Hand in Hand - Überlegungen zum Begriff der Selbstorganisierung
Selbstorganisation ist nicht nur ein gegenwärtig wieder häufig gebrauchtes Schlagwort. Im Kontext des Innovationsbedürfnisses staatlicher Verwaltung, wie sie ja selbst die hohlen Phrasen von „Entbürokratisierung“ und „Bürgerengagement“ allenorts einfordern, ist der Ruf nach Selbstorganisation aktueller denn je (1). Leider dominiert im gegenwärtigen Verständnis jedoch immer wieder der liberal-triviale den emanzipativen Gehalt. Und das nicht zuletzt deshalb, weil das staatsbürgerliche Verständnis in beiden ehemaligen deutschen Satellitenstaaten den Begriff verkürzt mit dem von Selbständigkeit identifiziert hatte und in dem Sinne immer noch unter gesamtdeutschem Banner identifiziert.
Diese Dominanz der liberalen Weltanschauung, die die Gegenwart nicht abzuschütteln vermag, weist die moderne, gesellschaftliche Entwicklung als bürgerstaatliche aus.
Als politische Parole, die auf gesellschaftliche Veränderung und Emanzipation jedes Einzelnen zielt, meint Selbstorgansation aber gerade nicht ein bloßes Allein-Stehen-Können, wie es etwa Eltern von ihren Kindern in der Pubertät, oder staatliche Behörden aktuell von Erwerbslosen einfordern. Im Gegenteil, allein am Wortlaut wird schon deutlich, daß der Begriff der Selbstorganisation in seinem Gebrauch von je her in Konkurrenz zu jenem Komm-alleine-klar gestanden hat. Die Rede von der Selbständigkeit bezieht sich nämlich eher auf eine gedachte ursprungs-natürliche Fähigkeit des Menschen (2), den aufrechten Gang, und sie begnügt sich damit auch. Der Begriff der Selbstorganisierung dagegen hebt darauf ab, anstatt „nur“ alleine dazustehen, sich eben auch und gerade zu organisieren, um die Geselligkeit und soziale Kultur gegen die Anfechtung von Staat und Kapital zu verteidigen. Und nicht umsonst ist das Wort von der Scheinselbständigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht gern gesehen. Alltag zwar, eingeschossen in die staatliche Verwaltung und nur für die obersten Schichten überhaupt erreichbar, kratzt es doch am Selbstbewußtsein des Bürgers, der partout nicht wahrhaben will, was ihm da schwant. Während Selbständigkeit allein also gar nicht über den Status isolierter Individualität hinausweist, und somit weder einen historischen noch einen praktischen bzw. technischen Aspekt aufweist, ist Selbstorganisation eng an Fragen der Organisierung gebunden, wie sie im Laufe der Entwicklungsgeschichte der Arbeiterbewegung aufgeworfen wurden. Darin bestehen ihre Stärken und Schwächen zugleich.
Wenn Selbstorganisation also den Kampf um die Köpfe aufnehmen soll, gegen den Nationalismus im Bürgerstaat, um letztlich auch über diesen hinauszuweisen, ist eine Reflektion auf das, was mensch denn da meint, wen er/sie von Selbstorganisierung redet, unerläßlich. Einige mögliche Ansatzpunkte will ich deshalb im Folgenden skizzieren:
Selbstorganisierte Arbeiterklasse?
Auch wenn viele der Organisierungsfrage auf den ersten Blick und eben wegen ihrer ideologischen Verortung ablehnend gegenüberstehen, zählt sie m. E. zu den fruchtbarsten, die im Kontext des aufklärerischen Politikverständnisses aufgeworfen wurden. Die Infragestellung der korporationstheoretischen Verbindungs- und Verbandslehren des Mittelalters und damit auch der ständischen Festschreibung unterschiedlicher gesellschaftlicher (noch als natürlich angesehener) Ausgangslagen, wie sie im Zuge der Industrialisierung und dem Einsetzen der Kritik an deren Auswirkungen gegeben ist, erreichte mit dem Gleichheitspostulat des frühen Sozialismus eine enorme gesellschaftliche Breitenwirkung. Die Frage nach der richtigen Organisierung hat das politische Leben des 19. Jahrhunderts geprägt, wie kaum eine andere Frage, inspiriert von Humanismus und einem grundsätzlichen Optimismus in die emanzipativen Potenziale menschlicher Vergesellschaftung. Mit ihrem Aufkommen und in ihr zeigt sich erstmals das Selbstbewußtsein gesellschaftlicher Kräfte jenseits der bürgerlichen Großspurigkeit, der moderne Nationalstaat wäre die ultima ratio der Weltgeschichte. Die Frage nach der rechten Art und Weise der Organisation hat nicht nur die patriarchische Herrschaftsstruktur in der Großfamilie aufgedeckt, sondern auch die Projektion derselben auf die verschiedenen hierarchischen Dispositionen (3) in der bürgerlichen Gesellschaft. In der Phrase „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ war letztlich mit der Organisierung der Armen und Ausgebeuteten dieser Welt die größte Anfechtung der bürgerlich kapitalistischen Vergesellschaftungsform bereits gegeben. Nicht zuletzt deshalb wurde der Begriff der Selbstorganisierung seit seiner politischen Taufe vehement ideologisch und von staatswegen bekämpft. Und noch darüber hinaus: Es ließe sich ohne große Umschweife die Durchsetzungsgeschichte des modernen Staates im und als Kampf gegen alternative Organisierungsmodelle schreiben. Mit der Verschärfung der sozialen Spannungen, wie sie die krisenhafte Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft hervorbrachte, setzte auch eine politische Verfolgung völlig neuer Qualität ein. Verwaltungsmacht und Gewaltmonopol sind seitdem stets angewachsen. Historisch betrachtet, ist deshalb die Frage der Selbstorganisation auch nicht abzulösen von einer Gegenmacht wider die staatliche Verwaltung des gesellschaftlichen Lebens.
Freilich wurden in der Euphorie der Bewegungen auch und insbesondere viele Fehler gemacht, es gab nur wenig Wissen und Erfahrungen, einen überhöhten, idealistischen Kollektivismus und viele Adaptionen aus dem bürgerlichen Verbands- und Verwaltungswesen. Viele Organisationsideen waren wesentlich dem Zweck unterworfen, mit der Machtergreifung und dem Gewaltmonopol die staatliche Verwaltung zu kontrollieren. Interne Hierarchien, Bürokratisierung, Kontrolle, Partizipationsverluste wurden in Kauf genommen oder gar nicht reflektiert. Darin wurden die Organisationen der „Arbeiterklasse“ den bürgerlichen immer ähnlicher, und damit dem Vorschein Marxens von der Assoziation freier Menschen immer unähnlicher. Aus dem „Arbeitskampf“ institutionalisierte sich in der Nachkriegszeit recht schnell die „Tarifrunde“. Schließlich zeitigte die Ineinssetzung von Selbstorganisation und staatlicher Verwaltung fatale gesellschaftliche Folgen, wie die national- und auch staatssozialistischen Regime im 20. Jahrhundert die bittere Beweisführung antreten. War das Subjekt selbstorganisierter Prozeße am Anfang noch durch konkrete Individuen bestimmt, wurde daraus in der Folge der Verwirklichung selbiger innerhalb der Arbeiterbewegung ein immer abstrakteres Subjekt, welches mit dem Selbst, das sich da organisiert, identifiziert wurde, ohne dessen Partizipations- und Gestaltungsspielräume genügend zu beachten. Der Eindruck, den die Rechtsstaatlichkeit (4) der bürgerlichen Gesellschaft auf solche „selbstorganisierten Projekte“ machte, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Feststellen läßt sich, daß die Organisierung der „Arbeiterklasse“, so wie sie sich historisch vollzog, weit hinter den Erwartungen zurückblieb, die man zuförderst in sie gesetzt hatte. Da, wo sie als Institutionszusammenhang heute noch existiert, Verwaltungsmasse einiger weniger, hat sie jede Hoffnung der Überwindung bürgerlicher Vergesellschaftungsformen aufgegeben und damit jeden emanzipatorischen Gehalt. Durch revisionistische Strömungen (5), unausgereifte Organisationsmodelle und mangelnde herrschaftskritische Reflektion auf die eigenen Strukturen, durch eben jene Identifizierung von Organisation mit Staat, ist aus einer progressiven Bewegung umhegte Institution geworden. In einem gewissen Sinne sind viele Versuche der Selbstorganisation innerhalb der Arbeiterbewegung in der bloßen Selbständigkeit geendet, und damit zu stumpfen Waffen im Kampf um bessere gesellschaftliche Verhältnisse geworden.
Wer? Wo? Wie? – Hauptsache organisiert?
Ich habe versucht zu zeigen, daß mensch in gewissem Sinne auch anhand der historischen Entwicklung der Arbeiterbewegung von Selbstorganisation sprechen kann. Und zwar genau dann, wenn man das Subjekt einer solchen Organisierung unter der Kategorie „Arbeiterklasse“ faßt und diese bspw. auf die Mitgliedslisten der sozialistischen Bewegung bezieht. Daran konnte zum einen der historischen Hintergrund ausgeleuchtet werden, auf dem überhaupt von einer gesellschaftlich-progressiven Organisierung geredet wurde, und zum anderen zeigte sich, daß gerade das Verhältnis von Subjekt der Selbstorganisation und Art und Weise der Organisation von zentraler Bedeutung ist. Eine nähere Bestimmung sowohl jenes Subjektes, das sich da organisiert, scheint notwendig, ebenso wie die Prüfung der Mittel, Techniken und Praktiken von selbstorganistierten Projekten. Denn deutlich ist: heute bspw. Mitglied in einer der klassischen Gewerkschaften zu sein, hat weder emanzipatives Potential, noch hebt sich diese Organisierungsform wesentlich von staatlicher Verwaltung ab. Interne Hierarchien und Kontrollsysteme, Legitimations- anstelle von Partizipationsprozeßen, zentrale Bürokratie und Verwaltung prägen das Bild.
Dabei haben sich die Mittel von Kommunikation und Assoziation im letzten Jahrhundert enorm ausgewachsen. Überhaupt scheint mit der fortschreitenden Entwicklung der Mittel und Techniken, die Anwendung immer weiter degeneriert zu sein. Dem Anspruch und der Notwendigkeit, sich den Problemen der bürgerlichen Vergesellschaftung gemeinsam und solidarisch zu stellen, steht die individuelle Isolation in der modernen Gesellschaft gegenüber. Und von hier ist auszugehen. Denn diese gesellschaftliche Isolation, die dem Individuum so unüberwindlich scheint und durch allerlei Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft reproduziert wird, ist eben nicht Folge der je eigenen Individuation, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und genau hier findet eine wie auch immer stilisierte Individualität ihre Grenze in dem Sinne, daß dahinter ein breites Feld von Möglichkeitsspielräumen darauf wartet, von Menschen gemeinsam und solidarisch gestaltet zu werden. Es ist genau das Feld, in dem das Individuum seine/ihre je einzelnen Bedürfnissen als mit anderen gemeinsame entdeckt. Diese Gestaltungsmacht ist der (rechts)staatlichen notwendig entgegenzustellen. Deshalb soll und muß Selbstorganisierung das Individuum nicht etwa eingrenzen oder unterdrücken, sondern soll und muß sich neben der gemeinsamen Lösung kollektiver Notwendigkeiten auch gerade dadurch ausweisen, daß sie die konkret individuellen Handlungspielräume erweitert. In dem Sinne, wie dadurch Emanzipation von staatlicher Bevormundung möglich und wirklich wird, ist Selbstorganisierung auch aktuell, progressiv und emanzipativ, auf eine bessere Geselligkeit der Menschen gerichtet. Und eben das unterscheidet Selbstorganisierung auf ihrem historischen Hintergrund von korporatistischen und hierarchischen Organisationsformen, die immer auf die Beschneidung individueller Entfaltung jedes Einzelnen und aller zielen. Verantwortung statt Loyalität, Vertrauen statt Kontrolle, Solidarität statt Konkurrenz, Gemeinsamkeit statt Isolation, Geselligkeit statt Verwaltung – so könnte mensch die Signatur der richtigen, weil bedürfnisbefriedigenden und emanzipativen Organisierung beschreiben. Es ist dies die Idealform der Selbstorganisierung, die auch nur dann eine Chance auf Verwirklichung hat, wenn sie die gestalten, die auch betroffen sind. Über die Mittel und Art und Weise dagegen kann und muß viel gestritten werden. Sowohl ein monatlicher Lektürekreis als auch eine wöchentliche Nachbarschaftsrunde können entwickelte Formen der Selbstorganisation sein, genauso wie dem Namen und Anspruch nach „selbstorganisierte Projekte“ in der Pflicht sind, ihre eigene Organisatiosnform selbstkritisch auf korporatistische Elemente, Kontrollmechanismen, interne Hierarchien und Partizipationsverluste zu prüfen, wollen sie ihrem eigenen Anspruch gegenüber gerecht bleiben. Niemand ist vor der Fehlbarkeit der eigenen Vorstellungen sicher, aber das ist kein Grund, es nicht zu versuchen. Schließlich ist Organisation kein Muß, wie die linke Orthodoxie nicht müde wird zu predigen, die Welt muß nicht besser werden, aber sie kann, das allein ist den Gedanken und den Versuch wert. Selbstorganisation ist deshalb für mich in dem oben beschriebenen Sinne der Vorschein eines besseren Lebens, das über meine bloße Selbständigkeit hinausweist, eben auch eine Kulturfrage.
Denn das wäre doch von der zukünftigen Entwicklung von Geselligkeit zu erwarten, daß sie Zufriedenheit, Glück und ein schönes Leben ermöglicht, unabhängig von den denkbarsten individuellen Unwägbarkeiten. Dazu ist meines Erachtens und im Blick auf die historische Entwicklung das Zurückdrängen der staatlichen Verwaltung nur die Kehrseite derselben politischen Aufgabe, die da heißt: Laßt Euch nicht organisieren, organisiert Euch selbst!
clov
Fußnoten:
(1) Der sächsische „Landesvater“ Milbradt sprach sogar jüngst im Landesparlament von der notwendigen Selbstorganisation der Bürger. Im Alter kann mensch schon einmal durcheinanderkommen, oder weiß Herr Milbradt letztlich gar nicht, wie Selbstorganisation und Selbständigkeit zu unterscheiden wären. Ein Hoch auf die Weisheit der politischen Führer.
(2) Der Begriff zielt hier auf die liberalen Versuche ab, den Menschen mit einem quasi unveränderlichen Kern, seiner Natur, über die er nicht hinaus kann, zu identifizieren. Freilich sind diese Versuche alle ohne wesentliche Ergebnisse geblieben, da der Mensch sich gerade durch seine Varianz, Offenheit und Geselligkeit auszeichnet, die eben nur im Kontext sozialer Beziehungsgefüge erklärbar wird.
(3) Hier ist vor allen Dingen gemeint, daß bestimmte, eng umschriebene Rollenerwartungen an das Individuum herantreten, innerhalb derer die Entfaltungsspielräume extrem begrenzt bleiben. In diesen Rollenbildern werden so Hierarchien bspw. als selbstverständlich geltende Konvention reproduziert und psychologisch durchgesetzt.
(4) die nur abstrakte Subjekte, die Rhetorik der Kommentare und die Willkür der Richter kennt.
(5) Eduard Bernstein (s. auch Feierabend! #16: „Zum Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie“) bspw. identifizierte staatliche Verwaltung eindeutig mit sozialistischen Organisationen und trieb damit die Degeneration der Sozialdemokratie voran.
Aus: Feierabend Nr. 18
Originaltext: http://www.feierabendle.net/index.php?id=469