Das Leben von Georg Engel
Anstreichergeselle, im Alter von 51 Jahren zum Tod verurteilt
Ich, Georg Engel, wurde am 15. April 1836 in Kassel, der damaligen Hauptstadt von Kurhessen, geboren. Mein Vater, der von Beruf Steinmetz und Maurer war, starb als ich 18 Monate alt war und ließ meine Mutter als sehr arme Witwe mit vier kleinen Kindern zurück. Als ich 12 Jahre alt war, starb meine Mutter und überließ mich dem Erbarmen einer kalten und grausamen Welt. Zwei meiner Brüder wurden in ein Waisenhaus gebracht; ein anderes Kind und ich kamen zu armen Familien, die sich für ein Pflegegeld von 20 Talern im Jahr unserer annahmen. Ich wußte damals schon, was Hunger ist, mehr noch, ich hatte erfahren, was Verhungern bedeutet. Als ich 14 Jahre alt war, kam die Stadt für meinen Lebensunterhalt nicht mehr auf und mir wurde gesagt, daß es nun für mich an der Zeit sei, ein Handwerk zu erlernen.
Da sich niemand um mich kümmerte, sah ich mich selber um und fand schließlich einen Schuhmacher, der bereit war, mich innerhalb von vier Jahren in die Geheimnisse seines Handwerks einzuweihen, vorausgesetzt, jemand anderer versorgte mich in der Zwischenzeit mit Kleidung. Niemand war geneigt, mir diesen Gefallen zu tun, und so warf mich der Schuhmacher auf die Straße, nachdem ich zwei Wochen in der Lehre gewesen war. Ich suchte eine Zeitlang vergeblich nach einem Meister; schließlich gab ich auf. Ich muß hinzufügen, daß es in Deutschland sogar heute noch üblich ist, daß ein Lehrling seinem Meister eine bestimmte Summe für das Erlernen eines Handwerks zahlt, so daß es für einen Jungen aus armen Verhältnissen schwierig ist, überhaupt eine Lehre zu machen.
Ich hatte schon jede Hoffnung verloren, als ich hörte, daß einige meiner Schulkameraden nach Amerika ausgewandert waren. Doch bevor ich die alte Welt verlassen konnte, mußte ich etwas Geld verdienen. Ich ging nach Frankfurt am Main, um dort mein Glück zu versuchen. Da ich kein Geld hatte, mußte ich mich zu Fuß auf den Weg machen. Müde und mit wunden Füßen erreichte ich endlich Frankfurt. Ohne einen Pfennig Geld trieb ich mich einen ganzen Tag in den Straßen herum, bis die Nacht kam. Hunger und Kälte trieben mich schließlich in ein Lokal. Ich bat den Wirt um Unterkunft und etwas zu essen und schlug ihm vor, dafür zu arbeiten. Ein Bürger, der sich ebenfalls im Lokal befand, hatte Mitleid mit mir. Er sagte, daß er mich das Malerhandwerk lehren wolle. Dankbar und glücklich sagte ich zu. Nachdem ich ein herzhaftes Abendessen eingenommen hatte, das er für mich bezahlte, ging ich mit ihm. Ich erlernte mein Handwerk entsprechend den Vorschriften und denke noch immer voller Dankbarkeit an meine Lehrzeit zurück, denn mein Meister war ein guter und rechtschaffener Mann.
Als ich meine Lehrzeit beendet hatte, machte ich mich, wie es bei Handwerksgesellen so Sitte war, auf die Wanderschaft. Nachdem ich in Mainz, Köln und Düsseldorf gearbeitet hatte, kam ich 1863 nach Bremen. Die Bremer Zeitungen berichteten ausführlich über die Unterdrückung der Bevölkerung Schleswig-Holsteins durch Dänemark. Es gab eine Bewegung, die sich die Befreiung der deutschen Brüder vom Joch des dänischen Königs zum Ziel gesetzt hatte. Für mich war der Kampf meiner Landsleute etwas Großartiges, und ich schloß mich einem Regiment Freiwilliger an. Wir wurden in der Turnhalle von Bremer Kommandeuren ausgebildet. Später marschierten wir nach Altona in Schleswig-Holstein. Als jedoch die regulären preußischen und österreichischen Truppen anrückten, wurde unser Freiwilligenregiment aufgelöst. Unsere deutschen Brüder wurden vom dänischen Joch befreit, um unter das preußische Joch zu fallen.
In diesen Kriegstagen gingen die Geschäfte in Norddeutschland schlecht, und so ging ich nach Leipzig, das ich jedoch wieder verließ, als der Krieg von 1866 ausbrach. In der folgenden Zeit arbeitete ich in verschiedenen Städten. 1868 hielt ich mich in Rehna in Mecklenburg-Schwerin auf, wo ich heiratete. Ich eröffnete ein eigenes Geschäft. Doch die fortschreitende Industrialisierung in Deutschland brachte die meisten kleinen Unternehmer um ihre Existenz. Der Lebenskampf wurde härter, und es war schwer, sein Auskommen zu finden. Ich erinnerte mich wieder an meinen Plan, den ich als Junge gehabt hatte, nach Amerika auszuwandern. Um es kurz zu machen, am 8. Januar 1873 war ich schon in Philadelphia.
Ich begann in einer Zuckerraffinerie zu arbeiten. Im Mai war ich wieder in meinem alten Beruf als Maler beschäftigt. In Philadelphia hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas über schwere Arbeiterunruhen. Die Miliz marschierte durch die Straßen. Sie kam von den Bergwerken, wo sie einige aufrührerische, vom Hungertod bedrohte Bergleute „gebändigt“ hatte. Ich betrachtete sie, als ein Mann neben mir sagte: „Man sollte diese Halunken auf der Stelle aufhängen!“ Diese Bemerkung überraschte mich, denn damals war ich noch ein ungebildeter Ausländer und sang Lobeshymnen auf dieses „freie und ruhmreiche Land“. Ich fragte den Mann zornig, warum er die unpatriotische Bemerkung gemacht hätte? Er versuchte es mir zu erklären. Da ich selber, wenn auch in bescheidenem Rahmen, ein Unternehmer war und von den Problemen der Arbeiterklasse keine Ahnung hatte, begriff ich nicht, was er meinte. Ich erzählte ihm, daß Amerika ein freies Land sei, in dem jeder sein gutes Auskommen haben könnte, wenn er nur wollte, und dazu noch etwas beiseite legen könne; kurz, ich wiederholte den nur allzu bekannten Unsinn, der in allen kapitalistischen Zeitungen zu lesen ist.
Es stimmt schon, dadurch daß ich täglich 10 Stunden arbeitete, verdiente ich einigermaßen gut und konnte sogar einen Notgroschen für schlechte Zeiten beiseite legen. Nun, die schlechten Zeiten kamen früh genug. Ich bekam eine Augenkrankheit. Meine Ersparnisse waren bald aufgezehrt, denn Ärzte und Medikamente waren teuer. Die Ärzte kriegten sehr schnell heraus, daß es an mir nichts zu verdienen gab, und man schickte mich zur »German Aid Society«. Diese Gesellschaft unterstützte mich eine Weile, indem sie die Arztkosten bezahlte. Aber das war auch alles. Meine Familie war vom Hungertod bedroht, und ich wußte oft nicht, woher ich ein Stück Brot für sie nehmen sollte. Nach einem Jahr Krankheit war ich wieder arbeitsfähig. Sobald ich genügend Geld zusammen hatte, ging ich nach Chicago. Hier kam ich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Sozialismus in Berührung.
1874 arbeitete ich in der Tembruth Waggonfabrik. Dort lernte ich einen Sozialisten kennen. Eines Tages zeigte er mir den »Vorboten«, eine kleine sozialistische Wochenzeitung in deutscher Sprache, die von Conrad Conzett, einem Schweizer Schriftsetzer, herausgegeben wurde, der heute politisch in seiner Heimat arbeitet. Ich fand die Zeitung sehr interessant und sah, daß sie sehr viel Wahres enthielt. Ich entdeckte eine Anzeige, die auf eine Versammlung der »International Working-men's Association« im Kellergeschoß des Hauses 130 Lake Street hinwies. Ich ging zu dem Treffen. Etwa 15 oder 17 Männer waren dort versammelt, eine kleine Sektion der I.W.A. Die Männer brachten große Opfer, um ihre Zeitung am Leben zu erhalten. Damals fand ich es noch sehr erstaunlich, daß es Menschen gab, die sich so uneigennützig und mit ganzer Kraft für die Sache der Menschheit einsetzen. Es versetzte mir einen Schlag, als ich sah, wie schwierig es war, die Volksmassen, die allen Reichtum schufen und von den Ausbeutern um die Früchte ihrer Arbeit betrogen wurden, zu erziehen und zu organisieren.
Ich besaß eine gute Konstitution. Und ich hatte Arbeit genug, so daß ich mir sozialistische Bücher kaufen konnte, um die soziale Frage zu studieren. Die ersten Bücher, die ich las, waren von Ferdinand Lassalle, dem Begründer der deutschen Arbeiterbewegung. Die sozialistischen Ideen überzeugten mich, und ich begann, für sie einzutreten. Seitdem habe ich nicht aufgehört, für die Sache des Sozialismus zu kämpfen und meine Überzeugungen zu festigen.
Im Jahre 1876 eröffnete ich ein Spielwarengeschäft. Meine Frau führt den Laden noch heute. Als Ladeninhaber hatte ich viel Zeit, mich dem Lesen zu widmen. Je mehr ich las, desto überzeugter wurde ich. Ich war erfreut zu sehen, wie die Lehren des Sozialismus im Laufe der Jahre in den Vereinigten Staaten immer mehr Anhänger fanden. Nach den Schüssen vom Mai und Juni 1878 auf Lehmann [1], den deutschen Kaiser, erließ die deutsche Regierung spezielle Gesetze gegen die Sozialisten und löste ihre Organisation auf. Das war auch der Grund [2], weshalb sich die Chicagoer Sozialisten von der Sozialistischen Arbeiterpartei loslösten. Alle unsere Mitglieder traten daraufhin den verschiedenen Arbeiterorganisationen der Stadt bei, und es war uns innerhalb sehr kurzer Zeit möglich, die »Socialistic Labor Party of North America« ins Leben zu rufen. Im nächsten Jahr, 1879, gewannen unsere Arbeiterkandidaten bei den Wahlen 12.000 Stimmen. Das war ein großer Erfolg. Aber er zog eine Bande korrupter Politiker an, denen es wenig oder überhaupt nicht um die Sache ging.
In der Folgezeit kam es zu unzähligen Streitigkeiten, die Partei spaltete sich immer wieder, und zum Schluß blieben nur zwei oder drei zahlenmäßig sehr schwache Verbände übrig. Die einzigen wesentlichen Überreste waren die drei deutschen Zeitungen, die »Arbeiter-Zeitung«, der »Vorbote« und »Die Fackel«. Natürlich gab es Tausende von Sozialisten, aber sie waren nicht organisiert. Und sie versprachen sich immer noch etwas von den Wahlen. Als es jedoch Richter Gardener ablehnte, zwei Stimmzettelfälscher zu bestrafen, und dies damit begründete, daß sie betrunken gewesen seien und es zudem richtig sei, einen Kommunisten um seine Stimme zu betrügen, nahmen die Arbeiter Abstand von Wahlen und begannen über andere Möglichkeiten nachzudenken, wie man die sozialistischen Ideen verbreiten könne.
Im Jahre 1882 begannen die Sozialisten sich wieder zusammenzuschließen und überall in Chicago Clubs zu gründen, die sich zur »International Working People's Association« bekannten, deren amerikanische Sektion im Oktober 1883 in Pittsburgh gegründet worden war. Ich wurde bald ein aktives Mitglied der »Internationale«. Ich gehörte der »North-West-Side Group« an, aus der alle anderen Gruppen in diesem Stadtteil hervorgegangen sind. Am Sonntag, den 2. Mai 1886 und am folgenden Tag nahm ich an Versammlungen teil, wo vorgeschlagen wurde, streikende Arbeiter zu unterstützen, falls sie von der Polizei oder den Pinkertons angegriffen werden sollten. Am Abend des 4. Mai, als sich die Tragödie auf dem Heumarkt ereignete, war ich daheim und spielte Karten. Waller kam und erzählte uns, was sich auf dem Heumarkt ereignet hatte. Ich schickte ihn nach Hause und legte mich schlafen.
Nun noch ein paar Worte zur Problematik von Wahlen. Zu der Zeit, als die Sozialisten dieser Stadt noch an den Stimmzettel glaubten, trat ich sehr entschlossen für unsere Wahlliste ein. Aber ich mußte feststellen, daß die Arbeiter zu arglos und vertrauensselig sind und sehr leicht verschlagenen Politikern zum Opfer fallen. Die herrschende Klasse ist in ihrer Gesamtheit als Klasse weitaus klüger, gerissener und skrupelloser als die unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter. Sie erhalten eine gründlichere Ausbildung und haben Zeit und Muße, um all das zu lernen, was sie brauchen, um ihre Gewaltherrschaft aufrechtzuerhalten und die arbeitenden Klassen zu betrügen. Und was kann man letzten Endes durch Wahlen gewinnen?
Durch die fortschreitende Mechanisierung werden die Arbeiter immer überflüssiger. Sie werden auf die Straße gesetzt und sogar gelernte Arbeiter zum bloßen Zubehör der Maschine degradiert. Die Lösung der Arbeiterfrage liegt in der Kooperation, oder anders ausgedrückt, in der Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln. Es ist keine Frage, daß die gegenwärtigen Besitzer von Grund und Boden und der Produktionsmittel diese niemals freiwillig an das Volk abtreten werden. Sie wachen eifersüchtig über ihre Eigentumsrechte. Streikenden Arbeitern begegnet man mit den Schlagstöcken der Polizei, den Gewehren der Miliz und den tödlichen Kugeln der Pinkertons. Sie zeigen die Richtung an, die die Arbeiterklasse einschlagen muß. Das Wahlrecht ist meiner Meinung nach ein zweischneidiges Schwert, eine höchst gefährliche Waffe. Es macht den Lohnsklaven glauben, daß er ein freier Mann sei, während seine Feinde diese Illusion sehr wirkungsvoll ausnutzen, um ihn irrezuführen und zu unterdrücken.
Und nun noch einige Worte zu dem Bombenattentat. Ich bin heute fest davon überzeugt, daß - falls dieser Unbekannte nicht die Bombe geworfen hätte - mindestens 300 Arbeiter von der Polizei getötet oder verletzt worden wären. Die Polizei war gezwungen, die Kämpfe der Arbeiter für den Achtstundentag zu beenden und damit den Kapitalisten dieser Stadt ihre Millionenprofite zu sichern. Unter der Führung von Bonfield wollte sich die Polizei bei den Millionären lieb Kind machen, indem sie sich in Siegerpose zeigen wollte. Es kam anders, und das ist es, was die Polizei so wütend macht. Sie hatte sich vorgenommen, die Arbeiter niederzumetzeln, aber sie wurde enttäuscht. Die Bombe macht deutlich, daß Straßenkämpfe in Zukunft unmöglich sein werden. Jeder kann Bomben herstellen und einsetzen. Bomben kosten nur 5 bis 10 Cents pro Stück. Das sind Tatsachen, für die ich nichts kann. Aber weil es sie gibt und weil damit in revolutionären Zeiten alle großen Städte in die Hand des Volkes fallen, wurde die Forderung laut, daß jemand dafür hängen müsse. Natürlich können sie sieben Männer hängen, aber dadurch werden sie die Tatsachen nicht aus der Welt schaffen.
Ich bin nicht für Krieg, aber ich weiß, daß eine machtvolle Revolution kommen muß und kommen wird, und daß diese Revolution nicht von den Arbeitern, sondern von den Kapitalisten verursacht werden wird. Eines Tages, in weniger als 25 Jahren, wird dieser Krieg ausbrechen. Daran besteht für mich kein Zweifel. Deshalb sollten sich alle Arbeiter zusammenschließen und sich auf die letzte und entscheidende Schlacht vorbereiten, deren Ausgang allen anderen Kriegen ein Ende setzen und der Menschheit Frieden und Glück bringen wird.
Fußnoten:
[1] Spitzname von Kaiser Wilhelm I., der vor den 1848er Revolutionären mit einem falschen Paß, ausgestellt auf den Namen Lehmann, ins Ausland geflohen war. Bismarck benutzte die Attentate von Hödel und Nobiling, die beide mißglückten, um das sogenannte »Sozialistengesetz« im Reichstag durchzubringen. Aufgrund dieses Sondergesetzes emigrierten viele Sozialisten in die Vereinigten Staaten.
[2] Engel meint die Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialistischen Arbeiterpartei wegen der Bewaffnungsfrage. Die Sozialistische Arbeiterpartei hatte, wahrscheinlich auch im Hinblick auf die beiden Attentate und die darauffolgenden Sozialistengesetze in Deutschland, Parteiausschlußverfahren gegen Mitglieder der »Lehr- und Wehrvereine« eingeleitet. Daraufhin traten 1878 die Chicagoer Sozialisten geschlossen aus der Partei aus, ehe es zwei Jahre danach zum endgültigen Bruch zwischen Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären kam.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at