Das Leben von Oskar Neebe

Klempner, im Alter von 37 Jahren zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und nach 7 Jahren Freiheitsentzug für unschuldig erklärt

Ich wurde am 12. Juli 1850 in New York geboren. Meine Eltern gingen nach Deutschland, um uns Kindern eine gute Erziehung zu geben. Meine Kindheit und Schulzeit verbrachte ich in Kassel in Hessen. Im Alter von 14 Jahren kehrte ich nach New York zurück. Ich war froh, wieder im Lande der Freien zu sein, denn die Sklaverei war abgeschafft und der blutige Krieg war gerade beendet worden. Ich sah, wie die von der Sonne verbrannten Soldaten in ihren zerrissenen Uniformen aus dem Süden zurückkehrten, wo sie für die Freiheit gekämpft und die Versklavung der Schwarzen beendet hatten, um in die Versklavung der Weißen einzutreten. Von diesem Zeitpunkt an kann ein freier Bürger der Vereinigten Staaten sich entscheiden, ob er arbeiten oder verhungern will.

Nachdem ich mich mit meinem älteren Bruder beraten hatte, wurde beschlossen, daß ich das Silber- und Goldschmiedehandwerk erlernen sollte. Ich fing in einem Laden in der Houston Street in New York an und verdiente anfangs zwei Dollar die Woche. Ich habe dort eine ganze Weile gearbeitet, mußte dann allerdings wegen Schmerzen in der Brust diese Tätigkeit aufgeben. Horace Greeley [1] sagte: »Junger Mann, geh' in den Westen!« - und ich ging als l6jähriger nach Chicago, aber ich konnte dort keine Arbeit finden.

Nachdem ich meine Kleidung und allen Schmuck verkauft hatte, um während der Zeit meiner Arbeitslosigkeit Kost und Logis bezahlen zu können, und als ich nichts anderes mehr besaß als den Anzug, den ich auf dem Leib trug, wies mir der Wirt die Tür. Mit knurrendem Magen machte ich mich auf die Suche nach einer Arbeit, und als die Nacht kam, suchte ich mir einen Holzhaufen in der Nähe des Leuchtturms und legte mich dort unter freiem Himmel schlafen. Am nächsten Morgen ging ich zum See hinunter, wusch mir das Gesicht und trank etwas Wasser aus der hohlen Hand. Von den letzten 40 Cents kaufte ich mir ein Brot und eine Zeitung. Durch eine Annonce in der Zeitung, bekam ich eine Anstellung als Kellner im Lake House Saloon von Martin Keller; später wurde ich dort Schankkellner. In dem Lokal verkehrten hauptsächlich Arbeiter aus McCormick's Maschinenfabrik, und viele von ihnen wurden gut bezahlt. Ich sah und ich hörte, wie es gemacht wurde. Ich sah, wie die Vorarbeiter von den schlechter gestellten Arbeitern Abgaben und Prämien erhielten. Ich sah, wie Kriecher und Spitzel jedes Wort, das die Arbeiter sagten, belauschten, um es an den Vorarbeiter weiterzugeben. Und ich sah, wie die guten Arbeiter entlassen wurden.

Ich habe die Kämpfe für den Achtstundentag in den Jahren 1866/67 verfolgt. Ich habe gesehen, wie die Bosse mit den Arbeitern Verträge abgeschlossen haben, um diese Verträge mit Hilfe der Polizei wieder zu brechen. Die Reichen wurden immer reicher und die Armen ärmer, das ist das Ergebnis der Harmonie zwischen Arbeit und Kapital. Die Arbeiter von McCormick können ein Lied davon singen.

Ich blieb bis 1868 bei Martin Keller. Während des folgenden Sommers arbeitete ich als Schiffskoch auf dem See. Im Herbst 1868 legte unser Schiff in Cleveland an. Ich hatte vom Leben an Bord genug und verließ Chicago und den Westen, um nach New York zurückzukehren und ein Handwerk zu erlernen. Ich hatte Glück und kam als Lehrling in einem Klempnerladen unter. Der Besitzer war ein sehr netter Mensch und tüchtiger Arbeiter, und ich erlernte das Klempnerhandwerk bis zur Perfektion. Während dieser Zeit hatte ich Gelegenheit, zu sehen, wie die armen Arbeiter wie Heringe zusammengepreßt in den Mietskasernen leben. Ich habe oft Arbeiten verrichtet, wo es mir unmöglich war, Geld zu nehmen; denn man konnte deutlich sehen, daß die Leute die paar Pfennige, die sie hatten, für Brot brauchten, um den Hunger - diesen Wolf - nicht hereinzulassen. Eines Tages sagte mein Chef: »Oskar, ich weiß eine Anstellung für dich in einer Fabrik.« Auf seine Empfehlung hin fing ich am kommenden Montag mit der neuen Arbeit an. Es war etwas Neues. Wir stellten eine neue Sorte von Milchkannen her. Das Geschäft blühte in kurzer Zeit auf, und wir arbeiteten bald mit vierzehn Leuten. Jeder von uns konnte gut und gerne 25 bis 30 Kannen in der Woche herstellen, aber einigen war das nicht genug. Sie arbeiteten härter und kamen auf 35 bis 40 Kannen pro Woche. Der Gesellschaft kam es zu teuer, einem Arbeiter 35 bis 40 Dollar die Woche zu zahlen, und sie senkte den Stücklohn auf 75 Cents. Der Verkaufspreis hingegen wurde von 6 auf 7 Dollar pro Stück angehoben. Nun mußten die Arbeiter mit größter Anstrengung schuften, um auf den vorherigen Verdienst zu kommen. Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß sie dadurch die Löhne nur noch mehr drückten.

Zusammen mit meinem Freund Barpy Collins wurde ich beauftragt, der Gesellschaft mitzuteilen, daß die Arbeiter sich weigern würden, noch eine Kanne herzustellen, wenn sie nicht mehr Lohn erhielten. Collins und ich sprachen bei Mr. Sheppard vor. Er lachte nur und meinte, er könne wetten, daß unsere Kollegen selbst für 65 Cents arbeiten würden. Er bot uns beiden, als seinen ältesten und besten Arbeitskräften, 75 Cents an. Wir sagten ihm, daß wir und unsere Kameraden eher die Arbeit niederlegen würden, als für weniger als 75 Cents zu arbeiten. Daraufhin wandte er sich an einen der Arbeiter und fragte ihn, ob er lieber aufhören wolle, als für 65 Cents zu arbeiten. Der Arbeiter sagte, wenn die anderen damit einverstanden wären, würde er sich nicht ausschließen. Durch die Wortbrüchigkeit und Feigheit unserer Kollegen verloren Collins und ich unseren Arbeitsplatz. Es war das erste Mal, daß ich sah, wie Arbeiter, die gebraucht wurden, klein beigaben. Es passierte 1871. Später hörte ich, daß der Stücklohn auf 45 Cents gesenkt worden war. Mr. Sheppard aber wurde ein wohlhabender Mann.

Ich begann in einer Fabrik zu arbeiten, wo Ölkannen und Teebüchsen hergestellt wurden. Hier sah ich zum ersten Mal, wie Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren wie Sklaven an den Maschinen schuften mußten. Fast täglich passierte es, daß ein Finger oder eine ganze Hand einem der Kinder abgehackt wurde, aber was machte das schon? Man zahlte sie aus und schickte sie nach Hause. Draußen warteten schon andere, um ihren Platz einzunehmen. Ich glaube, daß die Fabrikarbeit in den letzten zwanzig Jahren mehr Kinder zu Krüppeln gemacht hat, als der ganze Krieg im Süden. Und die abgehackten Finger und die zerfleischten Körper haben den Monopolen und Fabrikanten viel Geld eingebracht.

Ich möchte einige Worte zur Akkordarbeit sagen. Ich habe Arbeiter gesehen, die vier oder fünf Jungen unter sich hatten, jedem von ihnen eine bestimmte Arbeit zuwiesen, ihnen dafür drei bis vier Dollar die Woche zahlten und für sich pro Woche 60 bis 70 Dollar herausschlugen. Die immer gefräßigen Fabrikanten fanden es heraus und stellten die Kinder nun gleich selber ein, und wo die Arbeiter früher in ihrer selbstsüchtigen Habgier 60 bis 70 Dollar die Woche verdient hatten, kamen sie nun auf nur 8 bis 15 Dollar. Sie müssen ein bestimmtes Stück oder einen bestimmten Teil eines Produktes herstellen und sind nun selber Maschinen, da sie wie Maschinen arbeiten und kaum zehn Minuten Pause machen können, ohne nicht mit ihrer Arbeit in Rückstand zu geraten. Das ist der Fluch der Akkordarbeit. Man muß die Arbeiter in der Leichtmetallindustrie einmal gesehen haben! Sie sind nur noch Haut und Knochen und sehen schwindsüchtig aus. Aber sie sind selbst schuld daran, denn sie halten nicht zusammen. Frauen und Kinder nehmen ihre Plätze ein, und was wird aus den Männern? Sie verarmen, werden zu Landstreichern, füllen die Gefängnisse und drücken durch ihre Gefängnisarbeiten die Löhne der unglücklichen Frauen und Kinder noch stärker. Das ist der Fluch der Neuzeit.

Mein Bruder war in seine Geburtsstadt Philadelphia gezogen. Ich folgte ihm, weil ich glaubte, meine Lage dort verbessern zu können. Hier lernte ich meine spätere Frau kennen und heiratete 1873. Ich fand Arbeit. Philadelphia ist eine wunderschöne Stadt, aber für einen Arbeiter ist sie wohl der armseligste und gemeinste Ort in den Vereinigten Staaten. Dort sind die Arbeiter schlimmer versklavt als unsere schwarzen Brüder in den Südstaaten. Sie haben Angst, sich einer Arbeiterorganisation anzuschließen, weil sie dafür auf die schwarze Liste kommen oder entlassen werden. Dagegen müssen sie einer Wohnbaugesellschaft angehören, von denen es in Philadelphia sehr viele gibt. Sie kommen fast um vor Hunger, nur weil sie von ihren Löhnen, die sowieso kaum zum Leben ausreichen, auch noch die wöchentlichen Raten abzweigen müssen. Es ist ja auch ein schönes Gefühl, es zu einem eigenen Haus gebracht zu haben, bevor man an der Schwindsucht krepiert oder mitansehen muß, wie es von einem Sheriff beschlagnahmt und von einem wohlhabenden Bürger zu einem Spottpreis aufgekauft wird, nachdem man jahrelang dafür gezahlt hat. Ich habe erlebt, wie 1876 über 12.000 Häuser unglücklicher Arbeiter auf diese Art verkauft worden sind.

Im Februar 1877 ging ich nach Chicago zurück und fand Arbeit in der Adams' Westlake Manufacturing Company. Die Bezahlung war gut, aber ich wurde am 1. Juli entlassen, weil ich mich für die Rechte der Arbeiter eingesetzt hatte. Von 1877 bis 79 hatte ich eine schwere Zeit zu überstehen, da es mir nicht gelang, eine Anstellung in meinem Beruf zu finden. Viele Male hatte meine Familie noch nicht einmal ein Stück trockenes Brot zu essen. Wenn ich allen Mut verloren hatte, hielt mich die liebevolle Hilfe und Unterstützung meiner Frau aufrecht.

1879 fand ich eine Anstellung als Handelsvertreter für die Riverdale Distilling Company. Ich hatte gepreßte Hefe zu verkaufen und habe bis 1881 für diese Firma gearbeitet. Dann gründete ich zusammen mit meinem Bruder, Peter J. Leng und Rudolph Bohn die Acme Hefefabrik. Seitdem ich im Gefängnis sitze, ist es den dreien gelungen, mich aus dem Unternehmen herauszudrängen und die Hefe unter einem anderen Firmennamen zu verkaufen.

Mein Bezirk lag im Südwesten der Stadt, und bei meiner Tätigkeit lernte ich die Armut der Chicagoer Arbeiter gründlich kennen. Dieser Teil der Stadt wäre ein lohnendes Betätigungsfeld für unsere Gesundheitsbehörden. Die Kolonialwarenhändler verkaufen zu horrenden Preisen schlechte und alte Ware und betrügen die Armen mit falschen Maßen und Gewichten. Wenn sie sich beschweren würden, könnten sie bei ihren Kolonialwarenhändlern nicht mehr anschreiben lassen; und sie müssen anschreiben lassen, weil sie kein regelmäßiges Einkommen haben. Ich habe Mütter weinen sehen, weil sie ihre kleinen Kinder - die von Rechts wegen zur Schule hätten gehen müssen - in Fabriken und Geschäfte schicken mußten, um überhaupt leben zu können. Ich habe ein kleines Mädchen gesehen, das auf der Messe für 3 Dollar Wochenlohn hatte arbeiten müssen und dem dabei die Beine erfroren waren, weil seine Eltern nicht das Geld hatten, ihm gute, warme Schuhe und Kleidung zu kaufen. Und wieviel tausend dieser kleinen Mädchen gibt es erst im Süden der Stadt, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten müssen? Ihr glaubt, Ihr könnt eure Kinder zu Bürgern dieses ruhmvollen und freien Landes erziehen? Ihr werdet Idioten und Gefangene erziehen, und ihre Anlagen werden noch bis in die dritte und vierte Generation zu verfolgen sein.

Hier in Chicago besuchte ich häufig die Veranstaltungen der Kommunisten und trat ihnen 1877 bei. Ich habe in dieser Bewegung bis 1880 mitgearbeitet. 1880 gaben die Verantwortlichen der »Arbeiter-Zeitung« bekannt, daß die Zeitung ihr Erscheinen einstellen müsse. Die »Socialistic Publishing society« gab nicht ihr Einverständnis und ernannte eine Reihe neuer Geschäftsführer, unter anderem auch mich. Diese Gesellschaft sozialistischer Verleger stand kurz vor dem Bankrott, als August Spies zum neuen Herausgeber gewählt wurde. Sein Einsatz und seine Arbeit haben entscheidend dazu beigetragen, daß die Zeitung wieder aufgebaut werden konnte. Die alten Herausgeber und ihre Freunde taten alles, um uns zu vernichten. So mancher Geschäftsmann und Arbeiter wird sich noch daran erinnern, wie gewisse Parteien - ich will keine Namen nennen - gegen die neue Geschäftsleitung und ihr Vorgehen gearbeitet haben.

Nach dem Pittsburgher Kongreß setzten die Arbeiterzeitungen »Vorbote«, »Die Fackel« und »Arbeiter-Zeitung« ihr Erscheinen fort, stellten sich auf das Grundsatzprogramm von Pittsburgh und wurden zum Organ der »International Working People's Association«. Man hat uns häufig vorgeworfen, wir arbeiteten gegen die Gewerkschaften und die Knights of Labor. Das ist nicht richtig. Wir waren nicht gegen sie, sondern nur gegen die Form, in der sich diese Organisationen konstituiert haben und gelenkt werden. Haben nicht Hunderte unserer Sprecher immer wieder die Arbeiter aufgefordert, sich zu organisieren, egal ob in den Gewerkschaften oder den Knights of Labor? Auch ich habe mein Möglichstes getan, um die »Central Labor Union« zu gründen und ihre Mitgliederzahl zu erhöhen. Heute ist sie mit über 10.000 Mitgliedern die stärkste Arbeiterorganisation in Chicago. Das ist alles, was ich über mein Leben als Arbeiter zu sagen habe.

Im Mai 1886 wurde ich verhaftet, des Mordes angeklagt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Wofür, habe ich bis heute nicht herausfinden können.

Dieser [Hauptankläger] Grinnell sagte ein paar Tage nach meiner Verhaftung zu mir, einige prominente Deutsche hätten ihm erzählt, daß ich ein sehr gefährlicher Mann wäre. Aus dem, was er sagte, konnte ich entnehmen, daß es sich bei diesen prominenten Deutschen um einige Bierbrauer in Chicago handelte. Um diesen Leuten einen Gefallen zu tun, wurde ich zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, denn ich hatte es gewagt, ihre Angestellten in einer Organisation zusammenzuschließen. Diese Brauereibesitzer können es nicht verwinden, daß sie ihren Arbeitern für einen lOstündigen Arbeitstag 15 Dollar mehr im Monat bezahlen müssen. Und sollte ich auch 15 Jahre im Gefängnis sitzen, so habe ich doch das gute und beruhigende Gefühl, meinen Beitrag geleistet zu haben, um die Lage der armen Arbeiter zu verbessern.

Ich bin überzeugt, daß Ihr euch während dieser langen 15 Jahre um meine drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen, kümmern werdet. Doppelt verwaist - da nun meine arme Frau so plötzlich von mir genommen wurde, niedergedrückt durch die Angst und Sorge, die auf ihrem zarten Herzen lastete - rufe ich die Arbeiter und Arbeiterinnen aller Länder und Völker auf, sich zu vereinigen und ihre Unterdrücker zu vernichten.

Fußnoten:
[1] Herausgeber der New York »Tribüne«.

Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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