Das Leben von Samuel Fielden
Fuhrmann, im Alter von 40 Jahren zum Tod verurteilt, später zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt und nach 7 Jahren Freiheitsentzug für unschuldig erklärt
Ich wurde in Todmorden [in England] geboren. Die westlichen Bezirke dieser Stadt gehören zu Yorkshire, die östlichen zu Lancashire. Ich wurde in dem Teil geboren, der Lancashire gehört. Wie die meisten Städte in Lancashire ist auch Todmorden eine Industriestadt. Der Ort ist in einem wunderschönen Tal gelegen, an den Berghängen sind kleine Dörfer angesiedelt, und nur etwa eine Meile entfernt beginnt das Heidemoor, das landwirtschaftlich sehr gut genutzt werden könnte, da es flacher als das umliegende Land ist. Aber obwohl Tausende von englischen Bauern glücklich wären, wenn sie dieses Gebiet beackern dürften, bleibt es den Moorhühnern, den Wildhütern und dem Landadel vorbehalten. Die Jagd auf Moorhühner bedeutet den privilegierten Klassen mehr, als das Glück Tausender Menschen. Das übrige Land ringsum ist für zwei Pfund pro Morgen verpachtet worden. Die Höfe sind klein, sie haben zwischen 10 und 60 Morgen, selten darüber. Die Bauern betreiben Milchwirtschaft und verkaufen ihre Produkte in der Stadt.
In der Stadt gibt es eine Reihe großer Fabriken, Fielden Bros, ist mit 2.000 Webern die größte. Ich wurde am 25. Februar 1847 geboren. Mein Vater, Abraham Fielden, hatte drei Brüder und drei Schwestern. Sie waren alle sehr groß und kräftig, mein Vater maß über 1 Meter 80. Bevor die Webmaschinen eingeführt wurden, hatte sich die Familie als Handweber ihr Brot verdient. Als mein Vater 20 war, kam die Veränderung, und die Familie stellte sich auf die Mechanisierung ein. Mein Vater wurde schon recht früh Vorarbeiter im Werk der Fielden Bros, und blieb dort, bis er seinen Beruf aus Altersgründen aufgeben mußte. Er war überdurchschnittlich intelligent und dafür bekannt, so ziemlich auf allen Gebieten Bescheid zu wissen. Die meisten seiner Bekannten verzichteten in der Regel darauf, sich auf ein Wortgefecht mit ihm einzulassen. Obwohl ich damals noch sehr jung war, erinnere ich mich daran, daß er sich häufig an Sonntagen mit einigen der intelligenteren Fabrikarbeiter zu Hause traf, um über Politik, Religion und alles mögliche zu diskutieren, anstatt in die Kirche zu gehen.
An meine Mutter kann ich mich nicht mehr so gut erinnern, sie starb, als ich zehn Jahre alt war. Ich weiß nur noch, daß sie ziemlich klein war, dunkle Augen, schwarzes Haar und einnehmende, ebenmäßige Gesichtszüge hatte. Ich erinnere mich, daß sie in den letzten Jahren ihres Lebens gläubige Methodistin war. Sie stammte aus einer sehr armen Familie. Sie erzählte davon, wie sie mit bloßen Füßen durch den Schnee laufen mußte, in der Hand einen Korb, der mit Sand gefüllt war, den sie an arme Leute verkaufen mußte, mit dem diese ihre mit Steinfließen ausgelegten Flure scheuerten. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie arm diese Familie gewesen sein muß, wenn ich Ihnen sage, daß der Sand für einen halben Penny das Quart [1] verkauft wurde. Dabei mußte das Material aus den wertlosen Steinbrüchen geholt, die weißen Brocken heraussortiert, nach Hause getragen und mit einem großen Stein zu Sand zerstäubt werden.
Ich weiß es noch wie heute, als der Vorarbeiter, bei dem ich in der Baumwollspinnerei arbeitete, an einem Nachmittag im Sommer zu mir kam und sagte, daß ich zu Hause gebraucht würde. Ich wußte instinktiv, was das zu bedeuten hatte, denn meine Mutter war krank gewesen. Ich blickte meiner Mutter in das bleiche Gesicht, sie war nicht mehr bei Bewußtsein. Sie rang mühsam nach Atem. Ihre Brust hob und senkte sich im Todeskampf. Ich kann nicht in Worten ausdrücken, was ich damals empfand. Es schien mir, als wäre der strahlende Sommertag plötzlich in tiefe Finsternis getaucht, und mein Leben schien zu Ende zu sein.
Im reifen Alter von acht Jahren begann ich, wie alle Kinder armer Familien in Lancashire, in einer Baumwollspinnerei zu arbeiten. Wenn Kinder in Lancashire, die in einer Baumwollspinnerei Hilfsarbeiten verrichten müssen, fröhlich und ausgelassen sind, dann sind sie es sicherlich nicht wegen ihrer Lebensbedingungen und ihrer Umwelt. Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, erfüllt mich heute noch Bewunderung für die erstaunliche Vitalität dieser Kinder. Wenn der Teufel einen besonders schlimmen Feind hätte, den er den grausamsten Foltern aussetzen möchte, dann brauchte er seine Seele nur in den Körper eines dieser Fabrikkinder von Lancashire zu verpflanzen.
Am Anfang, nachdem man die Kinder in diese Folterkammern gesteckt hat, müssen sie die vollen Spulen von den Feinspinnmaschinen streifen und sie durch leere ersetzen. Sie werden in einem langgestreckten Raum untergebracht, in dem etwa 20 Maschinen stehen. Jedes Kind erhält einen kleinen Hocker. Auf jeder Seite der Maschine sind ungefähr acht bis zehn Kinder. Sie beginnen an einem Ende des Raumes, streifen die vollen Spulen ab, gehen zur nächsten Maschine undsoweiter, bis sie am Ende der Halle angekommen sind. Inzwischen ist die erste Maschine wieder voll. Die Spindeln werden gleichmäßig auf alle Kinder verteilt, und wehe dem Kind, das hinter den anderen zurückbleibt! Die Maschine wird auf jeden Fall in Gang gesetzt, und die Finger des armen Kindes werden von den rotierenden Spulen zermalmt. Während die Kinder versuchen, mit ihren Kameraden Schritt zu halten und ihr Arbeitstempo dem Rhythmus der Maschinen anpassen, werden sie nicht selten von einem Aufseher unbarmherzig geschlagen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie diese brutalen Kerle die Kinder zusammenschlugen, sie von den Hockern stießen und mehrere Meter über den öligen Boden schleiften. Die Behandlung dieser armen, unschuldigen Geschöpfe zeugt von einer ebenso gnadenlosen Barbarei wie in der Hölle oder der spanischen Inquisition. Es ist ein mitleiderregender Anblick, diese Kinder tränenüberströmt und schluchzend von einer Maschine zur andern hetzen zu sehen, um den Rückstand gegenüber den andern aufzuholen. Und alle diese Kinder werden nur deshalb so behandelt, weil sie arm geboren wurden.
So wird Armut in Lancashire bestraft. Ich habe etwa zwei Jahre lang in dieser Fabrik geschuftet und während dieser Zeit alle nur denkbaren Schrecken und Grausamkeiten ertragen müssen. Im Alter von zehn Jahren hatte ich mich um den Aufzug zu kümmern. Meine Arbeit bestand darin, die Spulen, die aus der Halle kamen, wo die Wolle gekämmt wurde, in das Stockwerk darüber zu bringen. Ich lud die vollgesponnenen Spulen in den Aufzug und schickte sie zu den Kettlern, damit die Kettenfäden für die Weber hergestellt werden konnten. Das war für einen Jungen eine schwere Arbeit, aber da man mich für kräftig und ausdauernd hielt, wurde sie mir übertragen. In diesem Aufzug habe ich bis zum 18. Lebensjahr geschuftet. Nach dem Gesetz galt ich nun als volle Arbeitskraft.
Einige Jahre zuvor waren in meiner Heimatstadt mehrere farbige Redner aufgetaucht, die über das Sklavenproblem in den Vereinigten Staaten sprachen. Ich ging mit meinem Vater und auch mit meiner Schwester häufig zu diesen Vorträgen und hörte, wie sie über die Unmenschlichkeit dieses grausamen Systems sprachen. Einer der Männer nannte sich Henry Box Brown. Er hatte Aufnahmen mitgebracht, mit denen er die Stationen seines Sklavendaseins und seiner Flucht erläuterte. Er marschierte in einem grellen, phantastischen Gewand und mit einem riesigen Schwert an der Spitze einer Blaskapelle durch die Straßen der Stadt. Er erzählte davon, wie er in einer großen Kiste gehockt habe, in der man Proviant verstaut hatte. Die Kiste habe oben Luftlöcher gehabt und die Aufschrift »Bitte nicht stürzen!« getragen. Auf dem Wasserweg sei er so zu Freunden nach Philadelphia transportiert worden, und aus diesem Grund habe er seinem Namen das Wort »Box« zugefügt.
Ein anderer Mann hieß, wenn ich mich recht erinnere, Henry Green. Er war ein mitreißender Redner, und ich habe ihm oft zugehört. Diese Vorträge beeindruckten mich stark, und ich konnte mich ihrem Einfluß kaum entziehen. Als der amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, gehörte ich zu denen, die begeistert für die Sache der Nordstaaten Partei ergriffen; im übrigen war sich unsere ganze Familie in dieser Frage einig. Auch die Bevölkerung von Lancashire verfolgte den grausamen Krieg mit großem Interesse, den ganzen Sommer über sah man Menschengruppen in den Straßen und auf den Plätzen zusammenstehen, die über die letzten Kriegsmeldungen diskutierten oder Voraussagen machten.
Der Bürgerkrieg ging weiter, und seine Auswirkungen traten immer offensichtlicher zu Tage. Die Fabriken machten Kurzarbeit, bis sie die Arbeit ganz einstellten. Als etwas Surat-Wolle aus Indien ins Land kam, arbeiteten wir einige Tage in der Woche. Diese Wolle war furchtbar steif und äußerst schlecht zu verweben; überall waren kleine Splitter, und die Fäden rissen dauernd. Wie die Leute beteten, der Krieg möge aufhören!
Grimmige Hungersnöte gingen im Land umher, und oft genug erlöste der Tod die armen Fabrikarbeiter von Lancashire von ihren Leiden. Die finanziellen Mittel der Unterstützungsfonds waren bald erschöpft, und die Barmherzigkeit und Nächstenliebe einzelner wurde bis zum Äußersten in Anspruch genommen. Die Straßen in den Städten und die Landstraßen waren voll von Landstreichern. Junge Frauen wanderten von Stadt zu Stadt, hielten sich an den Händen und sangen Lieder. Sie hofften, so kleine Gaben zu erhalten, um ihren Hunger zu stillen und zu überleben. Viele waren so verzweifelt, daß sie ihre Ehre opferten. Das ist die Strafe für Armut.
Während der »Panik«, wie wir es nannten, schloß die Fabrik, in der mein Vater, mein Bruder, meine Schwester und ich arbeiteten, mehrere Male. Ich verdiente mir Geld, indem ich half, ein Stück Land zu bewässern, auf dem mein Unternehmer später ein prächtiges Schloß, Dobroyd Castle, errichten ließ. Ich mußte Steinplatten befördern. Es war Winter, und ich mußte die Platten aus eisigem Wasser herausnehmen. Eines Tages, ich war bis auf die Knochen durchgefroren, wurde mir schwindlig und schwarz vor Augen, und ich brach bewußtlos zusammen. Man trug mich nach Hause, damit ich erst einmal wieder auftaute. Am nächsten Tag mußte ich wieder dieselbe Arbeit machen.
Schließlich war das Ende des Krieges gekommen, und aus New Orleans kam wieder Baumwolle ins Land. Als die ersten Baumwollieferungen eintrafen, spielten sich in einigen Städten Lancashires ergreifende Szenen ab. Vor den Lagerhallen versammelten sich die Arbeiter. Blaskapellen standen bereit, um aufzuspielen. Man sah abgemagerte Männer in geflickter Kleidung und Frauen mit verstörten Gesichtern und schmutzigen Kleidern, die ihre Kinder auf dem Arm hielten oder sie der Größe nach um sich geschart hatten. Augen, aus denen aller Glanz gewichen war, strahlten nun wieder in einem Licht, das sie kurze Zeit zuvor für immer verlassen zu haben schien. Gestalten, die monatelang nur Verzweiflung ausgedrückt hatten, schienen von neuem Leben und Spannkraft erfüllt zu sein. Alle waren wieder von einer gierigen und leidenschaftlichen Hoffnung besessen, denn es sollte wieder Arbeit geben - und das war das »Sesam öffne dich« für Himmel und Erde. Endlich öffneten sich die Hoftore und man sieht starke Zugpferde, während hinter ihnen hoch aufgetürmt das zu erkennen ist, was für diese armen, vom Hungertod bedrohten Menschen der Quell allen Lebens ist: Baumwolle - amerikanische Baumwolle. Es erhebt sich ein Schrei, so laut und durchdringend, daß er die Baumwollballen fast ins Schwanken bringt. Männer schütteln sich die Hände, in den Augen der Frauen stehen Tränen des Glücks. Die Stimmung ist fröhlich und ausgelassen, man beglückwünscht sich gegenseitig und spaßige Bemerkungen fliegen hin und her. In dieser allgemeinen Begeisterung stimmt die Kapelle ein Lied an, das in England genauso bekannt ist wie in Amerika: »John Brown's body lies mouldering in the grave, but his soul goes marching on.« Die Männer, die Frauen, die Kinder, alle stimmen mit ein, und so marschieren sie vor den großen Baumwollballen her auf die Fabriken zu.
Es war 1865, als ich der methodistischen Kirche beitrat. Ich war kaum Mitglied, als ich zum ersten Mal in den Gottesdiensten und auf Versammlungen sprach. Bald wurde es für mich zur Gewohnheit, das Wort zu ergreifen. Ich glaube, ich kann behaupten, durch diese Versammlungen irgendwie bekannt geworden zu sein. Ich war sehr zuverlässig, und wenn ich mich einer Sache angenommen hatte, ließ ich nichts unversucht, um sie zu fördern. Ich war noch nicht lange Mitglied der Kirchengemeinde, als ich zusammen mit drei andern zum sogenannten »Methodist exhorter«, zu einem Ermahner bestimmt wurde. Wir pflegten umherzugehen und in den Häusern und in abgelegenen Ortschaften Versammlungen abzuhalten. Ich war fast jeden Abend irgendwo auf einer Versammlung.
Es gab zwei hauptamtliche Geistliche in diesem Bezirk, daneben noch einige sogenannte lokale Prediger, die aus den Reihen der Mitglieder kamen. Es waren Angehörige aller Gesellschaftsschichten, unter ihnen gab es Männer, die den ganzen Tag über hart arbeiten mußten, um ihre Familien zu ernähren. Und gerade diese Männer waren häufig die besseren Prediger und Redner. Ich erinnere mich an Männer, die ihr Brot am Webstuhl, an der Drehbank und in Steinbrüchen verdient haben, und deren Reden selbst in einer Kathedrale zur Wirkung gekommen wären. Ich war immer der Ansicht, daß die methodistische Kirche ihre Macht und ihren Einfluß diesen intelligenten, eifrigen, begabten und opferbereiten Männern zu verdanken hatte. Ihre Selbstlosigkeit beeindruckte mich. Ich kam in Kontakt zu ihnen. Ihre einfachen und schnörkellosen Reden übten einen starken Eindruck auf mich aus. Ich konnte mir niemanden vorstellen, dem ich lieber nachgeeifert hätte als diesen Männern, und ich begleitete sie zu ihren Veranstaltungen. Es stimmt schon, ich war damals noch unerfahren und unwissend, aber obgleich ich in den nächsten 20 Jahren meines Lebens viel von der Welt gesehen habe, und obwohl ich glaube, daß die Ideen dieser Männer nicht richtig waren, werde ich niemals, bis meine Hand kraftlos zur Seite sinkt, bis meine Augen sich für immer schließen und meine Zunge unfähig sein wird, gute oder schlechte Gedanken zu äußern, bis mein Herz seine letzten schwachen Schläge tun wird, aufhören, diesen edlen und hochherzigen Männern dankbar zu sein, von denen ich in meiner Jugend geprägt worden bin.
Bis Juli 1868 änderte sich mein Leben kaum. Dann verließ ich meine Heimat und wanderte in die Vereinigten Staaten aus. Am Morgen meiner Abreise waren viele Leute anwesend, mit denen ich durch meine Arbeit in der Methodistengemeinde verbunden gewesen war. In der zweiten Julihälfte des Jahres 1868 kam ich in New York an. Ich besorgte mir sofort bei der Prentice-Hutfabrik Arbeit. Allerdings habe ich dort nur zwei Tage gearbeitet, weil die Bezahlung sehr schlecht und die Tätigkeit nicht gerade angenehm war. Meine nächste Station war Providence. Hier arbeitete ich in den Chapin & Downs Riverside Werken an den Waschmaschinen. Ich hatte mir anscheinend die Gunst des Vorarbeiters erworben, denn er verschaffte mir nach kurzer Zeit eine recht angenehme Arbeit im Warenhaus, wo ich Stoffe für den Versand verpacken mußte. Vorher hatte ich 7 Dollar 50 die Woche verdient, nun waren es 8.00.
Ich hatte regelmäßig die New York »Tribüne« gelesen und mich in die Idee verrannt, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Ich ließ mich von den Beschreibungen der »Tribüne« blenden, wo gesagt wurde, daß ein junger Mann in der Landwirtschaft glänzende Aufstiegsmöglichkeiten hätte. So machte ich mich auf den Weg in den Westen. Die erste Arbeit, die ich im Bundesstaat Illinois annahm, war auf einem Bauernhof in Summit Station. Ich arbeitete dort den ganzen Herbst über. Im folgenden Frühjahr war ich bei Fox & Howard auf dem Illinois-Michigan-Kanal beschäftigt. In diesem Winter hatte ich meine religiösen Anschauungen gründlich überprüft und war zu der Überzeugung gelangt, daß sie ziemlich viele Hirngespinste enthielten. Ich warf sie über Bord und wurde Freidenker.
Im folgenden Herbst ging ich nach Süden, da ich gehört hatte, man könnte dort im Winter eine ganze Menge Geld verdienen. Während meines Aufenthaltes dort habe ich fast jede größere Stadt am Mississippi von St. Louis bis New Orleans gesehen. Ich habe mit den härtesten und rauhesten Männern zusammengelebt, die es auf der Welt gibt. Ich habe mit diesen Männern beim Bau der Eisenbahn und der Flußdämme zusammengearbeitet. Ich bin Hunderte von Meilen gewandert, um Arbeit zu finden. Ich habe in Arbeitslagern gelebt und in Zelten aus Kattun und auf dem nackten Erdboden geschlafen. In den Städten habe ich in kleinen Pensionen gewohnt, die immer auch die unvermeidliche Kneipe besaßen, und dort wurde der schlimmste Schnaps verkauft, der je durch die Kehle eines Mannes geflossen ist. Die Besitzer dieser Etablissements schienen die Dammarbeiter mit demselben Interesse zu betrachten, wie Dickens es von den englischen Kneipenwirten in Liverpool berichtet. Ich will damit sagen, daß sie uns als ihre rechtmäßige Beute betrachteten. Nachdem ich am 1. Mai nach Chicago zurückgekehrt war, arbeitete ich wieder in demselben Werk als Baggerführer.
Wir beendeten die Ausschachtung des Kanals bei Sagbridge. Dort war ich beschäftigt, bis wir das Projekt endgültig abgeschlossen hatten. Kurze Zeit später begann man die Douglas-, Central- und Humboldtparks anzulegen. Ich war einer von den Männern, die im Douglaspark den ersten Spatenstich taten. In diesem Park arbeitete ich bis drei Wochen vor Ausbruch der großen Feuersbrunst von Chicago im Jahre 1871. Zu jener Zeit wohnte ich in Lyons und arbeitete in Mud Lake. Am nächsten Donnerstag kam ich nach Chicago und wanderte durch die Straßen. Überall schwelten Ruinen. Im nächsten Jahr fand ich in Chicago Arbeit und habe seitdem dort gewohnt und gearbeitet. Die nächsten Jahre möchte ich übergehen, da in dieser Zeit nichts Wesentliches geschah. In jenen Jahren habe ich fast ständig in Steinmetzereien gearbeitet und jede nur mögliche Tätigkeit ausgeübt. Ich habe mich weitergebildet und einen beträchtlichen Teil meiner Freizeit im Lesesaal der öffentlichen Bibliothek verbracht.
Im Herbst 1879 reiste ich nach England. Ich wollte schon seit Jahren meine Heimat wiedersehen, aber finanzielle Schwierigkeiten hatten mich immer wieder daran gehindert, diesen Plan zu verwirklichen. Hauptgrund meiner Reise war, daß ich ein Eheversprechen einlösen wollte. Außerdem wollte ich noch einmal meinen alten Vater sehen. Ich stellte mir vor, in England etwas bessere Arbeitsbedingungen als jenseits des Atlantik vorzufinden und dort zu bleiben. Ich sah, daß während meiner Abwesenheit zwar eine Periode allgemeinen Wohlstands geherrscht hatte, zur Zeit meines Besuches jedoch die wirtschaftliche Lage äußerst entmutigend war. So erfüllte ich die oben erwähnte Verpflichtung und kehrte im Februar 1880 in die Vereinigten Staaten zurück. Heute habe ich zwei Kinder, ein zweieinhalbjähriges Mädchen und einen Jungen, der während der Zeit meines Gefängnisaufenthalts geboren wurde. Nach meiner Rückkehr legte ich mein ganzes Geld in einem Fuhrunternehmen an und wurde das, was die Chicago »Tribüne« einen Kapitalisten nennen würde. Von dieser Zeit an bis zu meiner Verhaftung habe ich Steinblöcke gefahren und mir damit meinen Lebensunterhalt verdient.
Im Sommer 1880 erfuhr ich, daß man beabsichtigte, eine Gewerkschaft der Fuhrleute zu gründen. Bei meinem zweiten Besuch bei dieser noch unentwickelten und funktionsunfähigen Gewerkschaft nahm ich an den Beratungen teil. Man einigte sich darauf, eine vorläufige Organisation zu schaffen, und ich wurde als Ire zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Die Organisation hat keine Erfolge verbuchen können und sich schließlich aufgelöst.
1883 gab es Versammlungen der Arbeiter von der Seeseite, und man lud mich als Redner ein. Ich zögerte und erkundigte mich, worüber auf diesen Treffen geredet würde. Man antwortete mir: »Sie trauen sich doch zu, über die Probleme der Arbeiter zu sprechen, nicht wahr?« Ich erklärte mich einverstanden und sprach danach auch noch einige Male unter freiem Himmel in anderen Teilen der Stadt zu Arbeitern. Zwar fühlte ich mich damals noch nicht zu irgendeiner bestimmten Arbeiterorganisation besonders hingezogen, aber ich war der Meinung, daß die Sache der Arbeiterklasse ein weites Feld zur Agitation böte und sprach in allgemeiner Form über die bestehenden Mißstände.
Im folgenden Sommer war ich durch meine Teilnahme an Versammlungen und Diskussionen in der Arbeiter-Liga ein überzeugter Vertreter des Sozialismus geworden und knüpfte Beziehungen zur I.W.P. A. an. Als Mitglied dieser Organisation habe ich überall in Chicago gesprochen, im Seebezirk unter freiem Himmel und in anderen Teilen der Stadt in Sälen. Ich bin auf Versammlungen in St. Louis und Cincinnati aufgetreten. Ich habe auch noch in Pittsburgh, in Canton in Ohio und in anderen kleineren Städten, sowie auf Veranstaltungen in den Vororten von Chicago gesprochen. Am Morgen des 5. Mai 1886 bin ich verhaftet worden. Am Nachmittag desselben Tages wurde ich, ohne vorher die Gelegenheit gehabt zu haben, mit einem Freund oder Anwalt zu sprechen, zusammen mit Albert Parsons, August Spies und Michael Schwab von einem Untersuchungsrichter verhört. Der stellvertretende Staatsanwalt stand zwischen dem Untersuchungsrichter und einigen Zeugen und flüsterte ihnen zu, was sie zu sagen hätten. Seit dieser Zeit sitze ich im Bezirksgefängnis von Cook County, Illinois. Den Prozeß und meine Verurteilung hat die Öffentlichkeit mitverfolgen können.
Fußnoten:
[1] Englisches Hohlmaß, ein guter Liter.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at