Jens Herrmann - Das Vorzeigebeispiel: Die Kommune Niederkaufungen

Teil 9 der Artikelserie Politische Gemeinschaften aus der Zeitschrift "Rabe Ralf"

Die Wurzeln der Kommune Niederkaufungen liegen im Jahre 1983, als sich etwa 100 Leute aus Hamburg und Umgebung, meist aus akademischem Milieu, versammelten, um eine Kommune zu gründen. Gleich zu Anfang diskutierten sie über ihre Positionen und verfaßten das Grundsatzpapier der Kommune. Hier sind die Visionen der ProjektgründerInnen detailliert aufgeführt.

In dem Grundsatzpapier mit dem Titel "In Gefahr und höchster Not, bringt der Mittelweg den Tod!" [1] haben die ProjektteilnehmerInnen bereits sehr früh und recht detailliert ausgearbeitet, wie sie sich ein Leben in der Kommune vorstellen - und vor allem auch, warum sie so leben wollen.

Sie stellen fest, daß die Verfügungsgewalt über Kapital, Besitz und Produktionsmittel bei nur wenigen Menschen liegt, die damit Macht ausüben und über die Nicht-Habenden bestimmen können. Die Arbeit wird als entfremdet, oft sinnlos, stupide und krankmachend gekennzeichnet. Sie diene dazu, "nicht die ursprünglichen, sondern nur konsumorientierte, (...) entfremdete Bedürfnisse" abzudecken. Schließlich sei es auch eine Gesellschaft, in der "die Menschen sich und anderen entfremden - und das in allen Lebensbereichen - und, obwohl sie sich teilweise ihrer Lage, ihrer Ausbeutung bewußt sind, nichts dagegen unternehmen." Dabei gebe es vielfältige Mechanismen in der Gesellschaft, die den klaren Blick der Menschen verhinderten, der sie veranlassen könnte, die Einflüsse und Auswirkungen dieses Systems in eigener Verantwortung zu ändern. Als diese Elemente werden ausgemacht: die Kleinfamilie, die Erziehung zur Akzeptanz von Hierarchien (z.B. in Kindergarten und Schule) und damit das sich überall reproduzierende Konkurrenzverhalten und schließlich der Konsum.

Dieser Analyse wird ein positiv utopischer Teil entgegengestellt: "Ich will nicht mehr konkurrieren, beziehungslos und vereinzelt durch die Welt laufen. Ich will nicht mehr unter den herrschenden Bedingungen meine Arbeitskraft, meine Gesundheit, meine Energie ausbeuten lassen. Ich will mich nicht mehr in der Kleinfamilie verkriechen, die mich wieder fit macht für die Arbeit. Ich will nicht mehr konsumieren und all meine unerfüllten Wünsche vergessen. Ich will heute und hier das alles verändern. Ich will nicht warten auf eine neue, bessere Gesellschaft, ich will sie heute entwickeln, ich will heute anfangen zu leben."

Dabei ist es nicht die gesamtgesellschaftliche Perspektive, die den KommunardInnen vorschwebte. "Wir sehen selbst, daß wir mit dem Projekt, das wir beschreiben, keine gesamtgesellschaftliche Lösung anbieten können. Doch wir sehen für uns eine Chance darin, unsere Utopien angehen zu können. Wir sehen es als persönliches Experiment, in dem wir die Lebensumstände des einzelnen verändern, ohne sofort etwas gesamtgesellschaftliches verändern zu können." Als Grundsätze der Kommune legten sie einige zentrale Punkte fest:

  • Kein privater Besitz an Produktionsmittel
  • Selbstverwaltete Arbeitsbereiche
  • Veränderung der Lebensbedingungen
  • Folgen kleinfamiliärer Erziehung angehen
  • politisch-ökologische Prinzipien: Naturkreisläufe im Projekt berücksichtigen.


Weiter heißt es: "Wir verstehen die beschriebenen Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen als politisch bewußtes Handeln (...)." Dieses veränderte Politikverständnis laufe jedoch Gefahr, zu verkümmern, wenn man sich "auf eine Insel" oder in eine "mittelalterliche Dorfidylle" zurückziehe und sich nur noch um sich selbst kümmere. Deshalb sei es "notwendig, weiterhin Einfluß auf die Brennpunkte dieser Gesellschaft zu nehmen und ihnen entgegenzutreten, die Auseinandersetzungen und Diskussion mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zu suchen." Deshalb stellten sich die KommunardInnen eine räumliche Nähe zu einem Ballungsgebiet vor. "Politische Arbeit" soll dabei einerseits die freie Betätigung einzelner in gesellschaftlichen Gruppen, andererseits jedoch auch die Aktivität der Kommune als Gruppe sein.

Während man zunächst nur in der Region Hamburg nach geeigneten Objekten gesucht hatte, erweiterte die Gruppe schließlich ihren Suchradius. So kam sie Mitte 1986 auf ein Anwesen im Ortskern von Niederkaufungen bei Kassel. Es war von Preis und Größe her für die Gruppe attraktiv, so daß sie sich entschlossen, die Kommune dort zu starten. Im Dezember 1986 wurde der Kaufvertrag unterschrieben.

Da durch den langen Suchprozeß nur noch etwa 15 Erwachsene übrig geblieben waren, starteten diese eine große Werbeaktion. Ende 1987 war die Gruppe schon wieder auf 25 Erwachsene und 10 Kinder angewachsen. Die Arbeitsbereiche Bau, Landwirtschaft, Schreinerei, Tagungshaus, Kindertagesstätte und Verwaltung hatten sich bereits gegründet. Ebenfalls schon am Anfang gründete sich eine Frauengruppe in der Kommune, später auch eine Männergruppe. Inzwischen war die Kommune auf 30 Erwachsene angewachsen. Es entstand die erste Frauen-WG - und es kam zu Auseinandersetzungen über Sexismus, in deren Folge 1991 der "Abbau geschlechtsspezifischer Machtstrukturen" in die Grundsätze aufgenommen wurde.

1998 entstand das Papier "Der Traum ist aus - aber wir werden alles geben, damit er Wirklichkeit wird" [2], eine Bestandsaufnahme des Projekts. Zentrale Punkte des Grundsatzpapiers wurden darin konkretisiert:

Linkes Politikverständnis

"...ist sicherlich unser unpräzisester und dehnbarster Grundsatz". In der Realität reiche er von grün-ökologischen über marxistische bis hin zu anarchistischen Positionen. "Gemeinsames politisches Engagement" ist für die KommunardInnen die Arbeit in und an der Kommune, während politische Arbeit in anderen Bewegungen und Institutionen dem Engagement der Einzelnen überlassen bleibt.

Gemeinsame Ökonomie

...ist unterteilt in das Vermögen, das KommunardInnen bei ihrem Einstieg in die Kommune eingebracht haben, und geliehenem Geld, sowie die Einnahmen aus der Alltagsökonomie, vor allem die Löhne und Einkünfte der einzelnen Arbeitsbereiche und die Gehälter der außerhalb der Kommune Beschäftigten. Es wird eine gemeinsame Kasse betrieben, aus der die laufenden Ausgaben der KommunardInnen gedeckt werden. Dabei gilt das Bedürfnisprinzip, so daß es weder Taschengeld gibt noch die Kommune ein Askese-Projekt ist.

Konsensprinzip

...bedeutet in der Kommune, daß alle an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, daß es keine Mehrheitsabstimmungen und ein Vetorecht für jede/n gibt. Einmal wöchentlich gibt es dazu ein Plenum - eine "Vollversammlung", die sich in einem zweiten Teil in thematische Kleingruppen aufteilt. Ein ausgeklügeltes Informationssystem soll trotzdem allen die Möglichkeit geben, sich umfassend zu informieren. Entschieden wird letztlich immer im Plenum.

Abbau kleinfamiliärer Strukturen

Die gemeinsame Ökonomie und die (formelle) Gleichbewertung von Arbeit sollen die gesellschaftlich vorherrschende Rollenverteilung zwischen Ernährer und Hausfrau, "produktiver" und "reproduktiver" Arbeit aufheben. Auch die Einrichtung der Küche und der Kindergruppe als selbständige Arbeitsbereiche gibt den Eltern/Erziehenden Freiräume für ihre Arbeit und Freizeit. Schwieriger ist es mit den Wohn- und Beziehungsaspekten. So gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen des Lebens in Wohngemeinschaften innerhalb der Kommune. Vielfältige Beziehungsmuster reichen von der heterosexuellen festen Zweierbeziehung bis zur Mehrfachbeziehung oder lesbischen Beziehung. In der Gruppe gibt es ein vielfältiges Netz von Beziehungen und "selbstverständlich eine Menge von Konflikten, Reibungen, Auseinandersetzungen". Die persönlichen Konflikte sind dabei "die schwierigsten, langwierigsten und schmerzvollsten Probleme in der Kommune." Auch in der Kinderbetreuung zeigen sich Alternativen: Vormittags betreut die Kindertagesstätte die Kommunekinder und andere aus dem Dorf, nachmittags gibt es ein gemischte Modell der Betreuung. Manche Kinder werden ausschließlich von ihren Eltern, viele aber auch an manchen Tagen nachmittags von anderen KommunardInnen betreut. Außerdem werden Eltern nachmittags von ihren Kollektiven zur Kinderbetreuung freigestellt. Nach intensiven Diskussionen wurde eine "Kinderquote" von einem Drittel festgelegt, was von vielen als Notlösung empfunden wird.

Abbau geschlechtsspezifischer Machtstrukturen

Hier verweisen die KommunardInnen auf die real bestehenden Machtstrukturen im Geschlechterverhältnis - auch in der Kommune - und stellen ihre Ansätze dar, um diese abzubauen. Die Kindererziehung durch Frauen und Männer zu gleichen Teilen, die Aufwertung der Reproduktionsbereiche, den Putzplan für Männer und Frauen, die Praxis der Plenumsdiskussion in Kleingruppen, die "Berufstätigkeit" aller KommunardInnen - das sind Strukturen, die dazu beitragen sollen. Außerdem werden als sichtbare Zeichen Frauen-WGs und -gruppen, die Männer-Frauen-Quote in der Schreinerei, das weniger frauenfeindliche Sprachverhalten in der Kommune sowie die Seminare zu Frauenthemen im Tagungshaus genannt.

In der Beschreibung des Kommunealltags wird in dem Papier festgestellt: "Im Großen und Ganzen haben sich unsere Einschätzungen im Grundsatzpapier, was eine Begründung der Produktionsbereiche, einen Sinnzusammenhang und sinnvolle Arbeitsinhalte angeht, im kollektiven Arbeiten als praktikabel erwiesen". Unrealistisch sei jedoch das gleichzeitige Arbeiten in mehreren Arbeitsbereichen gewesen. Auch die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit bestehe in der Kommune weiter fort.

Im Umgang mit der Öffentlichkeit und ihren Außenkontakten haben die KommunardInnen den Anspruch, ihre Inhalte offensiv nach außen zu vertreten. Dies geschieht durch das Tagungshaus, als "Drehscheibe unserer Ideen", durch Seminare, Vorträge und Presseartikel in der Kommune und außerhalb, durch Hoffeste und die Beteiligung an bundesweiten und internationalen Kommunetreffen.

Auch der Einstieg und der Ausstieg aus der Kommune sind geregelt. Mit "Infowochenenden für EinsteigerInnen", "Kennenlernwochen" und schließlich der "Probezeit" gibt es einen mehrstufigen Kennenlern- und Auswahlprozeß der Kommune. "Nach der Probezeit müssen einsteigende Leute das Geld, das sie besitzen, in die Gemeinsame Ökonomie einbringen." Für den Fall des Ausstiegs schließt jede KommunardIn "einen individuellen, rechtsverbindlichen und dem Kommunekonsens unterworfenen "Ausstiegsvertrag" mit der Kommune" ab. Hier wird festgelegt, was und wieviel im Ausstiegsfall mitgenommen werden kann und welches die Leistungen der Kommune beim Ausstieg für die Person sind. Die Ausstiegsverträge sollen sich an den Bedürfnissen der Einzelnen orientieren.

In den letzten zehn Jahren kamen zahlreiche NeueinsteigerInnen zur Gruppe, es wurden neue Arbeitsbereiche gegründet wie die Näh- und Lederwerkstatt, die Satzmanufaktur und der Arbeitsbereich Architektur. Als jüngster Arbeitsbereich wurde 1998 das "Komm-Rat"-Kollektiv gegründet, das umfangreiche Beratungen für Gruppen und Kollektive anbietet. Außerdem regelte die Kommune ihre finanzielle Altersversorgung. 1999 waren insgesamt 54 Erwachsene und 17 Kinder in der Kommune.

Fußnoten:
[1] Kommune Niederkaufungen: "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod", Grundsatzpapier, Eigenverlag
[2] Kommune Niederkaufungen: "Der Traum ist aus, aber wir werden alles geben, daß er Wirklichkeit wird!", Kaufungen 1998

Kommune Niederkaufungen im Internet: www.kommune-kaufungen.de

Die ganze Serie kann als Original-Diplomarbeit gegen 5 € und einen frankierten (0,77 €) und adressierten A4-Papp-Umschlag beim Autor bezogen werden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Aus: DER RABE RALF - Die Berliner Umweltzeitung, c/o GRÜNE LIGA Berlin e.V., Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg www.grueneliga.de/berlin/raberalf

Originaltext: www.grueneliga.de/berlin/raberalf


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