Giora Manor - Kibbuz und Anarchismus in Israel
Der folgende Aufsatz erschien in der Wochenbeilage der israelischen Tages-Zeitung "AI Hamischmar". Das Motto des Verfassers lautet: "Bedeutet der Kibbuz eine Verwirklichung der Träume von Proudhon und dem Fürsten Kropotkin? - Was ist der Unterschied zwischen Anarchismus und Anarchie? - Ist die Losung der 'Selbstverwirklichung' der anarchistische Weg zum Sozialismus?" Mirjam Michaelis, die Übersetzerin
In Israel bedeutet das Hissen der schwarzen Fahne auf dem Wasserturm eines Kibbuz übereinkunftsgemäß: heute ist das Meer stürmisch; der Lebensretter am Strand hat seine Bude geschlossen, und das Baden ist verboten. Jeder weiß, daß er an einem solchen Tage auf einen Ausflug an die Küste verzichten muß. Jedoch symbolisierte die schwarze Fahne im Laufe von mehr als hundert Jahren einen Sturm ganz anderer Art, einen Sturm, welcher auf politischem Gebiete und in der Arbeiterbewegung die Wellen zu gefährlichen Höhen peitschte: die schwarze Fahne ist das Symbol der anarchistischen Bewegung.
Heutzutage erweckt der Begriff Anarchismus Entsetzen, und der Anarchist erscheint in der Phantasie vieler als eine Gestalt im schwarzen Mantel, den Hut tief über die Augen gedrückt; in seiner Hand hält er eine schwelende Bombe und steht im Begriff, sie auf die Repräsentanten des ihm verhaßten, tyrannischen Regimes zu schleudern, um sie zu töten. Damit will er eine "Tatpropaganda" vollziehen, bei welcher auch eine Anzahl zufälliger Passanten ums Leben kommt, was den Effekt nur verstärkt.
Vom historischen Standpunkt aus ist dieses Vorstellungsbild vom Terror und Vandalismus berechtigt, wenn auch die anarchistische Bewegung als staatswissenschaftliche Theorie begann, deren ganzes Streben die Beseitigung der Gewalttätigkeit war, die Vernichtung der Unterdrückung eines Menschen durch den anderen und die Schaffung einer Gesellschaft, die frei von Zwang ist, von Ausbeutung, von Unrecht. Es war eine utopische Bewegung, die nach Harmonie strebte, nach einem friedlichen Ausweg aus den Leiden der Menschheit.
Der Schreiber dieser Zeilen ist der Meinung, daß der Kibbuz und die Anschauungen, die ihm zugrunde liegen, in Wirklichkeit ein Ausdruck jener Ideen sind, welche die Anarchisten schufen: der Engländer William Godwin, der Franzose Pierre-Joseph Proudhon und die ihnen folgenden Ideologen, der russische Fürst Kropotkin und der deutsch-jüdische Schriftsteller Gustav Landauer. Seiner Ansicht nach stehen die Grundsätze des Kibbuz und die Wege zu ihrer Verwirklichung im Gegensatz zum marxistischen Gedankengut, welches gewöhnlich als die ideologische Grundlage der Kibbuzbewegung dargestellt wird; gerade auf der Basis der anarchistischen Ideologie ist die Entwicklung der Kibbuzbewegung und ihr Erfolg zu verstehen.
Um diese Auffassung zu beweisen, ist es notwendig, zuerst die Entwicklung des Anarchismus darzulegen, die Schale der Absonderlichkeit, welche ihm in der letzten Generation anhaftet, zu entfernen und den Kerngedanken zu enthüllen. Ich nehme an, daß sich viele gegen die Definition des Kibbuz als anarchistische Gemeinschaft auflehnen werden; andere werden vielleicht im Scherz behaupten, daß im Leben des Kibbuz Anarchie (Unordnung), aber nicht Anarchismus herrsche. Die direkte Demokratie jedoch, der periodische Wechsel (Rotation) in allen wichtigen Ämtern, die Vollzugskraft, welche aus innerer Disziplin und nicht aus Zwang erwächst, das Streben, ein Leben ohne Ausnutzung des Mitmenschen zu führen, die maximale gegenseitige Hilfe, welche sich in einer umfassenden wirtschaftlichen Verantwortlichkeit ausdrückt - all dies ist meiner Meinung nach ein ausgesprochenes Zeichen der anarchistischen Ideologie.
In der Tat spürt das Mitglied eines Kibbuz - selbst wenn dies, objektiv genommen, nicht der Fall ist - daß es in seinem "eigenen Staate" lebt, in einem Rahmen, welcher nicht dem in Kraft stehenden Gesetze des Staates untersteht. Das kommt, zum Beispiel, zum Ausdruck, wenn immer wieder die Frage auftaucht: soll man die Polizei zu Hilfe rufen, wenn sich ein Diebstahl ereignet hat. (Man ruft die Polizei nur dann, wenn man überzeugt ist, daß ein Vergehen nicht durch ein Kibbuzmitglied, sondern durch einen, die Gemeinschaft gefährdenden Außenstehenden verübt wurde, die Übersetzerin). Dieses und ähnliche Beispiele stellen den Kibbuz "außerhalb des Gesetzes". Der Kibbuz ist eine Gesellschaft, die ihre eigene Auffassung und ihre eigenen Mittel hat, um mit Problemen fertig zu werden, die im allgemeinen den herrschenden Institutionen des Staates unterstehen.
Der Kibbuz ist in den Augen seiner Mitglieder durchaus eine "erwünschte Organisation", welche für sie notwendig ist; deshalb vermag er zu bestehen. Er ist keine Zwangsorganisation, wie sie vom Anarchismus abgelehnt wird. (…)
Tatsache ist, daß es den Anarchisten im Verlaufe ihrer Geschichte nicht gelang, irgendwo einen wesentlichen Einfluß zu erlangen, der es ihnen ermöglichte, ihre Ideale - selbst nur zum Teil - zu verwirklichen, außer in einer kurzen Periode während des spanischen Bürgerkrieges.
Wie sonderbar es auch scheinen mag, in meinen Augen jedenfalls ist die Kibbuzbewegung der einzige wirkliche und bedeutende Versuch, die anarchistische Theorie von einer Lehre in eine Tat umzuwandeln (außer einigen sporadischen Versuchen in Deutschland und an anderen Orten; dort versuchte man zu verschiedenen Zeiten, Kommunen auf kollektiver Grundlage zu errichten). Ich muß betonen, daß ich dabei an die Verwirklichung der grundlegenden Weltanschauung denke, im Gegensatz zu den Aktionen, welche den Anarchismus charakterisieren.
Die Geschichte des Anarchismus an sich stellt ein fesselndes Thema dar - aber in diesem Rahmen ist es nicht am Platze, seine gewundenen Wege und die so unterschiedlichen und sonderbaren Persönlichkeiten seiner Anhänger darzustellen. Lassen wir also die Anarchisten beiseite und beschäftigen wir uns mit dem Anarchismus.
Abraham Yassour, ein Mitglied des Kibbuzes Merchavia, welcher an der Universität von Haifa Dozent für Geschichtsphilosophie ist, hat eine Arbeit verfaßt, welche sich mit dem vorliegenden Thema beschäftigt. (1) Seiner Ansicht nach befand sich die anarchistische Bewegung in einem grundlegenden Zwiespalt, und dies führte zu ihrem Niedergang. Er sagt: "In den Augen der Anarchisten bedeutet jede Organisation eine Fessel, und jede politische Organisation führt zur Unterdrückung. Daraus ergibt sich, daß es unmöglich ist, eine anarchistische "Partei" zu gründen, denn die Partei ist notwendigerweise in verkleinertem Maßstab das Abbild der Anschauung ihrer Mitglieder über die Gesellschaft. Die Partei ist somit eine Organisation, welche denen, die ihr angehören, Taten und Anschauungen vorschreibt; dies jedoch steht im strikten Gegensatz zum Anarchismus. Wenn der Terror ein Mittel ist, um politische Ziele zu erreichen, so führt das zum Terror innerhalb der Partei selbst und richtet sich gegen ihre eigenen Mitglieder." (…)
In der Geschichte der anarchistischen Bewegung tauchen immer wieder gegenseitige Verdächtigungen auf; denn immer wieder gelangten Agenten der Geheimpolizei in ihre Zellen. Es gibt Wissenschaftler, welche der Meinung sind, daß wenigstens teilweise der Mythos der internationalen anarchistischen Untergrundbewegung das Ergebnis von falschen Vorstellungen und Befürchtungen der Polizei ist. Anfang des Jahrhunderts wurde die Geheimpolizei des Zaren selbst zum Lieferanten von Geld und Waffen, um einen Anschlag auf den Herrscher, den sie beschützen sollten, vorzubereiten; denn die Agenten in der revolutionären Zelle waren gezwungen, durch diese ihre Tätigkeit ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Andere behaupten, daß die anarchistische Bewegung in Katalonien "Die Schwarze Hand" nichts weiter als die Erfindung der Polizei war.
Unter dem Zeichen des Widerstandes gegen jede zentralisierende und fesselnde Organisation entstand zum Beispiel in Ost-Europa "Der Bund", eine jüdische, nicht-zionistische Arbeiterbewegung; mit der großen Abwanderung der Ostjuden am Ende des vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts kam diese Bewegung auch nach West-Europa und nach Amerika. Es sollten - statt Ortsgruppen, die einer Zentrale angehören - autonome Gruppen gebildet werden, die gegenseitig Wissen austauschen, aber unter denen keine hierarchische Abhängigkeit herrscht. In Berlin, zum Beispiel, gab es vier solcher Gruppen.
A.D. Gordon hörte während eines zionistischen Treffens in Prag die Trauerrede, welche Martin Buber für Gustav Landauer hielt. Landauer, der deutsch-jüdische Schriftsteller, war nach dem ersten Weltkrieg kurze Zeit Minister der bayrischen Räterepublik; mit dem Zusammenbruch der Räterepublik fiel er einem Mord zum Opfer. Seine Werke - die übrigens auch eine Reihe von ausgezeichneten Vorträgen über die Dramen Shakespeares enthalten - und besonders das Buch "Aufruf zum Sozialismus" inspirierten die zionistische Jugendbewegung, wie zum Beispiel den "Blau-Weiß".
Auch Joseph Chaim Brenner (1881-1921, ein bedeutender hebräischer Schriftsteller und Literat. Er wurde während der Unruhen im Jahre 1921 von Arabern in Jaffa ermordet; die Übersetzerin) war während seines Aufenthaltes in London (1909) mit einer Gruppe jüdischer Anarchisten verbunden. Es sei als interessantes geschichtliches Kuriosum erwähnt, daß der deutsche, nicht-jüdische Anarchist Rudolf Rocker, welcher wegen seiner Weltanschauung gezwungen war, nach England zu emigrieren, dort innerhalb der jüdisch-anarchistischen Gruppen tätig war; er begann sogar, seine Bücher in der jiddischen Sprache zu schreiben und zu veröffentlichen. Auch er, wie viele aus diesen Kreisen, beschäftigte sich mit Literatur und Kunst.
Die Verbindung zwischen dem Anarchismus und bestimmten Berufen - Literatur, Dichtung, Druckerei und freies Handwerk, wie zum Beispiel das Uhrmacherhandwerk im Schweizer Jura - dürfte ein interessantes Subjekt für eine gesonderte Untersuchung sein.
Die Juden nahmen keinen hervorragenden Platz in der anarchistischen Bewegung ein. Jedoch läßt sich der Einfluß der anarchistischen Ideen in der zionistisch-sozialistischen Bewegung verfolgen, und meiner Meinung nach ist, unbewußt, die Kibbuzbewegung das einzige Beispiel ihrer Verwirklichung bis zum heutigen Tage. (…)
Die voluntarische Grundlage, der Rahmen, in welchem der Mensch aus freiem Willen lebt - und es steht ihm frei, ihn zu verlassen, wann immer er will - auf ihr und nur so allein kann sich eine freie Gesellschaft entwickeln.
Ich glaube, daß die Kibbuz-Gesellschaft diesem Prinzip ihre Existenz verdankt; dieser Grundsatz besteht, selbst dann, wenn es scheinbar Abweichungen gibt; zum Beispiel besteht zuweilen die Befürchtung, beim Verlassen des Kibbuz die wirtschaftliche Sicherheit zu verlieren. Häufig scheint es Außenstehenden, daß der Kibbuz den Mitgliedern seine Beschlüsse in Fällen aufzwingt, wo jeder "frei" ist, der nicht im Rahmen des Kibbuz lebt. Tatsache jedoch ist, daß die Einmischung der Kibbuz-Gemeinschaft in das Leben des einzelnen - indem sie seinen Arbeitsplatz bestimmt, die wirtschaftlichen Zuwendungen, die Ernährung, seine Ausbildung - immer darauf gerichtet ist, daß jeder die Verbindung abbrechen und sich von der bestehenden gesellschaftlichen Übereinkunft zurückziehen kann, so wie es dem Gesellschaftsbild von Proudhon zugrunde liegt. Die Last der Pflichten, welche das Leben im Kibbuz jedem seiner Mitglieder auferlegt, beruht auf dem grundlegenden freien Willen jedes einzelnen, diese auf sich zu nehmen.
Der Kibbuz ist das Gegenteil von Anarchie - fehlender Führung - aber die Verwirklichung des Anarchismus, welcher das Fehlen zwingender Autorität bedeutet. Der Anarchismus setzt die Zustimmung derer voraus, die ihm zu folgen gewillt sind und seine Bedeutung anerkennen. Es überrascht, wie viele von Proudhons Bemerkungen im Leben des Kibbuz zum Ausdruck kommen. So spricht Proudhon von der Wandlung der industriellen Arbeit zu einer befriedigenden Tätigkeit vom emotionellen und intellektuellen Standpunkt aus, bis sie der landwirtschaftlichen oder der künstlerischen Betätigung gleichkommt. Und dies äußert er, hundert Jahre bevor die Diskussion über die Demokratie und die Rotation in der Kibbuz-Industrie begann. Ebenso entwarf Proudhon ein Erziehungsprogramm für die Jugend; die Erziehung soll vom jungen Alter an (9 Jahre) die produktive Arbeit in der Landwirtschaft integrieren. (Im Kibbuz arbeiten die Kinder vom Beginn der Schulzeit an im Haushalt und in allen Wirtschaftszweigen, von 12 Jahren an auch in Landwirtschaft und Industrie; die Arbeitszeit ist dem Alter entsprechend gestuft, von 1 Stunde - bei den Sechsjährigen - bis zu 3 Stunden bei den Primanern. In den Ferien arbeiten die ältesten Schüler 6 Stunden; die Übersetzerin).
Die Philosophie des Anarchismus widerstrebte jeder politischen Organisation. Sie hoffte, ihre Ziele durch Einsicht zu erlangen, wie Godwin erklärt; (eine sehr vage Hoffnung, wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, die eine Folge von Dummheit und Unvernunft darstellt!). Das Mittel der Überzeugung allein scheint in den Augen der Anarchisten selbst utopisch zu sein. Bakunin begann also, eine andere, ergänzende Anschauung zu entwickeln. Die entscheidende Waffe beim Kampf um die Zukunft der Menschheit wird, seiner Ansicht nach, der Generalstreik sein. In dem Augenblick, in dem alle Werktätigen sich weigern werden, ihre Arbeitskraft den Arbeitgebern zur Verfügung zu stellen, wird der ganze Bau wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, und dem Arbeiter wird die Entscheidung zufallen. Demnach ist eine entsprechende Propaganda notwendig und die Organisation von Kerngruppen, welche im richtigen historischen Augenblick ihre Wirkung ausüben; die Masse des Volkes wird durch diesen Streik zu einem gewaltigen Machtfaktor ohne die Notwendigkeit einer umfassenden und andauernden zentralen Organisation, wie sie von Marx für notwendig gehalten wurde. Auch Marx glaubte an eine entsprechende Situation im entscheidenden Augenblick, sah sie aber in ferner Zukunft.
Die Lösung ist also die kleine Gemeinschaft, welche für sich selbst wirkt, eine Gemeinschaft, in der es keine Herrschaft und keine Regentschaft gibt; sie schließt in sich eine allgemeine, revolutionäre Zukunftshoffnung im internationalen Maßstabe ein.
Auch hier besteht eine Ähnlichkeit mit den israelischen "Arbeits-Truppen", die in den zwanziger Jahren die Chausseen bauten und aus denen sich die Kibbuzbewegung entwickelte. Aber auch für diese Bewegung entstand schließlich ein zusammenfassender Rahmen, nachdem sich die einzelnen Zellen, die Kwuzoth und die Kibbuzim, gefestigt hatten. Der "Kibtmz Arzi", zum Beispiel, (Kibbuz Arzi, die Dachorganisation von 78 Kibbuzim, deren Mitglieder weltanschaulich "links" gerichtet sind; die Übersetzerin) entstand erst sieben Jahre nach der Gründung seiner ersten Kibbuzim, und auch der Errichtung dieser Organisation ging eine lange Diskussion voraus. Andererseits sah der "Kibbuz Hame'uchad" (eine andere Dachorganisation) in seinen Gruppen die Ausläufer einer zentralen Organisation. Im Grunde jedoch herrschte in allen Kibbuzbewegungen die föderale Auffassung, eine Einstellung, welche auf pragmatische Weise zustande kam, im Gegensatz zu der deklarierten Ideologie; gerade im Kibbuz Arzi ist die Zentralisation stark, obwohl der Kibbuz Arzi anfangs als föderale Vereinigung geschaffen wurde, in welcher jede Einheit ihre Selbständigkeit bewahrt.
Ich erwähnte bereits, daß gerade die unbemittelten Facharbeiter, wie die aus dem Schweizer Jura, mehr als andere zum Anarchismus neigten: sie begannen sich zum Syndikalismus zu bekennen. Wörtlich bedeutet "Syndikat" nichts anderes als ein Fachverband; jedoch betonte der Syndikalismus das Besitzrecht des Arbeiters auf seine Geräte und Instrumente und auf die übrigen Produktionsmittel, die er benötigt; ähnlich ist die Auffassung des Besitzrechtes in den Kibbuzim. Allerdings gehören nach dem "Kibbuz-Gesetz", welches der "Knesseth" (Parlament) vorgeschlagen, aber noch nicht bestätigt wurde, 51 % des Anteils jedes Kibbuz der Bewegung, aber in Wirklichkeit und auch im Bewußtsein der Kibbuzmitglieder selbst sind sie die alleinigen Besitzer ihrer Wirtschaft.
"Kropotkin, Bakunin und ihre Genossen lehnten jeden Besitz auf das schärfste ab", sagt Abraham Yassour, "indem sie jeden Besitz als Raub am Mitmenschen ansahen, aber in Wirklichkeit befürworteten sie den persönlichen Kleinbesitz, ähnlich dem Besitzerrecht des Bauern auf sein Land, des Handwerkers auf seine Geräte." - Genau für dieses Prinzip setzt sich auch der Kibbuz ein: seine Mitglieder besitzen nichts außer dem gemeinsamen Besitz, welcher eine Art "Kleinbesitz" darstellt, selbst wenn von Fabriken und einer gutentwickelten Landwirtschaft die Rede ist; es ist ein "Kleinbesitz", wenn nämlich in der Vorstellung dieser Besitz in die Zahl der Kibbuzmitglieder aufgeteilt würde.
Die Frage der "Lohnarbeit" (die Arbeit von Menschen, die nicht Kibbuzmitglieder sind, in den verschiedenen Wirtschaftszweigen; die Übersetzerin) ist in diesem Zusammenhang eindeutig. In dem Augenblick, in welchem der Kibbuz Arbeiter beschäftigt, die keine Mitglieder sind, wird der Kleinbesitz, der den Kibbuzmitgliedern dazu dient, sich von ihm zu ernähren, zu einem kapitalistischen Instrument, welches im Gegensatz zu der anarchistischen (und der marxistischen) Grundauffassung des Kibbuz steht. Der marxistische Begriff des "Mehrwertes" ist im Grunde nichts anderes als die Erklärung des Mechanismus, welcher den Kleinbesitz des Arbeiters in Kapital verwandelt.
Aus der Einstellung der Syndikalisten entwickelte sich die Kooperativbewegung. "Es gibt Dokumente, die bezeugen, daß die ersten Mitglieder der zionistischen Kooperative in Erez Israel sich an Gustav Landauer wandten mit der Bitte, sie bei der Schaffung der kooperativen Zellen im Lande zu beraten. Gustav Landauer entwickelte eine Auffassung, welche die 'erwünschte Organisation' der 'unterdrückenden Organisation' gegenüberstellt" - erklärt Abraham Yassour. Mir persönlich scheint, daß der Charakter der Kibbuzorganisation und die Handlungsweise der Kibbuzim dieser Definition entspricht.
Oftmals fragen Menschen, welche nicht im Kibbuz leben, ob der Individualismus nicht im Gegensatz zum Leben im Kibbuz steht. Die Einführung des neuen Begriffes Selbstverwirklichung in das Lexikon der Kibbuzsprache verschärft die Diskussion über dieses Thema. Es ist klar, daß die anarchistische Einstellung, welcher nach meiner Meinung die Auffassung vom Kibbuz zugrunde liegt, an sich absolut individualistisch ist. Es ist der Versuch, eine Brücke zwischen dem einzelnen und dem Leben der Gemeinschaft zu schlagen, so wie es im Kibbuz der Fall ist. Sofern sich gesellschaftliche Probleme ergeben, findet dies im Kibbuz seinen Ausdruck in weitgehender Rücksichtnahme, die zuweilen auf Kosten des wirtschaftlichen Nutzens angewandt wird. Die Garantie dafür, daß der einzelne nicht gezwungen ist, sich dem unerwünschten Druck der Allgemeinheit zu unterwerfen, liegt in der stets offenstehenden Möglichkeit, diesen Rahmen zu verlassen, die Bindung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv zu lösen. Denn auch für den einzelnen sind die Institutionen des Kibbuz nichts anderes als eine "erwünschte Organisation", selbst dann, wenn es Auseinandersetzungen gibt, sobald das Wohl der Allgemeinheit dem Begehren des einzelnen gegenübersteht. Man kann niemanden zwingen, Kibbuzmitglied zu sein. Die Solidarität - welche nicht den Individualismus verletzt - steht an Stelle des Zwanges.
Aber es gab noch eine schärfere Diskussion als die bei der Schaffung des Begriffes "Kihbuz Arzi" und die des historischen Streites zwischen Marxismus und Anarchismus. (Aus unerfindlichen Gründen hat bisher niemand, soviel mir bekannt ist, mit diesem erschreckenden Namen diejenigen bezeichnet, welche im Kibbuz Arzi nicht Marxisten sind ...). Es erhob sich eine langwährende Auseinandersetzung über die Frage, welche Aufgaben der Kibbuz in der ihn umgebenden Gesellschaft zu erfüllen hat, die Frage, ob der Kibbuz eine sozialistische Zelle in einer kapitalistischen Gesellschaft ist oder der Prototyp einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft, welche dann entstehen wird, wenn die proletarische Diktatur verschwunden ist? Ist der Kibbuz die Ortsgruppe einer Partei oder Selbstzweck? Dies alles sind Meinungsverschiedenheiten zwischen der anarchistischen Grundlage des Kibbuz und der marxistischen Tünche, mit der man ihn überdecken will.
Der Begriff ideologische Kollektivität, welcher Anlaß gab, den Kibbuz als totalitär darzustellen, war im Grunde nichts anderes als die Tatsache, daß der Kibbuz sich nicht allein mit Landwirtschaft und Industrie befaßt - und mit der Befriedigung der wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse seiner Mitglieder -, sondern daß der Kibbuz auch für deren geistiges Leben von Bedeutung ist. In Wirklichkeit drehte sich die Diskussion um folgendes Problem: ist der Kibbuz als eine Gemeinschaft anzusehen, welche ein gerechtes Leben ohne Ausnützung und Beherrschung des Mitmenschen verbürgt, oder ist der Kibbuz die Zelle einer Partei, einer Organisation, deren Ziele hauptsächlich politischer und klassenkämpferischer Art sind? Die lange Auseinandersetzung, welche im Kibbuz Arzi über die Errichtung einer Partei geführt wurde (die Partei des Haschomer Haazir, heute "Mapam"), ist eigentlich auch nur die Fortsetzung der Diskussion über Marxismus und Anarchismus. Theoretisch siegte der Marxismus; jeder Kibbuz des "Kibbuz Arzi" ist theoretisch eine Ortsgruppe der Partei. Aber in Wirklichkeit dominiert die andere, die individualistische Richtung. Das zentralisierende, autoritäre Gerüst einer kommunistischen Partei im Rahmen des Kibbuz Arzi bestand nur in der Phantasie einiger führender Persönlichkeiten.
Das bedeutet nicht, daß der Kibbuz nicht der Träger einer politischen und öffentlichen Aufgabe ist. Der Kibbuz ist ein mächtiges Sammelbecken - in Hinsicht auf das Menschenmaterial, über das er verfügt und das es ihm ermöglicht, sich für Pionierarbeit und politische Berufungen einzusetzen. Dies eben ist die Kraft, welche die Anarchisten ihren "Zellen" zusprachen; sie ist die Hefe in einer Zeit der Gärung oder der Krise. Auch in der letzten Zeit trat das deutlich zutage, wie zum Beispiel bei den Demonstrationen gegen die Besiedlung der besetzten Gebiete. Die Stärke des Kibbuz liegt in seinem Vermögen, einen Teil seiner Mitglieder im notwendigen Augenblick in "berufsmäßige Revolutionäre" zu verwandeln. Dies alles ist selbstverständlich nur ein Teil der bedeutendsten Aufgabe des Kibbuzes: jüdische Siedlungen im ganzen Lande zu schaffen und vor allem nahe den Grenzen.
Der Wunsch, eine Bewegung zu bleiben und nicht in eine Partei verwandelt zu werden, blieb in der Kibbuzbewegung tief verwurzelt, auch nach der Erstellung eines Rahmens in der Form von Parteien. Die Schwierigkeit, Parteifunktionäre zu mobilisieren, die berühmte "Gleichgültigkeit" der Kibbuzmitglieder, die Fremdheit, welche zwischen dem Kibbuz und der Tätigkeit in der Partei besteht, bedeuten, meiner Ansicht nach, nicht eine Abstumpfung der Empfindungen, nicht Gedankenträgheit und Bequemlichkeit. Sie sind die unerläßliche Folge des Paradoxes zwischen der grundlegenden, anarchistischen Auffassung im Leben des Kibbuz und der Fähigkeit, sich der Organisation einer marxistischen Partei anzupassen.
Die klassische, marxistische Auffassung sah in der proletarischen Revolution - zunächst in den entwickelten Ländern - eine historische Notwendigkeit. Der Zionismus und mit ihm die Bewegung der landwirtschaftlichen Besiedlung waren nicht deterministisch; im Gegenteil, sie widersetzten sich der "annehmbaren historischen Entwicklung", das heißt, sie rebellierten bewußt gegen die Meinung, daß die Assimilation die Probleme des jüdischen Volkes lösen könnte.
Die Einwanderung der ersten Chaluzim (Pioniere) nach Erez Israel war in Wirklichkeit nichts anderes als "Tatpropaganda" im Sinne des Anarchismus, wenn diese auch aufbauend und positiv war und sich nicht durch Zerstörung und Mord durchzusetzen versuchte.
In gewissem Sinne liegt in den Verzweiflungstaten der Anarchisten, welche dem "guten Namen" der Bewegung schadeten, etwas von den Ideen des jüdischen Mystizismus, welcher die Menschen zur Sünde verleiten will, um das Kommen des Messias zu beschleunigen.
Angenommen, meine Analyse ist richtig und der Kibbuz ist tatsächlich die Verwirklichung des anarchistischen Gedankens, was bedeutet das schon? Das ist keine Diskussion um eine Terminologie. Allerdings kann eine falsche Terminologie zu einer unrichtigen Analyse führen, und infolgedessen können auch falsche Schlüsse gezogen werden. Viele Probleme, die den Kibbuz belasten, müssen durch eine gründliche Erforschung jener Ideen gelöst werden, welche die Ziele des Kibbuz und die Handlungsweise seiner Mitglieder bestimmen. Hierin liegt die Wichtigkeit des Erkennens seiner anarchistischen Grundlagen, welche immer - aber meist unbewußt - als seine Basis dienten. Eine stärkere Beachtung der Quellen anarchistischen Gedankengutes wird imstande sein, die weltanschauliche Verwirrrung, welche sich im Leben des Kibbuz im allgemeinen und in der Erziehung der jungen Generation im besonderen bemerkbar macht, abzuschwächen. Diejenigen, welche sich in der Kibbuzbewegung mit ideologischen Auseinandersetzungen beschäftigen, klammem sich theoretisch an den Kult des Marxismus - und jeder Schüler der oberen Schulklasse spürt deutlich die nicht zu überbrückende Kluft zwischen dieser Ideologie und der Wirklichkeit im allgemeinen und besonders im Kibbuz. Um der Erneuerung der ideologischen Grundlagen der Kibbuzbewegung willen ist es erwünscht, sich nochmals und gründlichst mit den Ideen von Proudhon, Landauer und ihren Genossen zu beschäftigen. Möglicherweise findet sich dort ein großer Gedankenreichtum, welcher unser geistiges Leben bereichert und der imstande ist, die Kluft zwischen der Wirklichkeit im Leben des Kibbuz und der in ihm offiziell herrschenden Ideologie zu überbrücken, einer Ideologie, die ihm fremd ist und die - laut einer ausgezeichneten marxistischen Umschreibung - zum historischen Gerümpel gehört.
Fußnote:
1.) Dr. Abraham Yassour: Gustav Landauer - Communal Settlement and its Industrialization (Exchange of letters between Landauer and Goldmann). Hrsg. von der Universität Haifa.
Vorliegender Aufsatz erschien in Englisch, zusammen mit weiteren Beiträgen über den Kibbuz, in: Kibbuz Members Analyze the Kibbuz. Ed. and introduced by Abraham Yassour. The Institute for Cooperative Communities. Cambridge 1977.- Für die europäischen ideen gekürzt
Aus: Mytze, Andreas W. (Hg.): europäische ideen, Heft 39, 1978. Digitalisiert von www.anarchismus.at