Gedanken zum Wahlboykott (1982)

Ein Text aus der Zeit, als "Die Grünen" in Deutschland und Österreich zur "alternativen" Partei wurden - was aus ihnen und dem Versuch, Politik anders zu betreiben, geworden ist, kann heute jeder & jede sehen.

Unser Internationaler Erfahrungsaustausch, über den zu berichten wir es den französischen Genossen überlassen, war für die Anarchisten an der Ruhr der Anstoß zu einer, seit vielen Jahren unterlassenen, Wiederbelebung der Koordination und Kooperation ihrer Kräfte. Nach ersten Diskussionen zum angekündigten Thema "Wahlboykott" habe ich im folgenden versucht, unsere Überlegungen dazu aus meiner Sicht zusammen zufassen.

Aufgrund der gegenwärtigen "Stärke" der deutschen anarchistischen Bewegung erscheint eine Wahlboykott-Kampagne zu dem bevorstehenden Wahlspektakel als kaum wirkungsvoll, zumal wir noch nicht einmal in der Lage sind, der Wahlabstinenz eine kraftvolle Alternative, etwa das Engagement in einer Anarchistischen Föderation, entgegenzusetzen.

Die bundesdeutsche Initiativbewegung steckt momentan in nicht unerheblichem Umfange in einer politischen Sackgasse ohne die Aussicht, im außerparlamentarischen Rahmen mittels der bislang benutzten traditionellen Demonstrations- und Aktionsformen ihren politischen Vorstellungen näherzukommen. Als Ausweg daraus setzen deshalb viele Aktivisten aus Initiativgruppen übermäßige Hoffnungen und Erwartungen in die massive Mobilisierung ihrer Sympathisanten für die Wahlen, um so ihre Forderungen vielleicht auf der parlamentarischen Ebene zur Geltung bringen zu können. Dieses Umschwenken, das in der Vergangenheit schon zu oft gesellschaftliche Massenbewegungen zu politischen Splittergrüppchen verkommen ließ, trägt im Grunde nur, der sich allseits ausbreitenden Bequemlichkeit und Schläfrigkeit in der "linken Szene" Rechnung, indem er an die Stelle der mühsamen und langwierigen Initiativarbeit die geruhsame und kurzweilige Wahllistenkandidatur stellt und damit den selbstbestimmten Kampf der fremdbestimmten Delegation opfert.

Trotz dieser Tendenzen halten wir eine Wahlboykott - Kampagne für ziemlich aussichtslos, obwohl sie ja eigentlich zum traditionellen Repertoire anarchistischer Propaganda zählt. Abgesehen von ihrer offenkundigen politischen Wirkungslosigkeit ist sie zweifelsohne unter den momentanen Gegebenheiten nicht dazu geeignet, der überwältigenden Mehrheit der Initiativkämpfer eine richtungsweisende Alternative im anarchistischen Sinne aufzuzeigen. Aus diesem Grunde beabsichtigen wir, das eigentliche Wahlspektakel ganz einfach zu ignorieren, um nicht den gleichen Fehler wie die Initiativler zu begehen und, nur unter umgekehrten Vorzeichen, den Wahlen eine ihnen nicht angemessene Bedeutung in unserem Kampf einzuräumen.

Vielmehr wollen wir unser Augenmerk auf die zahlreichen Wahltreffen der Basisinitiativen richten, um hier etwaige Illusionen, "die linke Szene könnte womöglich zur Regierung werden", schon im Keim zu ersticken. Es gilt hier nach dem konkreten Nutzen des Wählens und Gewähltwerdens für jede sich beteiligende Initiativgruppe zu fragen und damit deutlich zu machen, dass dazu die aufgewendeten Energien in absolut keinem Verhältnis stehen und stattdessen viel wirkungsvoller in den jeweiligen Initiativen eingesetzt werden könnten. Wir haben uns also darauf zu konzentrieren, all diese Aktivisten an der Basis zu halten, damit ihr Engagement die, zur Stärkung der freiheitlichen Kräfte in dieser Gesellschaft notwendigen, Kämpfe vorantreiben kann.

Gerade um hierfür die Basis durch die Koordination und Kooperation der verschiedenen Initiativen zu erweitern, bieten die Wahltreffen günstige Gelegenheiten, die unseren allseitigen Einsatz erfordern. Aber da ja nicht allein die Aktivisten der Initiativbewegung zur Wahl gehen wollen, müssen wir noch weit mehr Leute dazu ermuntern, die fortschreitende Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen durch ihre Mitarbeit in den Basisinitiativen zu bekämpfen, statt dem, doch schon zu oft offenbarten, Irrtum, sie könnten diese allein durch ihr Stimmkreuzchen vereiteln, aufs Neue zu verfallen. Uns stellt sich also in unserer Propaganda und Agitation die vorrangige Aufgabe, die Angst vor der Herrschaft einer politischen Partei in das Aufbegehren breiter Bevölkerungsschichten gegen den Sozial- , Freiheits- und Friedensabbau umzuwandeln.

Selbstverständlich enthebt uns ein derartiges Vorgehen gegen die Wahlen nicht der Notwendigkeit einer weiterführenden Kampagne für den Boykott jeglicher Wahl, um damit deutlich zu machen, dass wir Anarchisten das herrschende Gesellschaftssystem generell ablehnen. Doch- angesichts der momentanen sozialen und politischen Zustände erscheint uns die, bislang praktizierte, rein destruktive Öffentlichkeitsarbeit als kaum erfolgversprechend, so dass wir jetzt versuchen wollen, unter dem Motto: kämpfen statt wählen eine konstruktive anarchistische Propaganda und Agitation zu initiieren. In der Tat aber sehen wir dabei die Wahlen nur als einen möglichen Anlass, um hierzu einen geeigneten Einstieg zu finden. Im Grunde muss es unser fortwährendes Bestreben sein, alle partiellen Kämpfe im freiheitlichen Sinne voranzutreiben und keine Gelegenheit auszulassen, sie anlässlich ähnlicher Problem- und Zielvorstellungen zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen versuchen. Der Anarchismus als einzige Bewegung, die die universelle Befreiung von Mensch und Natur proklamiert, muss deshalb auch die Basis in den Initiativen als seine originäre Arena wahrnehmen, um die freiheitlichen Tendenzen in der Gesellschaft zu stärken und somit das Fundament zu ihrem allgemeinen Durchbruch zu legen.

Anarchisten an der Ruhr

Aus: "Trafik" Nr.8, Winter 82/83

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/wahl23.html


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