Colin Ward - Eine Gesellschaft, die sich selbst Arbeit gibt (1970)

Die Tatsache, daß die Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen im 20. Jahrhundert viel komplizierter ist, um von Millionen von Ein-Mann-Betrieben organisiert zu werden, vermindert (...) (den) Drang nach Selbstbestimmung nicht, und die Politiker, Manager und die riesigen internationalen Gesellschaften wissen das. Das ist der Grund, warum sie alle möglichen Pläne zur "Beteiligung des Arbeiters", "gemeinsames Management", "Beteiligung am Profit", "betriebliche Teilhaberschaft", anbieten, (...) um dem Arbeiter das Gefühl zu geben, er sei mehr als nur ein Rädchen in der Industriemaschine, und sich gleichzeitig zu vergewissern, daß die effektive Kontrolle über die Industrie nicht in die Hände der Männer gerät, die an der Basis der Fabrik stehen. (…)

Industriekontrolle ist mit dem Charakter einer Gewerkschaft als freiwillige Vereinigung der Arbeiter weitgehend unvereinbar; sie ist primär zu deren Schutz und Interessenvertretung gebildet. Sogar im demokratischen Industriesystem, d.h. einem System, in dem die Arbeiter an der Kontrolle teilhaben, bestünde immer noch ein Bedürfnis nach Gewerkschaften (...) Wenn wir nur annehmen, die Manager seien dem Bund der Arbeiter verantwortlich, so können wir die Möglichkeit individueller Ungerechtigkeiten und Fehler nicht ausschließen. Solche Fälle müssen von der Gewerkschaft übernommen werden (...) Es scheint höchst unwahrscheinlich, daß eine Gewerkschaft eine dieser Aufgaben erfolgreich erfüllen kann, wenn sie auch das Organ der industriellen Verwaltung ist, oder, mit anderen Worten, wenn sie keine freiwillige Organisation mehr ist (…)

Unglücklicherweise wurde die Idee der Arbeiterkontrolle fast völlig mit dem Konzept der Gewerkschaftskontrolle gleichgesetzt (...) Es war durchweg offensichtlich, daß sich die Gewerkschaften jeder Doktrin widersetzen würden, die zum Ziel hat, parallel zu der ihren eine repräsentative Struktur in der Industrie zu entwickeln.

In der Tat ist in den einzigen Beispielen von völliger oder teilweiser Arbeiterkontrolle, von denen wir in England wissen, die Gewerkschaftsstruktur gänzlich von der Verwaltung getrennt, und es wurde niemals vorgeschlagen, es anders zu machen. (...) So weit, wie sie gehen, sind sie echte Beispiele für Arbeiterkontrolle aber sie scheinen weder Expansionsvermögen zu haben, noch einen Einfluß auf die Industrie im allgemeinen auszuüben. Es gibt die Fischer von Brixham in Devon und die Bergleute von Brora an der Küste von Sutherland in Schottland. Dieses Bergwerk sollte geschlossen werden, stattdessen übernahmen es die Bergleute vom National Coal Board (Nationales Ministerium für Kohle) und bildeten eine eigene Gesellschaft. Dann gibt es jene Firmen, wo von idealistischen Arbeitgebern eine Art von Arbeiterkontrolle angestrebt wird. (…)

Ich erwähne diese Beispiele nicht, weil sie eine ökonomische Bedeutung haben, sondern wegen der allgemeinen Auffassung, Arbeiterkontrolle über die Industrie sei eine schöne Idee, die wegen einer nicht näher ausgeführten Unzulänglichkeit, nicht der Idee, sondern derjenigen Leute, die man als "Arbeiter" bezeichnet, ganz und gar undurchführbar sei. (...) Und noch weiterverbreitet als die Ansicht, Arbeiter hätten keine innere Fähigkeit, sich selbst zu führen, ist der bedauerliche Schluß, daß Arbeiterkontrolle eine hübsche Idee sei, aber wegen des Ausmaßes und der Komplexität der modernen Industrie unmöglich zu realisieren. (…)

Was die Skeptiker wirklich meinen, ist, daß sie sich zwar den vereinzelten Fall eines kleinen Unternehmers vorstellen können, wo die Anteile in den Händen der Angestellten sind, daß aber nach normalen Handelsrichtlinien geführt wird (...) oder daß sie sich zwar das einzelne Beispiel einer Firma vorstellen können, in der das Führungskomitee von den Arbeitern gewählt wird, wie in den genossenschaftlichen Teilhaberschaften - aber sie können sich nicht vorstellen, daß diejenigen, die hoch oben die Führung der Wirtschaft manipulieren, von diesen bewundernswerten Präzedenzfällen im kleinen Maßstab entweder gestört oder am allerwenigsten beeinflußt werden.

Und sie haben natürlich recht: die Sehnsucht einer Minderheit nach Arbeiterkontrolle, die niemals ganz stirbt, war gleichzeitig trotz der ideologischen Implikationen des "work-ins" nie verbreitet genug, um diejenigen, die die Industrie kontrollieren, herauszufordern. (…)

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? (...) Ich glaube, es gibt einen, das, was die Syndikalisten und Gildensozialisten als "Kontrolle in Anspruch nehmen" durch das Mittel des "kollektiven Vertrags" beschrieben. Die Syndikalisten sahen darin "ein System, wodurch die Arbeiter in einer Fabrik oder einem Laden eine gewisse Menge Arbeit für einen Pauschalbetrag übernehmen, der von der Arbeitsgruppe zugeteilt wird, wie sie es für richtig hält, und zwar unter der Bedingung, daß die Arbeitgeber auf die Kontrolle über den Produktionsprozeß selbst verzichten." (...)

Ich glaube daran, und ein Beweis für meine Überzeugung ist das Beispiel des in einigen Fabriken in Coventry praktizierten Gruppensystems, das einige Punkte mit der Kollektivvertragsidee gemein hat, und das in einigen Kohlebergwerken in Durham praktizierte "composite-work"-System (Arbeit im Verbund), das in allen Punkten damit übereinstimmt.

Das erste der beiden, das Gruppensystem, wurde von einem amerikanischen Professor für industrielle und Managementtechnik, Seymor Melman, in seinem Buch "Decision-Making and Productivity" beschrieben, worin er "zu zeigen versucht, daß diese realistische Alternativen für die leitende Verfügung über die Produktion sind." (…)

Melman suchte ein identisches Produkt aus, das unter verschiedenen Bedingungen hergestellt wurde, und fand es im Ferguson Traktor, der in Detroit und Coventry unter Lizenz hergestellt wird. (…) Melman behauptet von Standards Traktorfabrik (...): "Wir werden an dieser Firma zeigen, daß Tausende von Arbeitern gleichzeitig eigentlich ohne Überwachung, wie man sie konventionell versteht, arbeiteten, und das mit hoher Produktivität: Der höchste Lohn in der britischen Industrie wurde gezahlt; Produkte von hoher Qualität wurden zu akzeptablen Preisen in sehr stark mechanisierten Zweigstellen produziert; die Geschäftsleitung arbeitete zu ungewöhnlich niedrigen Kosten; zusätzlich hatten organisierte Arbeifer eine grundlegende Funktion bei der Entscheidungsfindung bezüglich der Produktion."

Die Produktionspolitik der Firma war zu dieser Zeit höchst unorthodox für die Motorindustrie. Sie war das Ergebnis zweier miteinander verbundenen Systeme zur Entscheidungsfindung, das der Arbeiter und das des Managements: "Das Management war darauf vorbereitet, in der Produktion hohe Löhne zu zahlen und die Produktion mittels des Gruppensystems zu organisieren, welches dem Management abverlangt, sich eher mit der Belegschaft in Gruppen auseinanderzusetzen als mit einzelnen Arbeitern oder kleinen Gruppen (...) Aufgabe der Vorarbeiter ist eher die Überwachung von Dingen als die eingehende Kontrolle über Menschen (...) Das Funktionieren der integrierten Zweigwerke, wo 10.000 Arbeiter in der Produktion angestellt sind, braucht das hochentwickelte und teure Merkmal der Geschäftsleitung nicht."

Die 15 Gruppen der Autofabrik hatten eine Größe von 50 bis 500 Leuten und die Traktorfabrik war als eine riesige Gruppe organisiert. Vom Stand der Arbeiter in der Produktion aus "führt das Gruppensystem dazu, daß man sich Waren merkt, anstatt daß man sich Menschen merkt". Aus Bezahlungsgründen war das gemessene Ergebnis das Ergebnis der ganzen Gruppe. Im Verhältnis zum Management führt Melman aus: "Die Stimme einer Belegschaft in Gruppen hatte größeren Einfluß als der Druck eines einzelnen Arbeiters. Viele britische Geschäftsleitungen begreifen sehr wohl diesen Effekt des Gruppensystems zusammen mit dem Gewerkschaftswesen. Das Ergebnis ist, daß sich viele Geschäftsleitungen der Anwendung des Gruppensystems widersetzen und sich für den Wert des Leistungslohns für einzelne Arbeiter aussprechen."

Melman stellt in einem wirkungsvollen Vergleich den "schädlichen Wettbewerb", der das leitende Entscheidungsfindungssystem charakterisiert, dem Entscheidungsfindungssystem der Arbeiter gegenüber, bei dem das "charakteristischste Merkmal des Entscheidungsfindungsprozesses das der Gegenseitigkeit beim Treffen der Entscheidung ist und bei dem die letztliche Autorität in den Händen der Arbeitergruppen selbst ruht."

Aus: Anarchismus in Aktion, Impuls Verlag, Bremen 1978, S. 183-193

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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