Harry Pross - Will man «Anarchisten» als Sündenböcke? (1974)
Gegen fahrlässige Begriffsverwirrung und politische Manipulation - Fällige Klarstellungen von Harry Pross
«Haltet euch an Worte! Dann geht Ihr durch die sichere Pforte zum Tempel der Gewissheit ein.» Wer sich an diesen Ratschlag des Dichters hält, kommt in unseren Tagen nicht weit. Der «Tempel der Gewissheit» ist fern, und die «sichere Pforte» der Worte steht zwar weit offen, aber sie führt nicht dahin, wo der Dichter verspricht. Mehrdeutigkeit und Verschwommenheit kennzeichnen die Sprachen der Publizistik und der Politik, und je allgemeiner die Aussagen werden, desto geringer wird ihre Verbindlichkeit. Der Zustand ist durch die politischen Mordanschläge der letzten Wochen nicht gebessert worden. Sie haben Unsicherheit und Verwirrung hervorgerufen, und es käme jetzt darauf an, dass die Aussagen von Politik und Publizistik nicht über die erkennbaren Sachverhalte hinausgingen, um das Minimum an Gewissheit zu vermitteln, das in aktuellen Ereignissen vermittelt werden kann, die noch nicht abgeschlossen sind.
Das Gegenteil geschieht. Weder in amtlichen Verlautbarungen noch in der Berichterstattung stimmen auch nur die grundlegenden Begriffe. So muss die Verwirrung wachsen und das Vertrauen schwinden. Schwindet das Vertrauen in die Worte, so ist der Staat in Gefahr, weil er nur durch Worte zu begründen ist: Er steht und fällt mit der Überzeugung, dass die Worte, die zu seiner Rechtfertigung gebraucht werden, nicht leeres Geklingel sind, sondern bedeuten, was sie zu bedeuten vorgeben. Kann dieses Vertrauen in das öffentliche Wort nicht gehalten werden, so zerfällt der Handlungszusammenhang, den es bezeichnet.
Holger Meins
Am 9. November 1974 starb der Untersuchungshäftling Holger Meins nach fast zweimonatigem Hungerstreik. Er gehörte zu einer terroristischen Organisation, die sich «Rote Armee Fraktion» nennt. Die Ziele dieser Organisation sind durch eigene Verlautbarungen seit 1970 bekannt. Sie stützt sich in ihrer Strategie und Taktik auf Mao Tse Tungs «Theorie des Guerilla-Krieges», die seit Juni 1966 als rororo-Taschenbuch jedermann zugänglich ist. Man kann dort in einem einleitenden Essay von Sebastian Haffner auch nachlesen, warum diese Art Krieg, «bei der die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sind», auf Deutschland oder Europa nicht anwendbar ist. Die frühere Journalistin Ulrike Meinhof und der Kaufhausbrandstifter Andreas Baader und andere versuchen, den Gegenbeweis zu führen und die maosche Totalguerilla in Deutschland durchzusetzen. Daraus ergeben sich die Aktivitäten der sogenannten Baader-Meinhof-Gruppe, die sich selber «Rote Armee Fraktion» nennt, in kommunistischer Tradition.
Da man gewöhnlich auch in der politischen Sprache die Organisationen so benennt, wie sie selber firmieren, wäre zu erwarten, dass Behörden und Medien von der «Roten Armee Fraktion» berichten und nach dem jeweiligen Stand der Ermittlungen hinzufügen, dass diese «Rote Armee Fraktion» aus sechs oder sechzehn oder 60 Personen besteht, je nachdem. Stattdessen streitet man sich darüber, ob es Baader-Meinhof-Gruppe oder -Bande heissen müsse. Die «Rote Armee Fraktion» wird unterschlagen und durch «Anarchisten» ersetzt oder mit «Anarchisten» gleichgesetzt.
So berichtet DPA (die Deutsche Presse-Agentur) von der Beerdigung von Holger Meins am 18. November: «... ist am Montag in Hamburg der am 9. November nach fast zweimonatigem Hungerstreik gestorbene 33jährige Anarchist Holger Meins beigesetzt worden. Zur Beerdigung von Meins, der zum «harten Kern» der Baader-Meinhof-Gruppe gerechnet wurde, waren annähernd 1000 zumeist Angehörige extrem linker politischer Organisationen erschienen...» usw.
Kein «Anarchist»
Der zum «harten Kern» der maoistischen «Roten Armee Fraktion» gehörige Meins wird also als «Anarchist» begraben, der er nicht war. Den Berichterstatter stört das nicht, und es fällt ihm die Unhaltbarkeit der Bezeichnung «Anarchist» auch nicht auf, wenn er weiter meldet: «Anschliessend postierten sich Mitglieder der linksradikalen KPD/ML vor dem offenen Grab und entfalteten eine rote Fahne mit einem aus Hammer, Sichel und Gewehr bestehenden Emblem.»
«Der Spiegel» (18.11.) brachte es fertig, eine Titelgeschichte zum Tode von Meins, «Es werden Typen dabei kaputt gehen», mit der Unterzeile zu beginnen: «Selbst im Hunger-Koma machen Anarchisten dem Rechtsstaat noch zu schaffen», und zwei Seiten später einen «letzten Brief» des Verstorbenen abzudrucken, der mit den Sätzen schliesst: «Revolutionär, im Kampf - bei aller Liebe zum Leben: den Tod verachtend. Das ist für mich: dem Volk dienen – RAF.»
«Dem Volk dienen» ist, wie auch die Redaktion des «Spiegel» wissen könnte, letztlich eine kommunistische Parole, keine anarchistische. Warum verschweigt das Millionenblatt, dass die RAF-Genossen Kommunisten sind? Rote Fahnen, nicht die schwarzen der Anarchie.
Einen Tag nach dem Hungertod des Untersuchungshäftlings Holger Meins mordeten Unbekannte den Präsidenten des Berliner Kammergerichts, Günter von Drenkmann, in seiner Wohnung. Die politischen Gruppen und Parteien verurteilten den Anschlag in seltener Einmütigkeit. Der Berliner Justizsenator, Korber, erklärte den Mord für den Beginn einer grossen Terrorwelle, die auf uns zukomme. Heinrich Böll und andere befürchteten, der Mord an Drenkmann könne zum Anlass genommen werden, freiheitliche Rechte einzuschränken. Tatsächlich ist nicht auszuschliessen, dass er zum Menetekel wird, wie weiland die Ermordung des liberalen Schriftstellers Kotzebue durch den nationalistischen Studenten Sand.
Der marxistische Theoretiker Rudi Dutschke gab den Ton für die weitere öffentliche Darstellung des Falles, als er seine Gesinnungsfreunde aufforderte, keine falsche Solidarität mit Anarchisten zu pflegen. Da er am Grabe von Holger Meins auftrat und gesagt haben soll: «Holger, der Kampf geht weiter!», kann er diesen angeblichen Anarchisten nicht gemeint haben. Wohl aber ist das Interesse marxistischer Gruppen offensichtlich, eine in der öffentlichen Meinung abscheuliche Tat einer anderen Richtung zuzuschreiben, von der sie seit der Auseinandersetzung von Marx mit Proudhon und Bakunin nichts halten - den Anarchisten.
Hätte Dutschke fair argumentiert, hätte er seine marxistischen Freunde vor falscher Solidarität mit Gewalttätern und Terroristen warnen müssen; aber das eben erlaubt eine Ideologie nicht, die zwar den individuellen Terror verurteilt, den jeder auf sein eigenes Gewissen nehmen muss, aber nicht den Klassenterror, der durch die historische Auserwähltheit der Täter mit dem richtigen Parteibuch gedeckt ist.
Fahrlässigkeit…
Die Presse der Bundesrepublik nahm von solchen Nuancen keine Kenntnis. In der «Frankfurter Allgemeinen» schrieb Sabina Lietzmann gegen die rhetorischen Parallelen, die arabische UNO-Politiker zwischen Zionismus, Nazismus und südafrikanischem Rassismus zogen, aber die «Rote Armee Fraktion» blieb auch für diese Zeitung weiterhin eine «Anarchisten-Gruppe». In der «Süddeutschen Zeitung» erfand kein Geringerer als Müller-Meiningen jr. «Anarchisten-Anwälte». Der evangelische Bischof von Berlin wurde von einem christlichen Blatt als «Anarchisten-Bischof» denunziert, und die Leitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands wollte eine Stellungnahme zu den angeblichen Verstrickungen kirchlicher Mitarbeiter «in anarchistische Aktivitäten».
Schlagzeilen wie «Grossrazzia nach Anarchisten», «Mit härteren Gesetzen gegen Anarchisten», «Anarchisten-Pläne sehen langen Guerilla-Krieg vor» leiteten in der folgenden Woche Berichte über Reaktionen und Ermittlungen in Sachen «Rote Armee Fraktion» ein. In einem Bericht der «Süddeutschen Zeitung» vom 29. November wurde bei der Razzia gegen «Baader-Meinhof-Anarchisten» ein Mann verhaftet, der ein Funkgerät hatte, mit dem eventuell «deutsche Anarchisten Kontakte mit Terroristen in Grenzländern aufgenommen» haben könnten. Fünfmal schreibt der Verfasser Anarchisten, ehe er uns in einer Schlusszeile wissen lässt, dass bei dem Beschuldigten Habseligkeiten eines polizeilich gesuchten KPD/ML-Mitgliedes gefunden wurden.
Ist das noch Fahrlässigkeit oder schon politische Manipulation? Die Exekutive wird nun öffentlich tätig. Das Bundeskabinett verabschiedete am 27. November eine Reihe von Änderungsentwürfen zum Strafrecht und zur Strafprozessordnung. Von Bundeskriminalamt, Bundesinnenminister und der rheinlandpfälzischen Regierung kommen Dokumente an die Öffentlichkeit, die über die Häftlinge der «Roten Armee Fraktion», deren Pläne und Kommunikationen Aufschluss geben. Ihnen ist zu entnehmen, dass die maosche Totalguerilla konsequent geplant wird und Gestalt anzunehmen beginnt: Mit stetem langfristigem Guerilla-Krieg soll die «Diktatur des Proletariats» erreicht und eine sozialistische Gesellschaft aufgebaut werden.
...oder Absicht?
Wer aber glaubte, sich an die Worte der amtlichen Veröffentlichungen halten zu können, stellt fest, dass die Dokumentation über die Aktivitäten «anarchistischer Gewalttäter» aufklären will. Bei einer amtlichen Veröffentlichung im Moment einer Gefahr für das Leben noch unbekannter Opfer sollte Fahrlässigkeit ausgeschlossen sein. Man muss also annehmen, dass mit Absicht die Kommunisten der «Roten Armee Fraktion» als «anarchistische Gewalttäter» publiziert werden. Fragt die Presse nach diesem Widerspruch? Fragt sie, was dahinter steckt? Mitnichten. Sie übernimmt den amtlichen Sprachgebrauch, obschon es in der menschenrechtlich orientierten Demokratie nicht Sache der Justiz und der Polizeiminister ist, Ismen irgendwelcher Art zu verfolgen, weder Anarchismus noch Kommunismus, noch Kapitalismus. Die Gesetze kennen keine verbotenen Ismen, und auch der Anarchismus ist hierzulande im Gegensatz zur DDR und anderen kommunistischen Staaten nicht verboten. Wenn nun der Bundesminister für das Innere das Denken und Handeln von Gewalttätern dokumentiert, kann er das, weil sie Gewalttäter sind und Gewaltsames vorbereiten. Das Recht zur Verfolgung folgt aus der Gesetzwidrigkeit der Handlungen, nicht aus den Ismen. Man kann auch einen Menschen, der Tausende von Sparern um ihr Geld bringt, nicht deshalb belangen, weil er ein «kapitalistischer» Betrüger ist, sondern weil und wenn er betrügt.
Anarchistenhatz
Die Bezeichnung «anarchistischer» Gewalttäter ist völlig überflüssig, wenn der Gewalttäter einer ist. Wenn der Bundesinnenminister in seiner Bezeichnung die kommunistische Planung der Häftlinge verwischt und sie für anarchistisch ausgibt, so muss er sich die Frage gefallen lassen, ob bei dieser Augenwischerei vielleicht der Kollege vom Aussenministerium eine Rolle spielt, der um die guten Beziehungen zu kommunistischen Staaten besorgt sein könnte, wenn überall in den Schlagzeilen zur «Roten Armee Fraktion» nun «Kommunisten» statt «Anarchisten» erschiene? Aber die deutsche Publizistik stellt diese Frage nicht, und die Politiker von links bis rechts reisen gerne nach Moskau und Peking, wie es die «grosse Lage» befahl.
Ist also politische Manipulation im Zeichen der «Unheiligen Allianz» der Weltmächte die Ursache der Anarchistenhatz, nicht Fahrlässigkeit? Die politischen Kommunikationssysteme sind zu gut abgeschirmt, als dass jemand exakt feststellen könnte, wo die Absicht beginnt und die Ignoranz ihr entgegenkommt. Beides aber, Manipulation und Ignoranz, Absicht und Fahrlässigkeit, führt einer Psychose zu, die zur gewaltsamen Entladung drängt. Wird mit den vorgeblich verbrecherischen Anarchisten erst einmal eine Gruppe geschaffen, die in Ost und West als Sündenbock dient, so ist niemand mehr sicher, ihr nicht zugerechnet zu werden, am wenigsten das in der deutschen Geschichte rare liberale und libertäre Element. Werden erst einmal Kommunisten, die kriminell geworden sind, als «Anarchisten» verfolgt, so ist der nächste Schritt, dass Anarchisten, die nicht kriminell geworden sind, verfolgt werden, weil sie der Anarchie anhängen, die Immanuel Kant als «Gesetz und Freiheit ohne Gewalt» definiert hat.
Ein Rat des Teufels
Der deutsche Presserat verlangt in seinem Kodex Genauigkeit der Berichterstattung. Es ist mir nicht bekannt geworden, dass er sich mit den Pressestimmen zur «Roten Armee Fraktion» befasst hätte. Er täte gut daran. Die Pressefreiheit ist nicht nur durch wirtschaftliche Konzentration gefährdet, sondern auch durch die Unfähigkeit von Journalisten, sorgsam mit dem Wort umzugehen.
«Haltet Euch an Worte! Dann geht Ihr durch die sichere Pforte zum Tempel der Gewissheit ein.» Der Dichter legt den Ratschlag nicht umsonst dem Teufel in den Mund.
Originaltext: Zeitgeist, Dezember 1974 (dies hat den Text wiederum einer Beilage der politisch-kulturellen Wochenausgabe der Basler National-Zeitung vom 14.12.1974 entnommen). Digitalisiert von www.anarchismus.at