Revolutionsbräuhof - Anarchistische Utopien heute (Kurztext)

Einleitung

Alles steht in Frage. Kein Stein soll auf dem anderem bleiben. Nichts wird so hingenommen, wie es ist. Wir akzeptieren die Welt ganz einfach nicht so; nicht ihre Zwänge, nicht die Hierarchien, nicht das Oben und Unten, nicht die Frauenunterdrückung, nicht das ganze System von Ausbeutung und Unterdrückung. Und wir meinen, dass es sich gerade heute lohnt, über gesellschaftliche Utopien nachzudenken. Über ein ganz anderes Leben. Ja, wir meinen, dass sich das lohnt: Angesichts von politischem Rechtsruck und allgegenwärtigem Rassismus. Verschärfter Lohndrückerei und Arbeitshetze. Innerer Mobilisierung gegen einen imaginären Feind und verschärfter Aufrüstung von Polizei und Militär. Angesichts dessen, dass behauptet wird, mit dem Niedergang des realen Sozialismus sei das „Ende der Geschichte“ gekommen. Nein, wir sagen: Die Geschichte hat gerade erst begonnen. Eine herrschaftslose, anarchistische Gesellschaft ist möglich und machbar. Gegen die Welt von heute…

…die Utopie von morgen

Die Ökonomie: Kein Arbeitszwang, kein Privateigentum an Produktionsmittel. Industrielle Überflussproduktion. Jedem nach seinen Bedürfnissen, nicht nach Leistung - und zwar von Anfang an, ohne „Übergangsphase“. Kein Geld, auch keine Tauschwirtschaft, statt dessen Planung der Produktion. „Planung“ bedeutet hier - damit keine Missverständnisse aufkommen - freiwillige Absprache, bedeutet Bedarfserhebung, bedeutet zu schauen, wer ist bereit, wo wann, wieviel zu arbeiten, ohne Zwang, ohne irgendwelche Nötigung. „Gearbeitet“ wird ohne Hierarchien, ohne Chef und Vorarbeiter. Strukturen und Koordination braucht es trotzdem? Natürlich: Aber müssen sie unbedingt mit einer Machtposition verbunden sein? Braucht es Macht nicht dazu, etwas durchzusetzen, was jemand freiwillig nicht machen würde? Ja, richtig gehört: Zentrales Moment einer anarchistischen Gesellschaft ist Regelung aller Angelegenheiten ohne Befehlsgewalt für irgend jemanden. Das soll nicht gehen? Entscheidungsfindung in einer so komplizierten Gesellschaft wie der unseren geht ohne Hierarchie gar nicht? In einem „Kommunikationszeitalter“, in dem wir ja angeblich leben, wo alle möglichen Mitteln der Informationsverbreitung wohlfeil zu haben sind? Wo noch niemals zuvor Meinungsaustausch und gesellschaftliche Debatte so einfach gewesen wären? Sehr viele Menschen können sich auf nichts einigen? Warum denn nicht? Man muss sich auch nicht immer auf eine bestimmte Sache einigen, man kann auch mehreres nebeneinander zulassen. So dass trotzdem alle zu ihrem kommen. Zentrale Voraussetzung dafür allerdings ist: Überproduktion an Gütern. Denn die menschliche Geschichte ist eine, die von Armut und Mangel handelt. Und von Herrschaft als einzigem Mittel, selber, als Einzelner, dieser Armut zu entkommen. Und sie gerade dadurch immer fester zu zementieren.

Exkurs: Die Welt von morgen ist nicht heute fertig

Wir verhehlen auch nicht - und das soll an dieser Stelle relativ deutlich gesagt werden - dass wir keine fertigen Rezepte haben. Dass auch nichts so sein muss, wie wir ausgerechnet uns das einbilden. Was wir tun, ist Vorschläge zu machen, Probleme einmal anzudenken. Wir wollen auch nicht Utopia am Reißbrett entwerfen. Eine anarchistische Gesellschaft wird so sein, wie die Menschen sie letztendlich wollen. Sie soll durchaus möglichst vielfältig verschiedene Lebensweisen gleichberechtigt nebeneinander zulassen. Sehr viele Schwierigkeiten und Fragestellungen werden auch erst während ihrer Errichtung auftauchen und sind heute gar nicht seriös beantwortbar. Wieder anderes ist viel zu gewichtig, um heute endgültig entschieden zu werden. (Auch halten wir uns dafür ganz einfach nicht für befugt - was uns wahrscheinlich von dem meisten Gruppen kommunistischer Provenienz deutlich unterscheidet.) Was aber niemanden - und auch uns nicht - der Aufgabe enthebt, sich den Kopf zu zerbrechen und sich eine Meinung zu bilden. Offenheit und Nachdenklichkeit ist nämlich kein Freibrief für Ignoranz und Beliebigkeit. Von wegen „Heute kann man dazu nichts sagen“ und „Wir können nicht wissen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen wird“. Wie man selber will, dass sie aussieht, sollte man schon wissen, bevor man sich auf so ein Abenteuer einlässt.

Noch einmal: von der Ökonomie in der Anarchie

Eine Überproduktion geht nicht? Es wird immer zuwenig für alle geben? Die Fakten: Es werden heute genug Lebensmittel für die gesamte Weltbevölkerung produziert und ein Drittel der Menschen hungert weltweit. Ein Verteilungsproblem. Die, die nicht bezahlen können, kein Geld haben, verhungern. In Europa und den USA türmen sich Butterberge und Milchseen, werden Lebensmittel in großem Maßstab ganz einfach vernichtet. Man scheut sich ja, das Wort in dem Zusammenhang in den Mund zu nehmen: Vernünftig betrachtet, ist Überfluss an Lebensmitteln - und zwar weltweit - eine Frage der richtigen Planung. Also weg davon, das Überleben vom Geld abhängig zu machen, sondern hin mit Nahrung, dort wo sie gebraucht wird. Andere Güter? Immer noch fließen weltweit ungefähr ein Drittel der Ressourcen und Arbeitsstunden in die Rüstung. Es gibt zuwenig? Weil es von anderem zuviel gibt! „Statt Panzer Traktoren erzeugen?“ Wer soll das bezahlen? Wer bezahlt die Panzer? Es ist vielleicht insgesamt Zeit, vom „Bezahlen“ ein bisschen wegzukommen. Es ist vielleicht eine Frage des politischen Willens, was erzeugt wird. Und vielleicht ist das Geld eben auch nur ein Mittel hier politische Entscheidungen zu bemänteln.

Und weiter: „Wenn jeder alles kriegen soll, was er will, das geht sich niemals aus.“ Ach, ja? Mehr als fünf Fernseher gehen in die größte Wohnung nicht hinein, mehr als drei Mäntel kann der gierigste Mensch nicht übereinander anziehen. Was wir sagen wollen, ist dies: Verbrauch stößt irgendwann an eine natürliche Obergrenze. Vor allem: Der Fetischcharakter der Ware, wie es Marxisten wohl nennen würden, kommt daher, dass es immer zuwenig gegeben hat. Das Streben nach Reichtum kommt von der Armut als zwanghafter, einziger Alternative. Dazwischen gibt es nichts. In einer herrschaftslosen Gesellschaft werden materielle Güter nach einer gewissen Zeit den bescheidenen Platz im Leben der Menschen haben, der ihnen zukommt. Als etwas das es geben muss und gibt. „Wenn jeder nur freiwillig arbeiten zu braucht, arbeitet keiner?“ Mag schon sein, dass so wie heute gearbeitet wird, keiner arbeiten will. Dann gehören vielleicht die Arbeitsbedingungen gründlich geändert. Selbstbestimmt und ohne Chef. Dann sind es möglicherweise schon mehr Leute, die etwas machen wollen. Nur: Wieviel Arbeitsleistung ist überhaupt nötig? Wieviel von dem was heute produziert wird, schlicht und ergreifend überflüssig? Wieviel an Arbeitsleistung, die heute erbracht wird, nur in einer Leistungsgesellschaft, in einer Marktwirtschaft, überhaupt notwendig? Banken, Versicherungen, der Gros der Beamtenschaft, Polizei und Justiz, die Werbebranche, was erbringen die an tatsächlicher Leistung? Deren Ware ist die Verwaltung der Klassengesellschaft. Wieviel Schuhe, Möbeln, Brote erzeugen sie? Was sie „herstellen“, sind die Herrschaftsbedingungen, unter denen heute Schuhe, Möbeln, Brote erzeugt werden. In einer anderen Gesellschaft ist solche Arbeit schlicht überflüssig.

Oder weiter: Wieviele Angestellte in einem Kaufhaus sitzen an der Kasse und kassieren, überwachen die Kollegen und Kunden, damit auch nichts gestohlen wird - und wieviele sind tatsächlich zum Einschlichten der Ware und Aufschneiden der Wurst   nötig? Nur eine Gesellschaft, die mit Geld ihre Armut verwaltet, bietet so viel Beschäftigung. Und wie dann die Bananen nach Europa kommen? Ganz einfach: Rein ins Schiff und ab damit. Entsprechendes wird sich wohl vereinbaren lassen. Warum wir uns mit Wirtschaft, Arbeit, Verteilung so ausführlich befassen? Nicht, weil sie wichtiger als anderes sind. Sondern weil hier die Lösungen relativ einfach sind. Einfach, selbstverständlich nicht im Sinne konkreter Umsetzbarkeit (hier wird es jede Menge praktischer Probleme und Fährnisse geben), sondern als Theoriegebäude. Anderes ist viel schwieriger zu analysieren: Unterdrückung in all ihren Spielarten und Facetten, beispielsweise Frauenunterdrückung. Aber auch hier kann man ein bisschen was sagen: Die Antworten müssen von den Betroffenen kommen. Die Aufgabe einer herrschaftslosen Gesellschaft ist es, allen aus verschiedenen Formen von Unterdrückung entstandenen Wünschen, Hoffnungen und Utopien, Raum nebeneinander zu geben. Eine herrschaftslose Gesellschaft wird - und das sei auch in aller Deutlichkeit gesagt - mit einem Paradies auf Erden nicht viel zu tun haben: Sie kann erkennbare, fassbare, greifbare Widersprüche auflösen, sie kann Unterdrückung, egal welcher Art, die viele Menschen erfahren und ausformulieren, beseitigen. Und nur das. Sie ist keine Lizenz und schon gar keine Garantie zum Glücklichsein. Das ist nicht alles? Das mag sein. Es ist aber das, was möglich und machbar scheint.

Gewalt, Polizei und Justiz

Kein Gefängnis, keine Polizei, keine Justiz. Dann wird das Chaos herrschen, Mörder und Brandstifter sengend und brennend durch die Strasse ziehen? Nur: Was ist ein „Verbrechen“? Das, was die Herrschenden dazu bestimmen. Drei Viertel aller Delikte sind heute Eigentumsdelikte. Schaff die Armut ab und es wird keinen Diebstahl mehr geben. Und woher kommen Gewaltdelikte? Haben sie nicht vielleicht viel damit zu tun, dass die Ordnung in dieser Gesellschaft der Inbegriff von Gewalttätigkeit ist? Sind sie nicht vielleicht die Kehrseite von Stress, Hetze, Lieblosigkeit und Schinderei? Von allgegenwärtigem Unterordnen und Gehorchen? Der Kreislauf von Zwang und Angst muss durchbrochen werden.

Kein Staat: Die ganze Gesellschaft muss es sein

Den Staat mit all seinem Arsenal an Zwangsmitteln, Gesetzen und Geboten gibt es nicht mehr. An seine Stelle tritt die Gesellschaft selber, die Menschen.  Gemeint ist die Regelung sämtlicher Angelegenheiten durch die jeweils Betroffenen nach dem Konsensprinzip. Das heißt, es müssen schlussendlich alle mit den getroffenen Entscheidungen einverstanden sein. Und „Betroffene“ sind jeweils alle, die sich selber dafür halten. Kein Repräsentativ- oder Räteprinzip, keine Mehrheitsentscheidungen, sondern schauen, dass alle zu ihrem letztendlich kommen. Das ist möglich, weil es in einer herrschaftslosen Gesellschaft keine unversöhnlichen Gegensätze gibt.

Nötige Abgrenzungen

Eine Anarchie ist kein Kommunismus, hat mit den gewesenen realsozialistischen Regimen nichts am Hut. Aus mehrerlei Gründen:

  • Weder kennt sie die Übergangsphase des Sozialismus, die grundlegenden Prinzipien einer klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft werden sofort verwirklicht, was nicht heißen soll, dass es nicht wahrscheinlich jede Menge Übergangsschwierigkeiten gibt.
  • Es gibt keine herrschende Partei (auch und gerade nicht die Anarchisten).
  • Vor allem aber müssen die politischen Freiheiten absolut gewahrt bleiben: Also Meinungs-, Agitations- und Propagandafreiheit für wirklich jeden, auch und gerade für die Gegner dieser neuen Gesellschaft.


Und so eine Gesellschaft ist möglich? Ja! Sie ist möglich. Sobald genügend Leute dafür sind. Eine klassen- und herrschaftslose Gesellschaft auch wollen.

Aus: Trend - Onlinezeitung für die alltägliche Wut Nr. 6/1998. Der Text entstammt der Ausgabe 91a der anarchistischen Zeitung "Kultur zwischendurch". Herausgegeben wurde sie vom Revolutionsbräuhof Wien.

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a20.html


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