Utopia
Selbst von hier kann ich die skeptischen Gedanken in deinem Hirn rotieren hören: "Ist das nicht utopisch?"
Natürlich ist es das. Weißt Du was die größte Angst aller ist? Daß die Träume, die wir haben, all die verrückten Visionen, Begierden, romantischen Sehnsüchte und utopischen Ideen irgendwann einmal tatsächlich wahr werden könnten und die Welt unsere Wünsche erfüllen kann. Die Menschen verbringen ihr Leben damit, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um diese Möglichkeit weit weg von sich zu halten. Sie bekämpfen sich gegenseitig mit ihren Unsicherheiten, sabotieren ihre eigenen Anstrengungen aus dem Alltag auszubrechen und bemitleiden sich selbst dafür in den sauren Apfel beissen zu müssen, noch bevor es die erste Hürde zur Veränderung zu überwinden gäbe. Schließlich ist kein Gedanke schwerer zu ertragen als der, daß alles was wir uns wünschen Wirklichkeit werden könnte. Wenn das stimmt, stehen wirklich viele Dinge in unserem Leben auf dem Spiel. Dinge, die wir tatsächlich gewinnen oder eben auch verlieren können. Nichts ist tragischer für uns als zu versagen, wenn ein Erfolg tatsächlich möglich gewesen wäre. Deshalb tun wir alles in unserer Macht stehende um zu verhindern, es wenigstens zu versuchen... es überhaupt jemals zu versuchen.
Selbst wenn nur die kleinste Chance besteht, daß unsere Wünsche umgesetzt werden könnten, ist es selbstverständlich das einzig sinnvolle diese Chance zu nutzen und damit das Risiko einzugehen enttäuscht zu werden. Aber Verzweiflung und Nihilismus scheinen uns angenehmer als die Befriedigung es wenigstens gewagt zu haben - wir projizieren unsere Hoffnungslosigkeit auf unser Schicksal als eine Entschuldigung es nicht einmal versucht zu haben. So stecken wir erstarrt im Leben, unsere Resignation fest umklammernd, wie Leichen in ihren Särgen. Aber selbst die Resignation wird uns nicht helfen. Und so erschaffen wir uns auf der Flucht vor der wirklichen Tragik der Welt eine falsche, die auch noch unnötiger Weise tragisch ist.
Vielleicht wird diese Welt niemals das genaue Abbild unserer Lüste und Begierden sein - schließlich werden Menschen immer noch sterben, perfekte Beziehungen zusammenbrechen, Abenteuer zu Katastrophen werden und wunderschöne Momente in Vergessenheit geraten. Aber was ich am allerschlimmsten finde, ist, daß wir vor diesen unvermeidbaren Wahrheiten direkt in die Arme noch schrecklicherer Dinge fliehen. Vielleicht stimmt es, daß jeder einzelne Mensch in seinem eigenen Universum verloren ist, das ihm/ihr grundsätzlich gleichgültig gegenüber steht, für immer gefangen in einer entsetzlichen Einsamkeit. Aber es stimmt einfach nicht, daß einige Leute hungern müssen, während andere im Gegenzug Nahrung zerstören und fruchtbares Ackerland verdorren lassen. Es darf nicht sein, daß Menschen ihr Leben mit Arbeiten verschwenden, nur um überleben zu können. Es darf einfach nicht wahr sein, daß wir es nie wagen, einander zu erzählen, was wir uns tatsächlich wünschen, daß wir uns nie austauschen und auch nicht gemeinsam unsere Talente und Fertigkeiten nutzen, um unser Leben erträglicher und vor allem schöner zu gestalten. Das ist die unnötige Tragik, die ich vorher meinte... Eine pathetische und sinnlose Tragik. Es ist im Grunde nicht einmal utopisch zu fordern, daß wir genau dieser Farce ein Ende bereiten.
Wenn wir uns selbst davon überzeugen könnten und wir wirklich fühlen könnten, daß die Möglichkeit für uns existiert, unbesiegbar zu sein und all das in der Welt zu erreichen, was auch immer wir wollen... dann wäre es selbstverständlich, daß wir solchen absurden Gedanken eine klare Absage erteilen. Um was ich dich hier bitte ist einzig und allein, deinen Blick nicht auf das Unmögliche zu richten, sondern den Mut zu haben, der erschreckenden Möglichkeit ins Gesicht zu blicken, daß unser Leben wirklich in unseren Händen liegt und dementsprechend zu handeln: Sich also nicht mit dem eigenen beschissenen Schicksal und unserer indoktrinierten "Menschlichkeit" zufriedenzugeben und stattdessen sich zu wehren und das von uns abzuschütteln, was wir abschütteln können. Nichts könnte tragischer sein, und lächerlicher, als ein Leben lang in Reichweite des Paradieses zu leben ohne jemals die Hand danach ausgestreckt zu haben.
(Übersetzt von Laaska)
Originaltext: http://deu.anarchopedia.org/Interface/Utopia