegangen, daß direkt- und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen in großen Organisationsstrukturen schwierig sind und für kleinere organisatorische Einheiten geeignet sind. Im Fall von Versammlungsmodellen scheitert ein Rat, in dem alle Betroffenen direkt miteinander diskutieren, spätestens dann, wenn es zu viele Menschen sind, die eine Entscheidung miteinander gestalten wollen. Zehntausende können nicht auf demokratische Weise in einer Versammlung direkt miteinander kommunizieren. Daher sind Föderationsmodelle für den Anarchismus naheliegend.

Nach anarchistischen Vorstellungen sind in Föderationsräten Delegierte der unterhalb der Föderation liegenden organisatorischen Einheiten vertreten. Die unterschiedliche Gestaltungsweise dieser Räte hat Einfluß auf den Inklusions- und Exklusionsgrad der entstehenden sozialen Informationen. Eine wesentliche Frage besteht darin, ob Delegierte entscheidungsbefugt sind oder ob sie als reine kommunikative Schnittstellen betrachtet werden. Viele Rätemodelle gehen davon aus, daß Delegierte von ihrer Basis gewählt werden sollen und jederzeit von ihr abberufen werden können. Damit ist die Vorstellung verbunden, daß diese Delegierten im eigenen Ermessen in Föderationsräten entscheiden. Es entsteht damit aber die Gefahr der Loslösung von Entscheidungen von ihrer Basis. Insbesondere ist dies problematisch, wenn es mehrere Föderationsstufen gibt und dieselben Delegierten die Möglichkeit haben, in mehreren Stufen vertreten zu sein und unabhängig von ihrer Basis Entscheidungen zu treffen. Es kann dann sehr leicht, so eine häufig lautende anarchistische Kritik, zur Ausbildung von Hierarchien und asymmetrischer Machtverteilung kommen. Ist dies der Fall, so werden der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad der in den Föderationsräten entstehenden sozialen Informationen deutlich abgeschwächt. Entscheidungen, die in Föderationsräten entstehen, betreffen viele Menschen. Im beschriebenen Fall, hat aber nicht mehr jedeR dieselbe Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen. Delegierte haben dann mehr Macht als ihre Basis.

Wiederum anders zu betrachten ist ein horizontales Modell, das davon ausgeht, daß Delegierte keinen Spielraum zur selbständigen Entscheidung bekommen sollten, sondern Kommunikationsschnittstellen zwischen organisatorischen Einheiten oder Interessensgruppen darstellen. Soll eine Entscheidung getroffen werden, so treffen Delegierte aller Einheiten und Interessensgruppen, die davon betroffen sind, zusammen und diskutieren das Problem. Sie können allerdings keine Entscheidungen treffen, müssen also wiederum Rücksprache mit ihren Basen halten, deren Meinung sich durch den übergreifenden Diskussionsprozeß möglicherweise geändert hat. Die Delegierten vertreten die Interessen ihrer Basis in Diskussionen mit anderen Gruppen und sind Kommunikationsschnittstellen zwischen ihrer Basis und den Menschen, die sich in anderen Gruppen und Einheiten organisieren.

Der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad des horizontalen ist im Vergleich zum hierarchischen Rätemodell höher, da die Delegierten darin nicht eine Kompetenz erlangen, die es erlaubt, Entscheidungen von ihrer Basis loszulösen. Denkbar ist es z.B., daß in derartigen Föderationsräten sehr wohl ein Konsens hergestellt werden kann, indem die Delegierten im Auftrag ihrer jeweiligen Basis miteinander diskutieren und die Interessen und Meinungen ihrer jeweiligen Basis darlegen. Auch Mehrheitsentscheide in der Form von Wahlen, bei denen die Stimmen einzelner organisatorischer Einheiten gewichtet werden, um Machtasymmetrien auf Grund verschiedener Größen der Einheiten zu minimieren, sind vorstellbar. Eine weitere Möglichkeit sind Mehrheitsentscheidungen, bei denen die Delegierten des Föderationsrates im Auftrag ihrer jeweiligen Basis abstimmen. Dabei muß zuerst eine eindeutige Festlegung der Basis erfolgen, was bei einer Abstimmung, an der alle Betroffenen direkt beteiligt sind, nicht der Fall ist. Es muß jedoch gesagt werden, daß auch derartige Mehrheitsentscheide auf föderaler Basis den Inklusions- und Selbstorganisationscharakter der entstehenden sozialen Informationen schwächen.

Allgemein kann festgehalten werden, daß anarchistische Entscheidungsmodelle, die sich durch Dezentralität, Basisdemokratie, kleinere organisatorische Einheiten, Rätemodelle, den Föderationsgedanken und die Selbstbestimmung Betroffener charakterisieren lassen, der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation näher kommen als etablierte repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid, Volksbegehren, Volksinitiative usw.) Modelle und Elemente, da sie die Etablierung inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, daß Betroffene die Entscheidungsprozesse, als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen entstehen, selbst bestimmen und gestalten können und daß sie unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Fähigkeiten entwickeln können, dies in der Praxis durchzuführen. Es wird von anarchistischer Seite argumentiert, daß der bestehende Gesetzes- und Staatsfetisch sowie die kapitalistischen Verhältnisse dazu beitragen, daß unter den herrschenden Bedingungen eine radikale Basisdemokratie, wie sie der Anarchismus befürwortet, für die Menschen nur schwer vorstellbar ist.

Der Selbstorganisationscharakter von Repräsentativmodellen ist gering, da Entscheidungen, von den Menschen, die von den resultierenden (exklusiven) sozialen Informationen betroffen sind, entkoppelt werden. Moderne direktdemokratische Vorstellungen, die sich auf große Staatswesen beziehen, tragen die Gefahr in sich, daß damit autoritäre und plebiszitäre Elemente transportiert werden. Die Geschichte hat gezeigt, daß Systeme mit Führungsfiguren und plebiszitären Entscheidungsstrukturen zum Erlöschen jedes Selbstorganisationscharakters führen. Der Selbstorganisationsgrad von direktdemokratischen Mechanismen kann i.A. höher eingestuft als jener von repräsentativdemokratischen. Dieser Selbstorganisationsgrad ist aber noch immer ein sehr eingeschränkter, der vielfältigen Limitierungen und Exklusionen unterliegt. Anarchistische Entscheidungsmodelle können als eine Alternative zum bestehenden Mangel an inklusiver sozialer Information betrachtet werden, sie betonen die soziale Selbstorganisation und können als eine Form partizipatorischer Basisdemokratie betrachtet werden.

Christian Fuchs

Literatur:


Aus: Schwarzer Faden, Nr. 72, (2/2001, S. 46-50)

Originaltext: http://cartoon.iguw.tuwien.ac.at/christian/anaso.html


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