Jürgen Mümken - Keine Macht für Niemand. Versuch einer anarchistischen Aneignung des philosophischen Projektes von Michel Foucault

„Die Macht der Macht scheint im wesentlichen auf dem Umstand zu beruhen, daß man nicht genau weiß, um was es sich eigentlich handele“. Niklas Luhmann

„Der Anarchismus ist nicht eine Utopie, die endgültig Gestalt angenommen hat. Der Anarchismus ist eine Bewegung, die sich in unaufhörlicher Entwicklung befindet und die heute wie gestern die Fähigkeit besitzt, neue Formen anzunehmen, (...) alle neuen Tatsachen zu verstehen und zu akzeptieren“. Emma Goldmann

Für die Analyse gegenwärtiger Gesellschaften und der Frage nach der Transformation dieser in eine anarchistischen Gesellschaft sind Macht und Herrschaft zentrale Kategorien. Die Frage nach der „Macht“ ist somit eine zentrale Fragestellung aller Gesellschaften, d.h. auch für eine anarchistische Bewegung und einer zukünftigen anarchistischen Gesellschaft. Laut Horst Stowasser bedeutet Anarchie: „'keine Herrschaft', also die Abwesenheit von Macht und Hierarchie“ (Stowasser 1995, 13), doch die Abwesenheit von Macht ist laut dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926-84) nicht möglich, da es kein außerhalb zur Macht gibt. Als Konsequenz dieser Macht ohne absolutes Außen existiert „auch das 'Außen' des Staates, in dem die revolutionären Subjekte siedeln (und seßhaft sein) sollen“ (Müller u.a. 1994, 11), nicht. Unter diesem Gesichtspunkt muß das Verhältnis Macht und Anarchismus neu gedacht werden.

Spuren der Macht

Die Spuren der Macht führen zu keiner einheitlichen Theorie der Macht, sondern es sind eine ganze Reihe von unterschiedlichen Theorien der Macht entwickelt und Analysen der Macht durchgeführt worden (vgl. Kondylis 1992 und Röttgers 1990). Neben der Analyse der Macht von Foucault sind vor allem die Machtbegriffe von Max Weber und Hannah Arendt von Bedeutung für heutige politikwissenschaftliche und philosophische Diskurse. Während Weber „die Ausübung von Macht und Herrschaft im Hinblick auf den subjektiven Handlungssinn begreift“ (Neuenhaus 1993, 7), analysiert Foucault sie als subjektlose Strategie. Beide verstehen aber „Disziplin und Rationalität als konstitutive Momente moderner Macht- und Herrschaftsausübung“ (Neuenhaus 1993, 7). Hannah Arendt entwickelte ihren Machtbegriff im Rekurs auf die Republikgründungen der Antike. Macht entspricht für Arendt der menschlichen Fähigkeit, „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist in Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er 'habe die Macht', heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln“ (Arendt 1970. 45).

Der Anthropologe Harold Barclay sieht das Verhältnis der Anarchie zur Macht folgendermaßen: „Anarchie ist letztendlich ein Zustand, in dem die Macht am weitesten aufgespalten ist, so daß sie im Idealfall gleichmäßig auf die gesamte Gesellschaft verteilt ist. Und dies unterscheidet die anarchistische Konzeption von anderen politischen Theorien, die wie z.B. der Marxismus nur die Übertragung der Macht von einer gesellschaftlichen Gruppe (Klasse) auf eine andere anstreben. (...) Max Weber hat den Unterschied zwischen Macht und Autorität hervorgehoben. In jeder Gesellschaft erkennen die einzelnen Mitglieder an, daß gewisse Menschen in bestimmten Bereichen Autorität besitzen“ (Barclay 1982, 23f).

Macht, Wissen und Wahrheit

Foucault wollte mit seiner Analyse der Macht keine totalisierende Theorie der Macht entwickeln, denn ihm ging es um die „Definition des spezifischen Bereichs der Machtbeziehungen und die Bestimmung der Instrumente zu ihrer Analyse“ (WzW 102). Bei der Analyse der Machtmechanismen geht es darum „zu wissen, wo, zwischen wem und wem, auf welche Weise und zu welchem Zweck ... sie ablaufen“ (AdM 1). Es geht um die Beziehungen, Strategien und Technologien der Macht, die uns konstituieren, uns durchqueren und ausmachen. Bei der Analyse der Mechanismen der Macht ging es Foucault auch um die Beziehungen zwischen Macht und Wissen. Das „Macht-Wissen“-Konzept von Foucault beinhaltet eine Kritik an der Grenzziehung zwischen Macht und Wissen im modernen Humanismus, denn für ihn hört das Wissen nicht dort auf, wo die Macht anfängt: „Ich habe nun den Eindruck, (...) daß sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, daß die Macht dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor; sie sammelt und verwertet Informationen. (...) Die Macht bringt ständig Wissen hervor und umgekehrt bringt das Wissen Machtwirkungen mit sich“ (MdM 45).

„Über die Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand hat man verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewußtsein, Gewissen usw.; man hat darauf wissenschaftliche Techniken und Diskurse erbaut; man hat darauf moralischen Ansprüche des Humanismus gegründet. Doch täusche man sich nicht: man hat an der Stelle, der Illusion der Theologen, nicht einen wirklichen Menschen, einen Gegenstand des Wissens, der philosophischen Reflexion oder technischen Intervention. Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er“ (ÜuS 42).

Für den Zusammenhang von Wissen und Macht ist bei Foucault der Begriff der Wahrheit von großer Bedeutung. Dabei geht es nicht um die Unterscheidung von Wahrem und Falschem, sondern um das „Ensemble von Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden wird“ (DdM 53). In die Produktion von Wahrheit geht bereits der Wille zum Wissen, der der Wille zur Macht ist, ein. Dadurch, daß Foucault Wahrheit und Wissen in Beziehung zu den Machttechniken setzt, „wird die Trennung zwischen einem wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen sowie zwischen einem wahren und falschen Diskurs aufgehoben. Denn es ist die Macht, die die Wahrheit bestimmt“ (Althoff/Leppelt 1995, 42).

Über die Ausschaltung, Marginalisierung oder Verschüttung devianter Wissensarten im Namen eines wahren Wissens - z.B. wissenschaftlicher Diskurse - findet die Produktion der Wahrheit statt und jede Gesellschaft „hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre 'allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht“ (DdM 51).

Die jeweiligen politischen Auseinandersetzungen sind damit Teil der Machtbeziehungen, und auch „der Widerstand liegt niemals außerhalb der Macht“ (WzW 116). Wir befinden uns ständig innerhalb der Macht, die sozusagen eine Macht ohne absolutes Außen ist. Deshalb sind die politischen Auseinandersetzungen auch stets ein Kampf um die Wahrheit. Die Probleme und Auseinandersetzungen müssen in den Kategorien von Wahrheit - Macht begriffen werden, dadurch verschwimmen die Trennungen zwischen politisch und nicht-politisch bzw. öffentlich und privat.

Macht als produktive Macht

Die Macht kann nicht ausschließlich als negative, repressive Macht gedacht werden, wir müssen aufhören, sie nur „in den Begriffen von Gesetz, Verbot, Freiheit und Souveränität zu denken“ (WzW 112), denn in „Wirklichkeit ist die Macht produktiv“ (ÜuS 250). Die Produktivität der Macht ist der Kern der Macht der Normen und Disziplinen.

„Wenn sie nur repressiv wäre, wenn sie niemals anderes tun würde als nein sagen, ja glauben sie dann wirklich, daß man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper durchzieht (...)“ (DdM 35).

Die Macht ist nicht mehr als Herrschaft eines Individuums, einer Klasse oder eine Gruppe über andere zu denken. Die Macht zirkuliert - sozusagen „individualisiert“ - im gesamten sozialen Körper und konstituiert den Körper erst als Subjekt. Die Macht wird nicht auf ein Individuum angewandt, und es wird auch nicht durch die Macht unterworfen. Das Individuum ist Effekt und Objekt der Macht.

„Tatsächlich ist das, was bewirkt daß ein Körper, daß Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuum identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht; es ist, wie ich glaube, eine seiner ersten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wirkung der Macht und gleichzeitig (...) ihr verbindendes Element. Die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch“ (DdM 38).

Das Individuum ermöglicht es erst, die Macht, die von unten kommt, zu analysieren und sie damit als produktive Macht zu erkennen. In der Vorlesung Die Macht und die Norm (in: MdM 114-123) von 1973 nennt Foucault vier Arten der Analyse der negativen Macht, von der wir uns freimachen müssen, wenn wir die Macht als „positive“ Macht analysieren wollen:

  1. dem theoretischen Schema der Aneignung der Macht;
  2. dem Thema der Lokalisation der Macht;
  3. dem Thema der Unterordnung;
  4. dem Thema, „nach dem die Macht innerhalb der Ordnung der Erkenntnis nie anderes als ideologische Wirkungen produziert“ (MdM 114).


Demnach müssen wir von einer Allgegenwart der Macht sprechen, denn da „sie von überall kommt, ist die Macht überall“ (WzW 114). Sie ist nicht im Besitz einer Person, Gruppe oder Klasse. Sie ist nicht eine Institution oder eine Struktur. Machtverhältnisse sind soziale Beziehungen und Praktiken, die nicht als etwas Äußeres auf diese einwirken.

Disziplinarmacht

In Überwachen und Strafen hat Foucault die Disziplinarmacht bzw. die Disziplinartechnologien anhand der Geburt des Gefängnisses analysiert. Die Disziplinen bilden die Mikropyhsik einer neuen Macht, die die alte Macht des Souveräns ablöst. Die Disziplinarprozeduren, die im Kloster, dem Labor effizienter und „nützlicher“ Disziplinartechniken angewandt wurden, sich dann auf Armeen und Werkstätten ausdehnten, waren im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu allgemeinen Herrschaftsformen geworden.

Im Zentrum der neuen Technologie der Macht steht die „Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht“ (ÜuS 174). Die Disziplinen als Kern der neuen Machtverhältnisse sind nicht - wie schon oben erwähnt - in dieser Phase der Transformation der Gesellschaft „erfunden“ worden, sondern haben sich verallgemeinert und über den gesamten Gesellschaftskörper ausgedehnt. Begleitet wurde dieser Prozeß durch ökonomische, rechtlich-politische und wissenschaftliche Neuerungen des „Klassischen Zeitalters“.

„Das Machtsystem, das aufzurichten der Monarchie seit dem Ende des Mittelalters gelungen war, stellte für die Entwicklung des Kapitalismus zwei große Nachteile dar. Erstens war die politische Macht, so wie sie im sozialen Körper ausgeübt wurde, eine sehr diskontinuierliche Macht. Die Maschen des Netzes waren zu groß, eine fast unendliche Zahl von Dingen, Elementen, Verhalten, Vorgängen entzog sich der Kontrolle der Macht“ (MM 30).

Es entstand eine Disziplinargesellschaft, die die Macht gezielt auf die Individuen und ihre Körper richtet. Die neuen Mechanismen der Macht wurden nicht vom Kapitalismus erfunden, sondern die „neue Ökonomie der Macht“ (DdM 35) schuf einige zentrale Voraussetzungen für die ökonomische Formation des Kapitalismus. Mit Hilfe der Disziplinen konnte der Kapitalismus einen effektiven Produktionsraum und Produktionskörper schaffen. Die Maschen wurden enger geknüpft, damit sich nichts mehr der Kontrolle und Überwachung der Macht entziehen konnte.

„Die Disziplin ist im Grunde der Machtmechanismus, durch den es uns gelingt, im sozialen Körper auch die winzigsten Elemente zu kontrollieren, durch die es uns gelingt, auch die sozialen Atome selbst zu erreichen, das heißt die Individuen: Individualisierungstechniken der Macht. Wie jemanden überwachen, sein Verhalten kontrollieren, sein Betragen, seine Anlagen, wie seine Leistung steigern, seine Fähigkeit vervielfachen, ihn dorthin stellen, wo er nützlicher ist. Das ist, meiner Meinung nach, die Disziplin“ (MM 31).

Die Disziplinen dienen der Fabrikation zuverlässiger Menschen. Die Formierung der Körper durch die Macht basiert auf die „räumliche Verteilung der individuellen Körper“ (LuS 29), auf ihrer Trennung, Ausrichtung, Reihung und Überwachung. Die Disziplin nimmt dafür das Modell der klösterlichen Klausur zum Vorbild. Weiterhin spielt die Zeitplanung bei allen Disziplinen eine große Rolle. Die Zeitplanung wurde ebenfalls in den klösterlichen Gemeinschaften entwickelt und breitete sich rasch aus. „Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht“ (ÜuS 195). Alle Tätigkeiten der Individuen unterliegen einer zeitlichen Durcharbeitung, es werden Rhythmen eintrainiert und Wiederholungszyklen festgesetzt.

„Die Disziplinartechniken sind beliebig verfügbar, sie dienen der allgemeinen Steigerung und Effektivierung der Macht. Sie dringen in das Militär, die Fabriken, die psychiatrischen Anstalten, die Schulen und Hospitäler ein, und jede dieser Institutionen bestimmt auf ihre Weise die Zwecke und die Struktur des Machteinsatzes“ (Neuenhaus 1993, 57).

Die Mittel der guten Abrichtung

Die Disziplinen als „Mittel der guten Abrichtung“ waren so erfolgreich, weil sie folgende einfache Instrumente einsetzten: den hierarchischen Blick, die normierende Sanktion und der Kombination im Verfahren der Prüfung.

Der hierarchische Blick wird durch „die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit“ (LuS 29) der individuellen Körper gewährleistet. Die „Ökonomie der Sichtbarkeit“, die durch eine veränderte Architektur geschaffen wird, kann an Schulen, Krankenhäusern, Kasernen und Fabriken demonstriert werden. In der Fabrik geht es darum, den gesamten Produktionsprozeß zu überwachen, diese Überwachung wird durch Angestellte, AufseherInnen, Kontrolleure, und VorarbeiterInnen sichergestellt. Dafür ist es aber notwendig, den Produktionsprozeß so zu organisieren, daß er auch überwachbar und kontrollierbar ist. Die Kontrolle wird zu einem notwendigen und integrierten Moment des Produktionsprozesses. Kontrolle und Überwachung werden zwar von Individuen durchgeführt, aber sie wirken „wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz 'hält' das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher. In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert“ (ÜuS 228f).

Die normierenden Sanktionen spezifiziert den Blick, indem sie ihn auf jede geringfügige Abweichung von der Regel richtet, denn: „Strafbar ist alles, was nicht konform ist“ (ÜuS 231). Die Abweichungen zu reduzieren, sie zu korrigieren ist die Aufgabe der Disziplinarmacht, sie folgt der Mechanik der Dressur: „Richten ist Abrichten“ (ÜuS 232). Innerhalb der Disziplinen ist die Bestrafung nur ein Element. Sie ist eingebunden in ein System „von Vergütung und Sanktion, von Dressur und Besserung“ (ÜuS 232). Es geht um „die Qualifizierung der Verhaltensweisen und Leistungen auf einer Skala zwischen Gut und Schlecht“ (ÜuS 233). Es wird eine „Strafbilanz“ angelegt, auf deren Grundlage sich eine „Mikro-Ökonomie“ von Bestrafung und Belohnung organisieren läßt. Das Strafsystem gehört in den Kreislauf der Erkenntnis der Individuen. „Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend“ (ÜuS 236).

Nach Foucault verbindet das Verfahren der Prüfung die Techniken der hierarchischen Überwachung mit jenen der normierenden Sanktion. Es stellt eine Verknüpfung einer bestimmten Form der Machtausübung mit einem bestimmten Typ der Wissensformierung dar. Die Prüfung „ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt. Darum ist in allen Disziplinaranstalten die Prüfung stark ritualisiert. In ihr verknüpfen sich das Zeremoniell der Macht und die Formalität des Experiments, die Entfaltung der Stärke und die Ermittlung der Wahrheit. Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden“ (ÜuS 238).

Die Bedeutung der Prüfung wird vor allem in den Spitälern und Schulen sichtbar. Die regelmäßige Visite in den Spitälern ist ein Ausdruck davon. Durch die häufige Wiederholung der Visite, durch geregelte Beobachtung verwandelt sich das Spital in einen medizinischen Prüfungsapparat. Die Schule wird ebenfalls immer mehr zu einem pausenlos funktionierenden Prüfungsapparat. Hier geht es um den ständigen alltäglichen Vergleich, der zugleich Messung und Sanktion ist. Durch die Prüfung findet eine Umkehrung der absolutistischen Ökonomie der Sichtbarkeit statt.

„Die kaum auszuhaltende Sichtbarkeit des Monarchen wendet sich in die unerbittliche Sichtbarkeit der 'Subjekte'. Und diese Umkehrung der Sichtbarkeit im Funktionieren der Disziplinen sollte die Ausübung der Macht bis in die feinsten Details hinein sicherstellen. Man tritt ins Zeitalter der Überprüfung und der zwingenden Objektivierung ein“ (ÜuS 243).

Die Subjekte werden zu Objekten einer permanenten Beobachtung, diese macht die Individualität der Subjekte dokumentierbar. Über die Krankheiten, das Verhalten und die Fähigkeiten der Individuen wird ausführlich Buch geführt. Jedes Individuum wird mit Hilfe der Dokumentationstechniken zu einem „Fall“, einem Fall, „der sowohl Gegenstand für eine Erkenntnis wie auch Zielscheibe für die Macht ist“ (ÜuS 249). Die Prüfung erbringt durch die Kombination der hierarchischen Überwachung und der normierenden Sanktion „die großen Disziplinarleistungen der Verteilung und Klassifizierung, der maximalen Ausnutzung der Kräfte und Zeiten, der stetigen Anhäufung und optimalen Zusammensetzung der Fähigkeiten“ (ÜuS 247f). Die Disziplinen tendieren dazu, ihre Machtmechanismen über die Disziplinarinstitutionen hinaus auszuweiten, sich zu „desinstitutionalisieren“. Sie verlassen ihre geschlossenen Festungen und beginnen „frei“ zu wirken.

Bio-Macht

Die Transformation der Machtverhältnisse geschah vor dem Hintergrund, daß die Souveränitätsmacht sich außerstande sah, „den ökonomischen und politischen Körper einer Gesellschaft zu regieren, der zugleich eine demographische Explosion und die Industrialisierung durchläuft“ (LuS 37). Die Disziplinen im 17. und 18. Jahrhundert, die auf den individuellen Körper gerichtet waren, war eine erste Akkomodation der Mechanismen der Macht. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer zweiten Akkomodation „an die globalen Phänomene, an die Phänomene der Bevölkerung mitsamt den biologischen und bio-soziologischen Prozessen der Massenmenschen“ (LuS 37). Zu diesem Zeitpunkt tritt die „Bevölkerung“ in die Geschichte ein; die Regierungen hatten entdeckt, daß sie es nicht nur mit Untertanen oder bloß mit einem „Volk“ zu tun hatten. Die zweite Akkomodation reagierte auf das „Auftreten der 'Bevölkerung' als ökonomisches und politisches Problem: die Bevölkerung als Reichtum, die Bevölkerung im Gleichgewicht zwischen ihrem eigenen Wachstum und dem ihrer Ressourcen“ (WzW 37f).

Diese neue Aufmerksamkeit, die auf die „Bevölkerung“ gerichtet ist, bildete neue regulierende Kontrolltechnologien heraus, die „die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen“ (WzW 166) zum Gegenstand hat. Foucault spricht deshalb von der „Bio-Politik der Bevölkerung“ (WzW 166).

„Nach einer ersten, auf den Körper gerichteten Ergreifung durch die Macht, die sich gemäß dem Modus der Individualisierung vollzieht, gibt es eine zweite Ergreifung durch die Macht, die nicht individualisierend ist, sondern massenkonstituierend wirkt, die nicht auf den Körper-Menschen, sondern auf den Spezies-Menschen gerichtet ist“ (LuS 30). „Es geht vielmehr um einen neuen Körper, einen multiplen Körper, einen Körper mit zahllosen Köpfen. Es ist das Konzept der Bevölkerung. Die Bio-Politik befaßt sich mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als biologischem Problem und als Problem der Macht“ (LuS 33).

Die Bio-Politik als nicht-disziplinäre Machttechnik, die ich auch als Regulationsmacht bezeichnen möchte, befaßt sich mit der Regulation der „Bevölkerung“. Dazu bringt Bio-Macht technologisches Wissen hervor, dabei „handelt es sich um die Demographie, um die Abschätzung des Verhältnisses zwischen Ressourcen und Einwohner, um die Tabellierung der Reichtümer und ihrer Zirkulation, der Leben und ihrer wahrscheinlichen Dauer“ (WzW 167).

Der Bio-Macht liegt ein verändertes Verhältnis zum Leben und zum Tod zugrunde. Ebenso wie innerhalb der „Ökonomie der Sichtbarkeit“ findet auch hier eine Umkehrung statt. Das Recht des Souveräns bestand darin: sterben zu machen und leben zu lassen. Die Bio-Macht kehrt dieses Prinzip um, es wird ein neues Recht installiert: „Das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen“ (LuS 28). Die „Macht zum Leben“ kennt den Tod nicht mehr. Das Leben ist in den Blickpunkt der Macht geraten. Da die Entwicklung des Kapitalismus „ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre“ (WzW 38), bekommt die Bio-Regulierung durch den Staat und sub-staatliche Institutionen eine zentrale Bedeutung. So entstehen eine Reihe von Regulierungsmechanismen, die u.a. auf die Natalität (Geburtenhäufigkeit), Mortalität (Sterblichkeitsziffer) und Morbidität (Krankheitsstand) der Bevölkerung zielen.

Neben der Medizin und der Hygiene ist die Sexualität zu einem Feld von strategischer Bedeutung für die Bio-Macht geworden. Dies hat ihre Gründe in der „privilegierten Position der Sexualität zwischen Organismus und Bevölkerung, zwischen dem Körper und den globalen Phänomen“ (LuS 39). Die Sexualität ist einerseits ein streng körperliches Verhalten, „das von einer disziplinären, individualisierenden Kontrolle in Gestalt permanenter Überwachung festgehalten wird“ (LuS 39) und andererseits fügt sie sich durch die Zeugungseffekte in die biologischen Prozesse der „Bevölkerung“ ein. Damit befindet sich die Sexualität „genau an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung. Folglich gehört sie zur Disziplin, zugleich aber gehört sie auch zur Regulierung“ (LuS 90). Hierin sieht Foucault unter anderem die Gründe für die Vermehrung der Diskurse des Sexes seit dem 18. Jahrhundert. Durch die privilegierte Position der Sexualität findet auch eine medizinische Aufwertung derselben statt.

Daneben befaßt sich die Medizin auch mit neuen pathologischen Phänomenen der Bevölkerung: am Ende des 18. Jahrhunderts geht es nicht mehr allein um Epidemien, sondern es treten jene Probleme in der Vordergrund, die Foucault als Endemien bezeichnet. Endemien sind Krankheiten, die in bestimmten Gebieten ständig auftreten, wie z.B. Malaria. Foucault meint hier aber keinen geographischen Ort, sondern die „Bevölkerung“ oder bestimmte soziale Gruppen als Ort von Endemien. In den Blickpunkt der Bio-Macht gerät „die Form, die Natur, die Ausdehnung, die Dauer, die Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten“ (LuS 31). Bei diesen Krankheiten handelt es sich nicht um Epidemien, wie Pest oder Cholera, sondern um „permanente Faktoren des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Schwindens der Energie“ (LuS 32). Es geht also nicht um Krankheiten, die den Tod bringen, sondern um solche die das Leben brutal niederwerfen, Krankheiten, die einen ökonomischen Kostenfaktor darstellen, da sie die Produktivität der Bevölkerung hemmen. So finden Kampagnen zur Lehre der Hygiene und eine Medikalisierung der Gesellschaft statt. Die Hygiene und die Medizin sind ein Macht-Wissen, „das sich zugleich auf den Körper und auf die Bevölkerung richtet“ (LuS 49). Sie weisen folglich disziplinäre und regulierende Effekte auf. In diesem Zusammenhang gestattet es die Norm „zugleich die disziplinäre Ordnung des Körpers und die Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt zu kontrollieren“ (LuS 40).

„Die Norm, das ist das, was sich ebensogut auf einen Körper, den man disziplinieren will, und auf eine Bevölkerung, die man regulieren will, beziehen kann. Die Normalisierungsgesellschaft ist folglich unter diesem Gesichtspunkt keine verallgemeinerte Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen ausgeschwärmt wären und schließlich den gesamten Raum erfaßt hätten - dies ist (...) nur eine erste unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich gemäß einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden“ (LuS 40).

Normalisierungsgesellschaft und Rassismus

Wir als Individuen befinden uns im Inneren einer Macht, die den Körper und das Leben besetzt hat. Die Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Macht. Doch die Normalisierungsmacht steht auch vor einigen Problemen, denn die „Macht zum Leben“ findet sich in Situationen wieder, in denen sie das alte souveräne Recht des Tötens ausüben will, sei es, sie will die eigene Bevölkerung in den Krieg gegen eine andere schicken, sei es, sie will politische GegnerInnen eliminieren: „Das Töten, der Imperativ des Tötens, sind im System der Bio-Macht nur dann zulässig, wenn sie nicht nach dem Sieg über den politischen Gegner streben, sondern danach, die biologische Gefahr zu eliminieren und, mit dieser Eliminierung direkt verknüpft, die Spezies oder die Rasse zu stärken“ (LuS 43).

Foucault versteht hier unter Tötung nicht nur „einfach die direkte Tötung, sondern auch all das, was zu einem indirekten Tod führt: jemanden der Gefahr des Todes aussetzen, das Todesrisiko für bestimmte Menschen vervielfachen oder einfach den politischen Tod, die Vertreibung, die Zurückweisung usw.“ (LuS 43).

Mit dem Auftreten der Bio-Macht wird deshalb der Rassismus in die Mechanismen des Staates eingefügt. Innerhalb der „Ökonomie der Bio-Macht“ wird die Funktion des Todes über den Rassismus gesichert. „Die Rasse, der Rassismus, das ist die Akzeptabilitätsbedingung des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft. Dort, wo Sie eine Normalisierungsgesellschaft vorfinden, dort, wo Sie eine Macht vorfinden, die zumindest in erster Instanz, in erster Linie eine Bio-Macht ist, dort ist der Rassismus notwendige Bedingung dafür, jemanden zum Tode bringen zu können, die anderen töten zu können. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch den Rassismus“ (LuS 43).

Die staatliche Politik nutzt die Instrumente, Mechanismen und Technologien der Macht. Grundwerte des Normalisierungsdenkens, wie Gesundheit, Schönheit, Fitneß und Leistungsfähigkeit, müssen im Alltag sowohl der Individuen als auch der gesamten „Bevölkerung“ verankert werden. Allem was der Normalisierung widerstrebt, wird unterstellt krank, häßlich und erschöpft zu sein. Nach dieser Logik dürfen sich nur „Gesunde“ fortpflanzen, und die „Volksgesundheit“ hat oberste Priorität. Der Nationalsozialismus war für Foucault eine Normalisierungsgesellschaft, „die die Bio-Macht absolut generalisiert hat, die aber zugleich die souveräne Macht des Tötens generalisiert. (...) Der Nazi-Staat hat das Feld eines Lebens, das er verbessert, schützt, garantiert und biologisch kultiviert, und zugleich das souveräne Recht, jedermann zu töten - nicht nur die Anderen, sondern auch die Seinen - absolut zur Deckung gebracht“ (LuS 47).

Machtverhältnisse und Herrschaftszustände

Erst in seinem Spätwerk beginnt Foucault zwischen Macht und Herrschaft zu differenzieren. Eine Überarbeitung der Foucault'schen Machtanalyse aufgrund dieser Differenzierung ist bis heute nicht geschehen. Trotzdem bleibt die Foucault'sche Machtanalyse eine der interessantesten für ein anarchistische Ordnung der Gesellschaft, da sie in ein „philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik“ (Schäfer 1995) eingebettet ist.

In dem Interview Freiheit und Selbstsorge macht Foucault einige wichtige Aussagen über den Zusammenhang von Freiheitspraktiken, Machtverhältnissen und Herrschaftszuständen. Auf die Frage, ob die Ausübung von Freiheitspraktiken einen gewissen Grad an Befreiung voraussetzen würde, antwortet er: „An dieser Stelle muß man den Begriff der Herrschaft einführen. Die Analysen, die ich durchzuführen versuche, gelten im wesentlichen den Machtbeziehungen. Darunter verstehe ich etwas, das von den Herrschaftszuständen verschieden ist. In den menschlichen Beziehungen haben Machtbeziehungen eine außerordentlich große Ausdehnung. Nun soll das nicht besagen, daß die politische Macht überall ist, sondern daß menschliche Beziehungen ein ganzes Bündel von Machtbeziehungen sind, die zwischen den Einzelnen, in der Familie, in einer pädagogischen Beziehung, im politischen Körper etc. existieren können“ (FuS 11).

Herrschaftszustände treten für Foucault dann ein, wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, „ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen“ (FuS 11). Dies kann mit ökonomischen, politischen oder militärischen Mitteln geschehen. Ein Herrschaftszustand ist demnach die Verhinderung der Umkehrung der Bewegung. In dieser Situation gibt es entweder keine Freiheitspraktiken oder diese sind extrem eingeschränkt und begrenzt oder nur einseitig. Im Zusammenhang mit dem Vorhandensein von Herrschaftszuständen hält Foucault die Befreiung für die politische und historische Bedingung der Freiheit, und macht dies am Beispiel der Sexualität deutlich: „Wenn man das Beispiel der Sexualität nimmt, ist klar, daß bezüglich der Macht des Mannes eine ganze Reihe von Befreiungen nötig waren; daß es nötig war, sich von einer Zwangsmoral zu befreien, die Hetero- wie Homosexualität gleichermaßen betrifft. Aber diese Befreiung läßt das erfüllte und glückliche Sein der Sexualität nicht zutage treten, in der das Subjekt einer vollständige und befriedigende Beziehung erreichte. Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtverhältnisse, das dann aber von den Praktiken der Freiheit kontrolliert werden soll“ (FuS 11).

Foucault geht nicht von einer Repression der „natürlichen Sexualität“ aus, sondern von ihrer sozialen Erschaffung als Objekt des Wissens. Sexualität ist für Foucault keine von herrschenden Mächten unterdrückte freiheitliche Kraft. Sie ist ein wichtiger Schlüssel vom dem aus die (Bio-)Macht ihren Zugang zum Menschen organisiert. „Der Sex eröffnet den Zugriff sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Es dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen“ (WzW 174).

Nach der Befreiung des Sexes von den Herrschaftszuständen, wie z.B. Zwangsmoral und Zwangsheterosexualität, gilt es durch eine „reflektierte Praxis der Freiheit“ (FuS 12) eine Ethik der Freiheit über den Gebrauch der Lüste und eine Selbstsorge als „Kultur seiner Selbst“ (vgl. Sus 54ff) zu entwickeln.

Macht und Freiheit

In dem Text Das Subjekt und die Macht legt Foucault seine Auffassung von dem Zusammenhang von Macht und Freiheit dar: „Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt weichen); aber sie erscheint auch als das, was sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann, die letztendlich darauf ausgeht, sie vollkommen zu bestimmen. Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht zu trennen“ (SuM 256).

Auch Hinrich Fink-Eitel stellt einen Zusammenhang von Macht und Freiheit dar: „Macht gehört zur Definition von Freiheit und bezeichnet die Fähigkeit und Mittel, die es gestatten, das zu tun, was man will, gesetzt den Fall, man hat auch (unter günstigen Bedingungen) die Gelegenheit dazu. Im Gegensatz zu bloßer Willkür findet die Freiheit des Willens ihre Bedingung und Grenze an der Macht. Umgekehrt aber ist das Wollen auch Bedingung und Grenze der Macht, denn ich kann aus guten Gründen auch nicht wollen, was ich gleich kann“ (Fink-Eitel 1992, 38).

Staat und Befreiung

Als sich im 17. und 18. Jahrhundert die neuen Technologien der Macht formierten, entstanden auch die Armee, die Polizei und der moderne Staat. Die Analyse der Machtverhältnisse muß für Foucault über den Staat hinausgehen, denn die Macht kann nicht ausschließlich im Staat lokalisiert werden, denn der Staat und seine Apparate sind „tief eingemauert in das Innere eines Machtsystems“ (MdM 116) oder im Sinne von Nicos Poulantzas ist der Staat „ein Ort und ein Zentrum der Machtausübung, besitzt jedoch selbst keine eigene Macht“ (Poulantzas 1978, 136).

Der Staat ist nicht der Ursprung der Macht, sondern es fand „eine stetige Etatisierung von Machtverhältnissen“ (SuM 259) statt, „(auch wenn sie in den Bereichen der Pädagogik, der Justiz, der Ökonomie, der Familie nicht dieselbe Form angenommen hat). Wenn man sich diesmal an den engeren Sinn des Wortes 'Gouvernement' hält, kann man sagen, daß die Machtverhältnisse fortschreiten 'gouvernementalisiert', das heißt in der Form oder unter dem Schirm staatlicher Institutionen ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert worden sind“ (SuM 259).

Der Staat ist dadurch zum „Überbau“ in Bezug auf eine ganze Serie von Machtnetzen geworden, „die die Körper, die Sexualität, die Familie, die Verhaltensweisen, das Wissen, die Techniken usw. durchdringen, und diese Beziehungen werden ihrerseits von einer Art Über-Macht konditioniert und wirken konditionierend auf sie, die im wesentlichen um eine gewisse Anzahl großer Verbotsfunktionen herum strukturiert ist; aber diese Über-Macht mit ihren Verbotsfunktionen kann nur insofern wirklich greifen und sich halten, als sie in einer ganzen Reihe vielfältiger, nicht definierter Machtverhältnisse verwurzelt ist“ (DdM 39).

Der Staat ist ein soziales Verhältnis, das Machtverhältnisse in starre Herrschaftszustände verdichtet, trotzdem kann es nicht nur darum gehen, „das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen“ (SuM 250). Denn der Mensch, „zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er“ (ÜuS 42). Es müssen demnach neue Formen von Subjektivierung gefunden werden. Foucault hat diesen produktiven und hervorbringenden Moment folgendermaßen beschrieben:

„Für mich ist das, was produziert werden muß, nicht der mit sich selbst identische Mensch, so wie die Natur ihn entsprechend seinem Wesen entworfen haben soll. Wir müssen im Gegenteil etwas produzieren, was noch gar nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, wie und was es sein wird“ (KdR 6).

Anarchische Subjektivität

Die Freiheit des Individuums wird laut Foucault nicht allein durch die Befreiung von Staat erreicht, wir müssen uns auch von den gegenwärtigen Formen der Subjektwerdung befreien. Foucault geht nicht von einem „autonomen Subjekt“ aus, sondern das Subjekt unterliegt gesellschaftlichen Konstituierungsprozessen. Foucault - und auch Judith Butler - geht es um die Kritik folgender Subjektidee: „Das Subjekt geht seinem Handeln voraus: Es ist in der Lage, durch seine Intention die gewünschte Wirkung seiner Handlungen hervorzurufen. Die Intention ist eine Willenskraft, die dem Subjekt kraft seiner selbst zu eigen ist. Sie ist im Kern unbeeinflußt von der Welt, in der das Subjekt lebt. In dieser Vorstellung eines autonomen Subjekts unterliegen Handlungen ausschließlich dem diese ausführenden Subjekt, d.h. hinter jeder Tat steht eine/r Täter/in. (...) Die Idee eines autonomen, vorgängigen, voluntaristischen Subjekts schließt demnach die eines authentischen und eigentlichen Selbst immer ein. Im Gegensatz dazu geht es in einer Kritik dieser Subjektidee darum, daß sich das Subjekt innerhalb spezifisch historischer Verhältnisse konstituiert, nie abgeschlossen ist, sich als in einem permanenten Prozeß des Werdens befindet. Davon ausgehend müssen Möglichkeiten zur Veränderung dieser Verhältnisse so gedacht werden, daß diejenigen, die diese Verhältnisse verändern sollen, durch eben die konstituiert sind“ (Lorey 1996, 72f).

Für das Individuum bedeutet dies, daß es nicht nur Objekt von Machtverhältnissen und Herrschaftszuständen ist, sondern ein erster Effekt. Das Subjekt bzw. die Form der Individualität wird dadurch erst hervorgebracht. Jede Gesellschaft bringt ihre eigenen historischen Formen der Subjektivierung hervor. Die Menschen „haben sich nicht für diese Weise der Subjektivierung entschieden oder sie gewählt, sondern sie sind dazu gewissermaßen 'entschieden worden'„ (Schäfer 1995, 72). D.h. aber nicht, daß wir als Subjekte den herrschenden Verhältnissen und Praktiken willenlos ausgesetzt sind, und es für uns keine Möglichkeiten des Widerstandes und der Veränderung gibt.

„Da Individuen nicht nur durch Machtwirkungen konstituiert sind, sondern diese immer auch gleichzeitig (mit)hervorbringen, entstehen durch diese Gleichzeitigkeit immer Widersprüche, Verstärkungen, Abschwächungen und neue Praktiken. (...) Sie sind sowohl durch Macht- und Herrschaftsverhältnissen, konstituiert als auch diejenigen, die diese Praktiken hervorbringen“ (Lorey 1996, 149f).

Innerhalb der anarchistischen Gesellschaften müssen erst neue Formen der Subjektivierung und Individualität hervorgebracht werden, die eine anarchistische - d.h. auf Freiheit ausgerichtete - Individualität ermöglichen. In diesem Sinne gibt es auch keine Autonomie - im aufklärerisch-klassischen Sinne - des Individuums, da dieses immer auch ein Produkt gesellschaftlicher Konstituierungspraktiken ist, wichtig und zentral ist nur, daß diese Praktiken von allen Herrschaftszuständen befreit werden und es auch bleiben. Es muß in den anarchistischen Gesellschaften darum gehen, jedem Individuum eine „anarchische Subjektivität“ (Schäfer 1995, 53-76) zu ermöglichen, diese besteht darin, „sich kritisch gegen jede Form des Daseins zu verhalten, sich keiner Lebens-, Denk- oder Sprechweise verpflichtet zu wissen, kurz: der Welt nicht verfallen zu wollen“ (Schäfer 1995, 54). Es sollte in den anarchistischen Gesellschaften nicht darum gehen, dem Menschen eine bestimmte Form von Subjektivität und Individualität - um ihrer/seiner Freiheit willen - abzuverlangen, denn es geht hier um Freiheit „als die Fähigkeit, sich vom Zwangscharakter des Gegebenen, von der Eingebundenheit in die Selbstverständlichkeit des als 'wahr' geltenden Gegenwärtigen, zu lösen“ (Schäfer 1995, 44).

An dieser Stelle kommt auch die Foucault'sche Vorstellung von „Autonomie“ zu tragen. Er geht nicht - wie z.B. bei Kant - von einer Identität des ethischen Subjekt aus, daß das Individuum auf ein vermeintliches authentisches Selbst verpflichtet. Autonomie ist bei Foucault „die Fähigkeit und Bereitschaft von Individuen, sich immer wieder 'von sich selbst zu lösen' und mit sich zu 'experimentieren', d.h. bisher (wodurch auch immer) ausgeschlossene Arten des Selbstseins als Möglichkeiten anzuerkennen“ (Schäfer 1995, 49).

Exkurs: Stirner und Foucault

In diesem Exkurs möchte ich auf einige Gemeinsamkeiten zwischen Max Stirner und Foucault aufmerksam machen (vgl. Marti 1988, 125-131). Diese liegen nicht nur in der antinormativen und antiutopischen Haltung von Stirner und Foucault, sondern auch in der intensiven Auseinandersetzung mit dem „Selbst“. Foucault selbst schlägt im Rahmen einer Wiederherstellung einer Ethik und Ästhetik des Selbst vor, neben Montaigne, Baudelaire, Schopenhauer und Nietzsche auch Stirner neu zu lesen (vgl. HdS 54). Foucault ging es bei diesen Autoren um die Suche nach einer neuen Lebenskunst, nach einer „Technologie des Selbst“ (vgl. Schmid 1991). Auf die problematischen Seiten, wie z.B. die Verwandlung von Gewaltverhältnissen in Anerkennungsverhältnissen oder die mangelnde ökonomische Analyse von Stirner, möchte ich in diesem Exkurs nicht eingehen.

Ebenso wie Foucault begreift Stirner die Französische Revolution nicht unbedingt als Fortschritt und Befreiung. Für Stirner ist der Herrschaft der „souveränen Nation“ noch weniger zu entrinnen als die der Monarchen. Im Sinne einer Radikalisierung der Feuerbach'schen Religionskritik sieht er in der Säkularisierung und im bürgerlichen Humanismus allein noch keinen Fortschritt. Gegen Feuerbach wendet Stirner ein: „Egoismus und Menschlichkeit (Humanität) müßten das Gleiche bedeuten, aber nach Feuerbach kann der Einzelne (das 'Individuum') 'sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmung seiner Gattung'. Allein die Gattung ist nichts, und wenn der Einzelne sich über die Schranken seiner Individualität erhebt, so ist dies vielmehr Er selbst als Einzelner, er ist nur, indem er sich erhebt, er ist nur, indem er nicht bleibt, was er ist; sonst wäre er fertig, tot“ (Stirner 1972, 200). Ebenso wie Stirner stellt auch Foucault den humanistischen Konsens seiner Zeit radikal in Frage.

Stirner beobachtet im Säkularisierungsprozeß und durch die Aufklärungsvernunft eine Verinnerlichung von Normen und der Fortschritt und der Humanismus erschienen ihm als „Dressur“ zur Menschlichkeit. Foucault konnte diese These der zunehmenden Normierung und Disziplinierung („Dressur“) der Individuen im Rahmen seiner Studien durch zahlreiches sozialgeschichtliches Material belegen. Auch Foucault versteht seinen „Antihumanismus“ als Absage an Feuerbach (vgl. auch Seibert 1997). Bei Foucault verwandelt sich die christliche Pastoralmacht im Säkularisierungsprozeß zur Disziplinarmacht, das christliche Beichtritual verallgemeinert sich im Geständnis (vgl. WzW 27ff).

Weder Stirner noch Foucault gehen von einem autonomen Subjekt aus, für beide geht es um die Konstitutionsprozesse des Selbst. „Ich setze Mich nicht voraus, weil Ich Mich jeden Augenblick überhaupt erst setze oder schaffe, und nur dadurch Ich bin, daß Ich nicht vorausgesetzt, sondern gesetzt bin, und wiederum nur in dem Moment gesetzt, wo Ich Mich setze, d.h. ich bin Schöpfer und Geschöpf in einem“ (Stirner 1972, 167). Im Gegensatz zu Foucault scheint Stirner ausschließlich von einem Selbstverhältnis auszugehen, d.h. ohne jedwedes „Nicht-Ich“ aus sich selbst heraus, wobei wir bei einem Problem im Stirner'schen Denken wäre, die/der Andere. Im Gegensatz dazu Foucault: „Man kann sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sich nicht um sich selbst sorgen, ohne einen Bezug zu einem anderen zu haben“ (WdA 17). Beim Selbst und beim Einzelnen geht es nicht darum, sich einem Ideal, Bild, Wesen oder Bestimmung des Menschen zu unterwerfen. Bei Stirner heißt es dazu: „Der Mensch ist nur ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes, Ein Mensch sein, heißt nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern sich, den Einzelnen, darstellen. Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie Ich Mir selbst genüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster“ (Stirner 1972, 200).

Das Selbst bei Stirner ist zwar kein natürliches mit sich authentischen und identischen Selbst, denn das Selbst wird jeden Augenblick neu konstituiert, aber er scheint die gesellschaftlichen Konstituierungspraktiken des Selbst nicht zu sehen (zum „Materialismus des Selbst“ bei Stirner vgl. Eßbach 1982). Diese „Schwäche“ ermöglicht eine individualistische Interpretation des Stirner'schen Denkens. Aber Henri Arvon hat zu Recht darauf hingewiesen: „Stirner ist kein Individualist“ (zitiert nach: Eßbach 1982, 122). Entscheidend ist welche Rolle die „Selbstliebe“ (Egoismus/Stirner) oder die „Selbstsorge“ (Foucault) hat, dient sie der Vorbereitung auf das politische Leben, dient sie einer Ethik und Praxis der Freiheit oder wird sie zum Selbstzweck, zum universalen Prinzip (vgl. GdL und Sus). Letzteres steht in den modernen Gesellschaften für einen radikal-bürgerlichen Individualismus.

Der Wiederentdecker von Stirner John Henry Mackay geht meiner Meinung nach in seinen Romanen Die Anarchisten und Der Freiheitssucher von einem autonomen Subjekt aus und so bleibt vom Stirner'schen Egoismus nur ein radikal-bürgerlicher Individualismus übrig. Es gibt keinen „realen Menschen“, der durch gesellschaftliche oder individuelle Befreiungsprozesse freigelegt werden könnte. Wichtig beim Neulesen von Stirner ist, daß der „Egoismus“ keine wissenschaftliche Kategorie ist, sondern ein Kampfbegriff, der kein Schlüssel zum sogenannten „Wesen des Menschen“ ist. Das Ego ist kein unzerstörbarer 'Kern' des Menschen, sondern es ist erfunden, es konstruiert sich.

Dekonstruktiver Anarchismus

Dekonstruktion könnte im Sinne einer „anarchischen Subjektivität“ eine wichtige Praxis des Anarchismus sein/werden, denn das Subjekt dekonstruieren „meint nicht verneinen oder abtun, sondern in Frage stellen“. „Eine Voraussetzung in Frage zu stellen, ist nicht das gleiche wie sie abschaffen; vielmehr bedeutet es, sie von ihren metaphysischen Behausungen zu befreien, damit verständlich wird, welche politischen Interessen in und durch die metaphysischen Plazierung abgesichert wurden“ (Butler zitiert nach: Lorey 1996, 17). Dekonstruktion richtet sich gegen alle Naturalisierungen und geht von der gesellschaftlichen Konstruktion der Begriffe und Kategorien aus. Dekonstruieren heißt verändern oder die Möglichkeit der Veränderbarkeit sichtbar machen. Dekonstruiert werden, müßten vor allem oppositionelle Begriffsrelationen wie z.B.: Natur/Kultur, passiv/aktiv, Materie/Diskurs, Körper/Geist, weiblich/männlich und öffentlich/privat. Die oppositionelle Begriffsrelationen „werden meist als Binarismen verstanden, d.h. als aus zwei Einheiten bestehend. Diese, sich gegenseitig ausschließenden Einheiten erhalten ihre Bedeutung erst in Relation zum jeweils anderen Part“ (Lorey 1996, 16). Dekonstruktion bedeutet hier, die immanenten Hierarchien innerhalb der Binarismen aufzuzeigen, sie zu deplazieren und zu verschieben. Butler geht davon aus, daß Begriffe oder die schon genannten Begriffsrelationen nicht ohne weiteres verabschiedet oder für falsch erklärt werden können.

Butler argumentiert, „daß eine kritische Position immer 'innerhalb' des Begriffssystems konstituiert ist, das verändert werden soll. Demnach gibt es nichts Unberührtes, Unverändertes, nichts, was in seinem natürlichen Zustand belassen und unabhängig oder außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse wäre. Mit anderen Worten: Sobald wir von etwas Unberührten, Natürlichem sprechen, ist es nicht (mehr) unverändert. Die Dinge bekommen ihre Bedeutung durch die Sprache. Sie haben sie nicht an sich“ (Lorey 1996, 15).

Die Begriffsrelation Natur/Kultur ist zentral für die Frage nach der Transformation der Gesellschaft, denn „Natur“ gilt als ursprünglich und unveränderbar, während Kultur ein Produkt der menschlichen Gesellschaften ist. Verschiebungen innerhalb des Binarismus Natur/Kultur ist die Frage nach der Veränderbarkeit. Naturalisierungen von gesellschaftlichen Verhältnissen sollen demnach die Unveränderbarkeit derselben dokumentieren. Wenn aber alle Dinge erst ihre Bedeutung durch die Sprache bekommen, ist letztendlich Natur immer von der Kultur überlagert/zugedeckt, und damit ist das Wahrnehmbare, Sichtbare und Sagbare auch veränderbar.

Ein dekonstruktiver Anarchismus muß die dekonstruktiven Ansätze radikalisieren, denn deplazieren und verschieben reicht nicht immer aus. Einige der Binarismen müssen grundsätzlich in Frage gestellt werden, wie z.B. die Zweigeschlechtlichkeit der Gesellschaft. Die Kategorien „Mann“ und „Frau“ führen dazu, daß inter- und transsexuelle Menschen als pathologisch begriffen werden, die durch medizinische und operative Maßnahmen normalisiert, also zu „Männern“ oder Frauen“ gemacht werden müssen. Von der Normalisierungsgesellschaft werden nur Frauen und Männer anerkannt, alles andere ist pathologisch. Zentral für diesen Prozeß ist, daß sich über die Konstruktion des Pathologischen die Norm konstituiert. Die mittlerweile geläufige Trennung zwischen „Sex“ (biologisches Geschlecht) und „Gender“ (soziales Geschlecht) reicht allein nicht aus. Innerhalb dieser Trennung wird „gender“ als „nachträgliche“ Über-/Verformung, kulturelle Interpretation von „sex“ betrachtet, damit wird aber der Binarismus Natur/Kultur reproduziert. Es wird von der Existenz eines natürlichen, ursprünglichen Körper in gesellschaftlich-voraus¬setzungs¬loser Form ausgegangen, dadurch wird die naturalisierende, biologistische Konzeption nicht aufgehoben, sondern lediglich in „Sex“ verlagert. Es muß davon ausgegangen werden, daß die Materialität des Körpers ein diskursiver Prozeß ist, und daß es keinen natürlichen, vor-diskursiven Körper gibt (vgl. Butler 1995, 49-84).

Dekonstruktiver Anarchismus soll keine neue anarchistische Strömung sein, sondern eine Form anarchi(sti)schen Denkens mit weitreichenden Konsequenzen im dem Umgang mit den herrschenden Kategorien und Begriffen.

Die Ordnung der Anarchie

Eine anarchistische Gesellschaft ist keine Gesellschaft, die durch die Abwesenheit von Macht gekennzeichnet ist, sondern die Ordnung einer anarchistischen Gesellschaft ist darauf ausgelegt, daß sich aus umkehrbaren Machtverhältnissen keine starren Herrschaftszustände entwickeln. Nach der Befreiung von den verschiedenen Herrschaftszuständen werden Felder für neue Machtverhältnisse geöffnet, die „dann aber von den Praktiken der Freiheit kontrolliert werden“ (FuS 11) müssen. Macht und Freiheit sind soziale Verhältnisse, die sich einander bedingen, das eine tritt nicht ohne das andere auf. „Macht wird nur auf 'freie Subjekte' ausgeübt und nur sofern diese 'frei' sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere 'Führungen', mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können. Dort wo die Determinierungen gesättigt sind, existiert kein Machtverhältnis; die Sklaverei ist kein Machtverhältnis“ (SuM 255). Wo die Freiheit eingeschränkt wird, verwandeln sich Machtverhältnisse in Herrschaftszustände.

Wenn wir anarchistische Gesellschaften ohne Staat erreichen und eine Neuentstehung von Staaten verhindern wollen, müssen wir gesellschaftliche Praktiken der Freiheit - ähnlich denen der sogenannten primitiven Gesellschaften - entwickeln, denn „die sogenannten primitiven Gesellschaften sind keine Gesellschaften ohne Staat in dem Sinne, daß sie ein bestimmtes Stadium nicht erreicht haben, sondern gegenstaatliche Gesellschaften die Mechanismen entwickeln, die die Staatsform verhindern und ihre Kristallisation unmöglich machen“ (Deleuze/Guattari 1992, 595). Diese Praktiken sind besonders für nach-staatliche Gesellschaften wichtig, da sie ständig mit der „Idee des Staates“ leben müssen, und somit die Gefahr der Neuentstehung permanent ist. Somit ist die Anarchie kein „friedliches Paradies“, sondern ein permanenter Krieg gegen die „Idee des Staates“ und seiner Neuentstehung. Ebenfalls bedrohen auch Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus u.a. Herrschaftszustände nach der Überwindung und Aufhebung die zukünftigen anarchistischen Gesellschaften.

Siglen der verwendeten Literatur von Michel Foucault:

  • AdM - Vorlesungen zur Analyse der Macht-Mechanismen 1978 - Das Denken des Staates. In: Der Staub und die Wolke, Grafenau 1993
  • DdM - Dispotive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978
  • FuS - Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault. In: Freiheit und Selbstsorge, hrsg. von Helmut Becker u.a., Frankfurt am Main 1985
  • HdS - Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung 1982. In: Freiheit und Selbstsorge, hrsg. von Helmut Becker u.a., Frankfurt am Main 1985
  • KdR - Kritische Theorie und Krise des Regierens. Ein Interview aus dem Jahre 1978. In: Tüte. Zur Aktualität von Michel Foucault. Die Krise des Regierens, Sonderbeilage, Tübingen 1994
  • LuS - Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus. In: Bio-Macht, DISS-Texte Nr. 25, Duisburg 1992
  • MdM - Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976
  • MM - Die Maschen der Macht. In: Freibeuter 63 - März 1995
  • SuM - Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L. / Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994
  • Sus - Die Sorge um sich, Sexualität und Wahrheit, Band 1, Frankfurt am Main 1989
  • ÜuS - Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977
  • WdA - Das Wahrsprechen des Anderen. In: Reuter, U. / Wolfstetter, L. / Kocyba, H. (Hrsg.): Das Wahrsprechen des Anderen, Frankfurt am Main 1988
  • WzW - Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit, Band 1, Frankfurt am Main 1983


Sonstige verwendete Literatur:

  • Althoff, Martina / Leppelt, Monika: „Kriminalität“ - eine diskursive Praxis. Foucaults Anstösse für eine Kritische Kriminologie, Münster/Hamburg 1995
  • Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 1970
  • Barclay, Harold: Völker ohne Regierung. Eine Anthropologie der Anarchie, Berlin 1982
  • Butler, Judith: Körper von Gewicht. In: Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995
  • Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1992
  • Eßbach, Wolfgang: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus - eine Studie über die Kontroverse Max Stirner und Karl Marx, Frankfurt am Main 1992
  • Fink-Eitel, Hinrich: Dialektik der Macht. In: Angehrn, Emil u.a. (Hrsg.): Dialektischer Negativismus, Frankfurt am Main 1992
  • Kondylis, Panajotis (Hrsg.): Der Philosoph und die Macht. Eine Anthologie, Hamburg 1992
  • Lorey, Isabell: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler, Tübingen 1996
  • Marti, Urs: Michel Foucault, München 1988
  • Müller, Jens Christian / Reinfeldt, Sebastian / Schwarz, Richard / Tuckfeld: Der Staat in den Köpfen. Anschlüsse an Louis Althusser und Nicos Poulantzas, Mainz 1994
  • Mümken, Jürgen: Die Ordnung des Raumes. Die Foucaultsche Machtanalyse und die Transformation des Raumes in der Moderne, Pfungstadt/Bensheim 1997
  • Neuenhaus, Petra: Max Weber und Michel Foucault. Über Macht und Herrschaft in der Moderne, Pfaffenweiler 1993
  • Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg 1978
  • Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg/München 1990
  • Schäfer, Thomas: Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt am Main 1995
  • Schmid, Wilhelm: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt am Main 1991
  • Seibert, Thomas: Die Abenteuer der Autonomie, das Ende des Menschen und die Fragen, die danach noch wichtig sind. Zur Kritik des philosophischen Humanismus. In: Die Beute 15 - 3+4/1997
  • Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972
  • Stowasser, Horst: Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft, Frankfurt am Main 1995


Originaltext: http://www.juergen-muemken.de/texte/artikel04.htm


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