Kritik an der Demokratie
(Kapitel 7 des lesenswerten Buches "Freiheit Pur" von Horst Stowasser, das leider vergriffen ist)
"Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." ("Volksweisheit")
Eigentlich ist schon das Wort Demokratie eine Zumutung. "Demokratie" heißt "Volksherrschaft". Herrscht irgendwo "das Volk"? Natürlich nicht, bestenfalls darf das Volk Menschen wählen, von denen es sich beherrschen läßt. Und selbst die bekommt es vorsortiert angeboten.
Eine wirkliche Demokratie wäre, wenn das ganze Volk über das ganze Volk herrschte, also jeder Mensch jedem anderen genausoviel zu sagen hätte, wie er sich von anderen zu sagen lassen hat. Das ist entweder Unsinn oder das Ende der Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn wenn jeder jeden beherrscht, ist das genau dasselbe, wie wenn niemand herrscht. Da Menschen aber unterschiedliche Meinungen haben, kann solch eine Demokratie in einem Staat nicht funktionieren, es sei denn, eine Meinung setzte sich durch und unterdrückte viele andere. Genau das aber ist in unseren "Demokratien" der Fall. Der Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht genau gesehen darin, daß in ersteren eine Minderheit die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit zahlreiche Minderheiten unterdrückt. Beides aber ist eine Herrschaft einiger über viele, also eine Oligarchie und keine Demokratie - auch, wenn sich die Herrschenden ihre Herrschaft von einer Mehrheit legitimieren lassen.
Weil aber Menschen verschiedene Meinungen haben, die sich eben nicht in einer Gesellschaft unter einen Hut bringen lassen, ist Demokratie - die Herrschaft aller über alle - entweder nur in kleineren Gruppen möglich oder gar nicht. Ein Netz kleiner Gruppen, eine Föderation verschiedener Gesellschaften aber ist nichts anderes als Anarchie. Wirkliche Demokratie ist also entweder an-archisch oder unsinnig.
Nun wissen wir ja alle, daß man bei uns unter "Demokratie" etwas ganz anderes versteht, nämlich das parlamentarische System. Die meisten Menschen halten es für das beste aller Systeme. Zugegeben, es gibt schlechtere. Aber hier geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen sich in der "parlamentarischen Demokratie" ziemlich wohl fühlen weil nichts besseres zur Hand ist, sondern darum, ob der Parlamentarismus überhaupt eine Demokratie ist.
Natürlich gibt es auch hier einen Herrscher - statt des Königs, Kaisers oder Diktators eben einen Präsidenten, Kanzler oder Premierminister. Sie alle - die "Diktatoren" wie die "Demokraten" - sind Repräsentanten jener grundlegenden staatlich wirtschaftlichen Interessen, die wir bereits betrachtet haben. Deshalb macht es für Anarchisten keinen Unterschied, ob sie diesen oder jenen wählen oder ob sie überhaupt wählen, denn ihrer Meinung nach unterscheiden sie sich nur in ziemlich unwesentlichen Punkten. Im wesentlichen, in ihrer Einstellung zum Staat und dessen Interessen, sind sie sich gleich. Der Anarchismus geht davon aus, daß Staatlichkeit im Grunde immer anti-freiheitlich eingestellt sein muß. Durch die Verlockungen der ihr eigenen Hierarchie wird sie immer einen Repräsentanten finden, der ihre Interessen vertritt. Egal, ob ein bißchen linker oder rechter, Hauptsache, es geht nicht ans Eingemachte - und dafür sorgen Grundgesetz und "parlamentarische Spielregeln". Schlußendlich ist es auch egal, ob gewählt oder nicht; aber gewählt ist im Zweifelsfalle besser, denn jede Unterdrückung legitimiert sich am liebsten dadurch, daß die Unterdrückten sich ihre Unterdrücker selbst ausgesucht haben: die Regierung. Die wahren Mächtigen bleiben dezent im Hintergrund.Aber haben wir eigentlich eine Wahl?
Wahlen ohne Alternative
Eine Wahl ist eine Entscheidung zwischen zwei oder mehreren Alternativen. Nehmen wir einmal an, Sie gingen in einen Supermarkt, in der Absicht, Schokolade zu kaufen und dort fänden Sie sich vor der Möglichkeit, zwischen einundzwanzig verschiedenen Waschmitteln "wählen" zu dürfen - und sonst nichts. Sie könnten sicher eine "Wahl" treffen, aber nicht das wählen, was Sie wollen. Es wäre keine Wahl zwischen wirklichen Alternativen.
Natürlich kann man sagen, die Partei X ist ein wenig liberaler, sozialer und freiheitlicher als die Partei Y. Wenn aber das Ziel Freiheit ist, und Freiheit nur ohne Staat und Regierung geht, alle Parteien aber Staat und Regierung sind, so kann ich eben nicht das wählen, was ich will. Ich muß es schon selber herstellen, erreichen, aufbauen. Wenn ich ein Leben ohne Regierung will, ist es absurd, mir die Leute auszuwählen, die mich regieren sollen.
Anarchisten sehen dies alles aus einer sehr radikalen Perspektive: Wenn ich Gefängnisinsasse bin und freikommen möchte - so argumentieren sie -, werde ich diese Freiheit nicht erreichen, indem mir die Gefängnisverwaltung die Wahl des Wachpersonals ermöglicht. Da mag es zwar Wärter geben, die nicht prügeln und mir den Alltag erträglicher machen. Vielleicht ist es gut, wenn ich die wähle, dann geht es mir besser. Aber im Gefängnis sitze ich nach wie vor. Womöglich gewöhne ich mich sogar an den Knast, ebenso wie meine Mitgefangenen: wir lassen uns in das System einspannen, genießen kleine Verbesserungen und vergessen das Ziel. Am Ende beteiligen wir uns gar an einer Häftlingsselbstverwaltung und bewachen uns selbst.
Ersetzt man die Begriffe "Gefängnis" durch "Kapitalismus" und "Bewacher" durch "Staat", so wird dieser Vergleich zum drastischen Gleichnis der jüngeren politischen Geschichte: Anarchisten haben seit jeher dafür plädiert, das Gefängnis niederzureißen und ein neues Leben zu beginnen. Kommunisten haben ein Loch in die Mauer gesprengt, sind ausgebrochen und haben an anderer Stelle ein noch größeres Gefängnis gebaut. Sozialdemokraten haben gemeint, man könne der Gefangenschaft auch entrinnen, indem man zunächst die netteren Bewacher wählt und sich dann selber wählen läßt. Heute sind sie ab und zu Gefängnisdirektoren und mühen sich nach Kräften, daß es den Insassen dann etwas besser geht.
Betrachten wir statt des Zielbegriffs "Freiheit" einmal das reale Problem der Umweltzerstörung, so wird die Absurdität parlamentarischer Wahlen noch augenfälliger: Stellen wir uns die Gesellschaft als einen Zug vor, der auf den Abgrund einer ökologischen Katastrophe zufährt. Ein Gleis zweigt rechts ab und führt direkt ins Verderben, die mittlere Schiene ist etwas länger, und der linke Abzweig fährt noch einen kleinen Umweg, landet am Ende aber auch im selben Loch. Wahlen zwischen diesen drei Weichenstellungen sind keine Wahlen zwischen wirklichen Alternativen. Die wirkliche Alternative wäre, eine neue Gleisanlage zu bauen. Dafür sind die Anarchisten und dafür waren vor nicht allzulanger Zeit auch noch die Grünen. Inzwischen haben sie sich für das linke Gleis entschieden, unter der Bedingung, während der Fahrt ein bißchen an der Bremse ziehen zu dürfen.
So stellt sich den Libertären die Spielwiese der parlamentarischen Demokratie dar: sie läßt den Menschen die Illusion, etwas zu entscheiden, wo doch längst alles Wesentliche entschieden ist und von uns gar nicht entschieden werden darf. Genau das ist der Grund, warum sich Anarchisten in der Regel nicht an Wahlen beteiligen.
Die meisten Menschen glauben an Wahlen oder meinen zumindest, die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien seien Grund genug, wenigstens das kleinere Übel zu wählen. Die Frage aber bleibt, ob sie dabei wirklich wählen. Zum Beispiel den Bundeskanzler. Wählen wir ihn? Stellen wir die Kandidaten auf? Wir wählen allenfalls zwischen zwei längst gewählten Ähnlichkeiten. In Wahrheit hat kein einfacher Bürger einen tatsächlichen Einfluß auf das politische Geschehen seines Landes - das Vorrecht, das uns die parlamentarische Demokratie gewährt, ist, alle vier Jahre ein Kreuz auf einer Liste schon lange zuvor ausgewählter Menschen zu machen. Sind diese erst einmal gewählt, haben wir keinerlei Einfluß mehr auf ihr Handeln. Im Prinzip können sie machen, was ihnen beliebt. Viele Politiker scheren sich schon am Tag nach der Wahl nicht mehr um ihre Zusagen und den Willen ihrer Wähler. Das steht, etwas feiner ausgedrückt, auch im Grundgesetz: Politiker sind nur ihrem Gewissen verantwortlich.
Hierarchie entfremdet
Das ist interessant. Eigentlich wird ein Mensch ja in ein Amt berufen, um dort den Willen derer zu vertreten, die ihn gewählt haben und ihn für diese Arbeit bezahlen. Keiner Firma würde es einfallen, einen Prokuristen einzustellen und ihm dann zu überlassen, was er auf diesem Posten tun will. In der Politik aber verstößt die Bindung an ein Mandat gegen die Eigeninteressen der Politiker. Sie dürfen das Prinzip des Regierens niemals zugunsten einer direkten Demokratie oder gar der Selbstverwaltung in Frage stellen. Warum wohl wehren sich unsere Politiker so wortreich gegen die einfachsten Formen unmittelbarer Demokratie wie Volksbegehren oder Volksentscheid? Vor allem, weil der Staat ein Selbstzweck ist und seine Existenz gegen jede Konkurrenz verteidigen muß.
Je höher die Ebene politischer Macht angesiedelt ist, desto größer ist dieser Grad der politischen Entfremdung zwischen Wähler und Gewähltem. Gibt es in der Lokalpolitik bisweilen noch Möglichkeiten direkten Kontaktes, persönlicher Einflußnahme und unmittelbarer Kontrolle, so sind diese Möglichkeiten in der Landespolitik schon bedeutend eingeengt. Wer aber jemals versucht hat, an "seinen" Bundestagsabgeordneten ein Problem heranzutragen und sich davon eine Lösung erhoffte, weiß, wie aussichtslos solch ein Anliegen ist. Dies mag eine Erklärung dafür sein, daß manche Anarchisten an Kommunalwahlen teilnehmen, während sie die Landtags- oder Bundestagswahl boykottieren.
Anarchie ist nicht wählbar
Warum aber gründen Anarchisten keine Partei? Sie könnten ihre Ziele doch in ein Programm schreiben, sich wählen lassen und, falls eine Mehrheit hinter ihnen steht, die Anarchie einführen.
Die Gründe, das nicht zu tun, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Anarchie läßt sich nicht "einführen". Man kann sie nicht einfach wählen - an einer solchen Gesellschaftsform muß man teilnehmen. Sie braucht Menschen, die selbst mitdenken und mithandeln sowie eine Struktur, in der Macht nicht mehr delegiert, sondern selbst ausgeübt wird. Selbstverständlich kennt auch das anarchistische System die Delegierung von Entscheidung, Ausführung und Funktion. Sie beruht jedoch auf Vertrauen - Macht verbleibt beim einzelnen Menschen, der sich nach wie vor selbst "regiert". Eine Regierung wählen, die mich nicht regiert, ist indes ein Unding und in Wahlen werden nun einmal Regierungen gewählt. Anarchie ist nicht Politik, sondern das gesamte Leben. Und damit eine an-archische Gesellschaft funktioniert, müssen sich viele Dinge ändern, und die ändern sich nicht, indem man eine politische Elite wählt, sondern indem sich die Menschen mit ihrer Gesellschaft verändern.
Jede Wahl aber trägt dazu bei, Illusionen zu festigen. Die Illusion etwa, wir würden tatsachlich über unser Leben bestimmen, unser Schicksal aktiv gestalten. Die Illusion, wir hätten unsere Herrschaft selbst legitimiert, und die Herrscher handelten in unserem Sinne. Vor allem aber die Illusion, daß über den Weg parlamentarischer Wahlen wirkliche, grundlegende Änderungen möglich seien. Das ist jedoch so gut wie unmöglich. Wir brauchen uns nur anzuschauen was passiert, wenn Menschen, die tiefgreifende Änderungen durchsetzen wollen, durch Wahlen an die Macht kommen. In Chile siegte 1972 eine linke Volksfront. Ihr Präsident Salvador Allende, ein Marxist, wollte soziale Gleichheit durchsetzen, aber das ist verboten. Gesetze und Verfassungen geben nur einen sehr engen Rahmen vor, in dem Änderungen erlaubt sind. Dieselben Gesetze schützen genau die Dinge, die zu verändern wären, allem voran die Fragen von Eigentum, Hierarchie, Ungleichheit und Macht. Das Tragische an dem chilenischen Beispiel war, daß der biedere Allende von den Mächtigen nach nur einem Jahr durch einen Militärputsch gestürzt und getötet wurde, obwohl er, einmal an der Macht, gar keine radikalen Veränderungen mehr versuchte, sondern sich strikt an die Gesetze hielt. Die Lehre hieraus ist einfach: Selbst wenn eine Mehrheit den radikalen Wandel wählt, werden die wirklich Mächtigen keine Veränderung tolerieren und notfalls ihre eigenen Gesetze mit Füßen treten. Radikaler Wandel muß in der Wirklichkeit wachsen. Je breiter, stabiler und vernetzter dies geschieht, desto schwerer ist er aufzuhalten.
Im Bann des Parlamentarismus
Europa wurde in den letzten Jahrzehnten Zeuge zahlreicher Regierungswechsel, die Sozialisten oder Sozialdemokraten an die Macht brachten: In Griechenland und Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Portugal oder Schweden gaben sie mehr oder weniger lange "Gastspiele". Schon kleinste soziale Eingriffe führten sofort zu Reaktionen: Börseneinbrüche, Kapitalflucht, Unternehmerstreiks und -boykotte, Verweigerung und passiver Widerstand bis hin zu Verleumdungen und Verschwörungen. Am Ende reduzierte sich der Unterschied zwischen "sozialistischer" und "konservativer" Politik auf die Frage, ob die Mehrwertsteuer oder die Sozialhilfe um ein Prozent verschoben wird oder nicht. Setzen wir gegen alle Zweifel einmal voraus, daß diese Parteien tatsächlich eine sozialere und freiere Gesellschaft wollten, so muß man die Bilanz all dieser Regierungen ganz nüchtern so interpretieren: Im Rahmen staatlicher Gesetze und kapitalistischer Normen ist selbst die zaghafteste Veränderung, die die Privilegien von Staat und Kapital gefährdet, nicht möglich. Entweder schickt man Panzer oder entzieht das Geld. Mitterand als "Sozialist" mußte sich genauso an die Gesetze halten wie Kohl als Konservativer, und beide taten es vermutlich mit derselben inneren Überzeugung, weil Sozialisten heute zu ebenso zuverlässigen Säulen staatlich-kapitalistischer Ordnung geworden sind wie Konservative.
Nach Meinung der Anarchisten kommt das daher, daß sie sich vor mehr als hundert Jahren auf das Spiel des Parlamentarismus eingelassen haben. Sie hatten geglaubt, sie könnten die Spielleitung austricksen, aber die Spielregeln sind klug ausgedacht. Sein Räderwerk mahlt stetig, arbeitet zäh und hat eine ungeahnte Kraft, Menschen in seinen Bann zu ziehen, zu korrumpieren und zu integrieren. Auch die nobelste Idee, jede noch so integre Persönlichkeit bleibt da am Ende auf der Strecke.
Literatur:
- Errico Malatesta: In Wahlzeiten Meppen 1988, Ems Kopp, 30 S.
- Rudolf Rocker: Wozu noch in die Parlamente? Reutlingen 1987, Trotzdem, 82 S.
- Roben P. Wolff: Eine Verteidigung des Anarchismus Wetzlar 1979, Büchse der Pandora, 88 S.
- ders.: Das Elend des Liberalismus Frankfurt 1969, Edition Suhrkamp, 261 S.
Überarbeitet nach: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/wahl10.html (Rechtschreibung korrigiert)