Max Sartin - Das repräsentative System und das anarchistische Ideal (1945)

Einleitung

Angefangen bei den Ursprüngen der Volksvertretung, als Mittel, um die Interessen des Monarchen und jene der Untertanen zu vermitteln, wird in dieser Broschüre der Werdegang und die Funktion der politischen Vertretung umrissen, mittels welcher das Bürgertum versucht, seine Privilegienstellung aufrechtzuerhalten, indem es dem Volk die Illusion von einer Beteiligung gibt. Max Sartin, der über 50 Jahre lang Redakteur der italienischsprachigen Zeitung “L’Adunata dei Reffattari“ aus New York war, gelangt auf diesem Weg nicht nur zur Demonstration des Betrugs des repräsentativen Systems der modernen Demokratien, sondern schlussfolgert, folgerichtig, dass die Methode der Delegation und der Repräsentation genauso auch in den anarchistischen Organisationen dem angestrebten Ziel nur schädlich sein kann. Wenn nämlich die Autonomie und die direkte Aktion der Individuen, assoziiert durch freie Vereinbarungen, die Grundlage der Gesellschaft der Zukunft sein sollen, nach der wir streben, dann müssen wir diese Prinzipien auch, ab heute, in unseren Propaganda-, Aktions- und Organisationstätigkeiten bekräftigen und realisieren.

Es ist diese grundlegende und sorgfältig dargelegte Botschaft, weshalb wir diesen Text in seiner ersten deutschen Übersetzung all jenen nahelegen möchten, die ein Verständnis nicht nur der demokratischen Herrschaft, sondern auch der Organisationsfrage unter Anarchisten vertiefen wollen.

Zürich, 15. Oktober 2015

Das repräsentative System

Das repräsentative System ist ein politischer Notbehelf, mittels welchem das Bürgertum versucht, das Prinzip der Volkssouveränität zu realisieren, ohne auf seine Privilegien als herrschende Klasse zu verzichten.

Die Idee der Volkssouveränität schaffte es, in ihrer modernen Bedeutung, sich infolge der Revolutionen des 18. Jahrhunderts durchzusetzen. Davor lag die Souveränität im Monarchen, in den adligen und theokratischen Kasten, welche sie aus Eroberungsrecht, aus Erbrecht oder kraft der rohen Gewalt innehatten und ausübten.

Als der aufständische Dritte Stand die Macht der Aristokratie stürzte und durch die Enthauptung des Königs den Mythos von der göttlichen Einsetzung der Monarchen zerstörte, suchte die Bourgeoisie, als Erbin der Reichtümer, welche den Herren des alten Regimes gehört hatten, nach einem System, das es ihr erlauben würde, die Privilegien zu legalisieren, die sie sich vor allem dank der aufständischen Aktion des Volkes gesichert hat, und die Ausübung der politischen Macht zu rechtfertigen, ohne welche sie das Monopol über jene Reichtümer nicht lange hätte bewahren können.

Jenes System fand sie, indem sie in die Idee der Volkssouveränität die Idee der Volksvertretung einfügte, womit das souveräne Volk die Funktionen der Macht einem Personal überträgt, das für mehr oder weniger lange Perioden gewählt wird, aber auf jeden Fall der bürgerlichen Klasse angehört.

Die Idee der Vertretung ist unabhängig von der Idee der Volkssouveränität und hat andere Ursprünge. Während diese im Schmelztiegel der Revolution entstand, kam jene im dichtesten Dunkel des Mittelalters auf.

«Die Idee der Volksvertreter – schreibt Jean-Jacques Rousseau (Vom Gesellschaftsvertrag, Buch III, Kap. 15) – ist modern: wir haben sie aus der Feudalregierung, dieser ungerechten und absurden Regierung, in der das Menschengeschlecht herabgewürdigt, und wo dem Namen Mensch zu Unehre gereicht wird. In den antiken Republiken und selbst in den Monarchien hatte das Volk niemals Repräsentanten; man kannte dieses Wort gar nicht. Es ist sehr eigenartig, dass man sich in Rom, wo die Tribunen so geheiligt waren, nicht einmal vorstellte, sie könnten die Funktionen des Volkes usurpieren, und dass sie inmitten von einer so grossen Menge nie versucht haben, auch nur ein einziges Plebiszit in Eigenregie zu übergehen. […] Bei den Griechen tat das Volk alles, was es zu tun hatte, selber; es war ununterbrochen auf dem Platz versammelt.»

Die Griechen fassten die Demokratie also nicht nur als Souveränität, sondern auch als direkte Regierung des Volkes auf, etwas, was keine unlösbaren Probleme hervorrief, denn, da die demokratischen Republiken Griechenlands auf der Sklavenwirtschaft beruhten, waren nur die freien Menschen Bürger und bildeten das Volk, welches von der Notwendigkeit der materiellen Arbeit, die von den Sklaven ausgeübt wurde, befreit war und alle Zeit hatte, sich der öffentlichen Sache zu widmen.

Die moderne Demokratie ist anders. Die Emanzipation von der Sklaverei und von der Knechtschaft erhob langsam alle Menschen zur Würde von Bürgern, während sie ein Zahlenproblem schuf, das in der Antike nicht existierte.

Aber das repräsentative System nahm unabhängig von diesem Problem seine Entwicklung. Noch bevor die emanzipierten Sklaven nach der Würde von Bürgern strebten, spürten die Monarchen die Notwendigkeit, ihnen die Illusion zu geben, an der öffentlichen Sache teilzuhaben. Ein französischer Anarchist von Anfangs dieses Jahrhunderts, O. Dubois, schrieb diesbezüglich: «Das repräsentative System war den antiken Zivilisationen etwas Unbekanntes. Seine Ursprünge reichen ins dunkle Zeitalter des Mittelalters zurück, als sich das Christentum und das Feudalwesen die Führung der Menschenherde teilten. Die Lage der “Dorfbewohner” wurde bisweilen unerträglich, und sie delegierten jemanden der ihren, um dem Herren die Liste ihrer Beschwerden vorzulegen. Diese armen Parias personifizierten damals, vor dem absoluten und göttlichen Recht, die miserable Existenz des regierten Plebs. Das war die erste Volksvertretung, England war ihre Wiege. Sobald ihre Mission beendet war, löste sich diese armselige Delegation auf; und man weiss nicht genau aus welchem dunklen Wirken der Jahrhunderte sie sich in die mächtigen parlamentarischen Versammlungen von heute verwandelt hat." (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt. 7. Oktober 1905).

So würde sich das, allerdings, jemand vorstellen, der voraussetzt, dass die Delegationen der Dorfbewohner, in jenen fernen Zeiten des königlichen Absolutismus, spontane Ursprünge hatten. Es ist wahrscheinlicher, dass die unzufriedenen Dorfbewohner zur Revolte gegriffen hätten als zur Petition an den Souverän mittels einvernehmlich gewählten Vertretern, die sich exponieren, ihren Kopf zu verlieren, falls der Souverän ihre Dreistigkeit für untragbar hält.

In den Archiven der englischen Monarchie finden sich Dokumentationen von bescheideneren und alles anderen als demokratischen Ursprüngen des repräsentativen Systems. Man findet dort zum Beispiel eine Verordnung des Königs Heinrich III., die aus dem Jahr 1254 stammt.

Die Adelsleute – die weltlichen und geistlichen Lords – sitzen noch heute persönlich und rechtens im Parlament, wo sie sich selbst vertreten und die Klasse, die sie gemeinsam bilden. Mit dem oben erwähnten Dokument lud Heinrich III. die Lords dazu ein, ihren Platz im Parlament einzunehmen, und erteilte, überdies, den Sheriffs aller Grafschaften des Reiches den Befehl, zu veranlassen, dass «sich zwei gute und taktvolle Ritter vor den Rat des Königs begeben, welche die Menschen der Grafschaft zu diesem Zweck an Stelle von allen und jedem von ihnen gewählt haben, um gemeinsam mit Rittern von anderen Grafschaften zu bedenken, welche Hilfe sie dem König gewähren werden.» (The Encyclopedia Britannica, Stichwort: “representation”).

Hier findet sich bereits die Existenz des repräsentativen Systems als Regime von ökonomischen und politischen Privilegien. Es sind nicht die Dorfbewohner, welche die Initiative ergreifen, ihre Vertreter zum König zu schicken; sondern es ist der König, welcher, mittels dem Sheriff, die Entsendung der Vertreter zum Rat beordert, und er will nicht, dass es Dorfbewohner sind, er schreibt vor, dass es “gute und stattliche Ritter” sein sollen. Der König will, dass die Landgüter, die in seine Gunst gestellt werden, den Konsens der Vertreter des Volkes haben, aber der Sheriff soll darauf Acht geben, dass jene Vertreter anständige, das heisst dem König ergebene Personen sind. In anderen Worten, der König sorgt sich nicht etwa darum, dass die von den Grafschaften gewählten Vertreter die Menschen der Grafschaften selbst vertreten; er sorgt sich darum, dass sie die Interessen des Königs vertreten.

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Die Vortäuschung der politischen Repräsentanz scheint bereits in diesem alten Dokument durch. In der heutigen Generalisierung des repräsentativen Systems ändern sich die Namen, aber die Substanz ist dieselbe. Das souveräne Volk wählt seine Vertreter, aber seine Vertreter sollen – als gute und stattliche Ritter von Heinrich III. von England – vor allem gute Bürger sein, der gesetzlichen Ordnung treu, das heisst ehrerbietig dem Recht des Privateigentums, den kapitalistischen Monopolen des sozialen Reichtums, der Autorität des Staates, sprich, sie sollen nicht den Willen, die Bestrebungen oder die Interessen von jenen vertreten, die sie wählen, sondern die Herrschaft, die Autorität und die Privilegien, welche die gesetzliche Ordnung weiht und beschützt.

«Die repräsentative Regierung – schreibt Peter Kropotkin – ist ein von den Mittelklassen ausgearbeitetes System, um gegenüber dem monarchischen System an Boden zu gewinnen, ihre Herrschaft über die Arbeiter gleichzeitig aufrechterhaltend und vergrössernd. Aber nicht einmal die glühendsten Verehrer dieses Systems haben jemals ernsthaft behauptet, dass ein Parlament oder eine Kommunalkörperschaft tatsächlich eine Nation oder eine Stadt vertritt: die Intelligentesten unter ihnen verstehen sehr gut, dass dies unmöglich ist. Indem sie die parlamentarische Regierung verfechten, haben die Mittelklassen schlicht versucht, einen Damm zwischen sich selbst und dem Monarchen, oder zwischen sich selbst und der Landaristokratie zu erheben, ohne dem Volk die Freiheit zu gewähren. Es ist jedoch offensichtlich, dass sich das repräsentative System als unangemessen erweist, je mehr die Menschen Bewusstsein über ihre Interessen erwerben und die Vielfalt dieser Interessen anwächst. Dies ist der Grund, weshalb die Demokraten aller Länder sich abmühen, Palliative oder Korrektive zu suchen, welche sie nicht finden können. Sie probieren das Referendum und finden heraus, dass es nicht gültig ist; sie schwafeln von proportionaler Vertretung, von Vertretung der Minderheiten und anderen Utopien. In einem Wort, sie suchen das Unmögliche, das heisst eine Art von Delegation, welche die unendliche Vielfalt der Interessen einer Nation vertritt; aber sie sind gezwungen, zuzugeben, dass sie auf einem falschen Weg sind und das Vertrauen in die repräsentative Regierung nach und nach schwindet.» (Free Society, Chicago, 7. Juli 1901).

Die Anarchisten sind nicht die Einzigen, die Kritik am repräsentativen Regierungssystem üben. In unserer Zeit [1945] sind wir Zeugen gewesen nicht nur der Kritik, sondern der blutigen Offensive der Regierungsabsolutisten, gegen das repräsentative System, welchen es beinahe gelang, die Errungenschaften der politischen Revolution vom Angesicht der Erde zu tilgen, um den totalitären Absolutismus des monarchischen und oligarchischen Regierungssystems wiederherzustellen. Und es ist noch nicht gesagt, dass von dieser ihrer Offensive im öffentlichen Leben der künftigen Generationen nicht etwas übrig bleibt.

Die politische Macht hat ihre Wurzeln in der ökonomischen Macht und solange diese ein Monopol von kleinen allmächtigen Minderheiten bleibt, ist es unvermeidlich, dass es utopisch ist, auf den Triumph von einer wahren Demokratie zu hoffen, worin die Verwaltung der öffentlichen Sache tatsächlich Werk des Volkes und Nutzen des Volkes selbst ist.

Das repräsentative System ist, in letzter Konsequenz, ein Mechanismus, der erfunden wurde, um den Regierenden, der göttlichen Einsetzung beraubt, den Schein von einer populären Einsetzung zu verleihen. Wer sich nicht mit den Äusserlichkeiten zufrieden gibt und die Substanz der menschlichen Beziehungen sucht, der muss gegen die Illusionen dieses Mechanismus zwangsweise etwas einzuwenden haben.

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Jean-Jacques Rousseau, der sicherlich einer der Begründer des demokratischen Gedankens war, ist entschieden gegen das repräsentative System. «Muss man in die Schlacht ziehen? – schreibt Rousseau – Sie [die Bürger] bezahlen Truppen und bleiben zu Hause; muss man in den Rat gehen? Sie ernennen Abgeordnete und bleiben zu Hause. Durch Faulheit und Geld haben sie schliesslich Soldaten, um das Vaterland zu unterwerfen, und Repräsentanten, um es zu verkaufen.»

«Die Souveränität – fährt Rousseau fort – kann nicht vertreten werden, aus demselben Grund, weshalb sie nicht veräussert werden kann; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten: entweder er ist derselbe, oder er ist ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Repräsentanten, noch können sie es sein [...]. Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich gewaltig, es ist dies nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Und bei dem Gebrauch, den es in den kurzen Momenten seiner Freiheit von ihr macht, geschieht es ihm recht, dass es sie verliert.» (Vom Gesellschaftsvertrag, Buch III, Kap. 15).

In der Schweiz, wo der Einfluss von Rousseau am grössten ist, wird das Referendum in der Tat breiter angewendet als in jedwelchem anderen demokratischen Land; aber wie Kropotkin gut beobachtete, löst das Referendum das Problem der Demokratie nicht. Das Volk ist aufgerufen, sich über Vorschläge zu äussem, die von kleinen Interessengruppen und von speziellen Parteien formuliert werden, es ist gehalten, mit dem Votum zu sagen, ob es sie gutheisst oder ablehnt, aber es hat keine Befugnis, diese Vorschläge umzugestalten; und wenn sie von der Mehrheit angenommen werden, so ist die Regierung gehalten, allen ihre Einhaltung aufzuzwingen, auch den gegnerischen Minderheiten, sie mit ihren besonderen Kriterien als herrschende Gruppe interpretierend, versteht sich.

Carlo Pisacane, einer der Wegbereiter des Anarchismus, hält das repräsentative System für absurd: «Zu erklären, dass eine Regierung die öffentliche Meinung und den öffentlichen Willen vertritt – schreibt er –, ist dasselbe, wie zu erklären, dass ein Teil das Ganze vertritt.»

Im autoritären sozialistischen Lager bewahren die Kritiken am repräsentativen System, die vor zirka einem Jahrhundert von Rittinghausen gemacht wurden, auch heute noch all ihre Gültigkeit.

«Das repräsentative System – schreibt Rittinghausen 1849 – ist ein Überbleibsel des antiken Feudalwesens, ein Überbleibsel, das unter den Stössen der ersten französischen Revolution hätte fallen müssen. Es hatte seinen Daseinsgrund als die Gesellschaft eine Zusammensetzung von Korporationen jeglicher Art war, die ihren Abgeordneten ein bestimmtes Mandat erteilten; heute, da die Korporationen verschwunden sind, hat es keinen Daseinsgrund mehr. Mit dem Geist des Mittelalters, mit der Ursache, hätte das Volk auch die Wirkung beseitigen müssen.»

«Die nationale Vertretung – fährt Rittinghausen fort – ist eine Vortäuschung. Der Delegierte vertritt nur sich selber, denn er stimmt gemäss seinem Willen und nicht gemäss dem Willen seiner Mandataren. Er mag "ja” sagen, wenn diese “nein” sagen würden, und er wird das in den allermeisten Fällen tun. Die Vertretung existiert also nicht, es sei denn man will die Tatsache, die Handlung, das Interesse und die Meinung von jenen zu verletzen, die man zu vertreten behauptet, so nennen.»

Aber, fährt Rittinghausen fort: «selbst wenn es eine echte Vertretung durch irgendeinen unauffindbaren Phönix von Abgeordneten gäbe, wäre die Mehrheit der Wähler des Landes niemals vertreten, und fast die Hälfte der Wähler würde sich dank dem Funktionieren der Versammlungen nach Mehrheit und Opposition in derselben Situation wiederfinden.» (Cronaca Sovversiva, Lynn, Mass., 21. November 1904).

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Rittinghausen war kein Anarchist. Er war ein demokratischer Sozialist, der einen Staat wollte, worin die Gesetzgebung direkt vom Volk, statt mittels unmöglicher repräsentativer Versammlungen gemacht würde, unmöglich, weil die sogenannten Vertreter des Volkes dort in Wirklichkeit nur sich selber vertreten.

Der Anarchismus lehnt die Idee selbst des Staates ab, und während drei Vierteljahrhunderten haben die Anarchisten das repräsentative System kritisiert und sich den Wahlen enthalten, aus zwei fundamentalen Gründen, die im Allgemeinen von allen akzeptiert werden, und zwar: weil die Anarchisten, da sie den Staat verneinen, sich nicht an seiner Tätigkeit beteiligen wollen, indem sie mit ihrer Stimme zur Ernennung von seinen Gesetzgebern beitragen; und weil sie wissen, dass die effektive Macht in den Händen von jenen kleinen Minderheiten liegt, die den sozialen Reichtum in all seinen Formen besitzen und monopolisieren, sodass die Gesetzgeber nicht nur nicht die Mehrheit der Bevölkerung vertreten, die sie wählt, sondern in Wirklichkeiten nicht einmal frei sind, gemäss dem eigenen Gewissen, wenn sie ein Gewissen haben, Gesetze zu erlassen, wo dieses von den Interessen und vom Willen der effektiven Macht jener privilegierten Minderheiten abweicht.

In den Gesellschaften, die wir verkünden, wird es weder Staat, noch wirtschaftliche Monopole, noch Privilegien jedwelcher Art geben. Die Produktions- und Distributionsarbeit wird von Menschen ausgeübt werden, die unter Bedingungen von Gleichheit, auf Basis der freien Vereinbarung leben. Bereits in unseren Gruppierungen von heute, die sich bemühen, und sei es auch nur in Embryonalform, die anarchistische Gesellschaft zu realisieren, nach der wir streben, vereinigen sich und arbeiten die Gefährten unter den Bedingungen von relativer Freiheit, welche die Umwelt gestattet, aber dem Zwang von jeglicher Autorität entfliehend, das heisst unter Bedingungen von Gleichheit und ohne eigennützige Motive.

Nun, wenn die Autorität des Menschen über den Menschen und die Hegemonie der wirtschaftlichen und sozialen Privilegien die einzigen Gründe für die Ungültigkeit des repräsentativen Systems bilden würden, stände der Tatsache nichts entgegen, dass dieses System in die anarchistische Gesellschaft der Zukunft übertragen wird, stände der Tatsache nichts entgegen, dass es auch heute von den Anarchisten in ihren Gruppen-, Propaganda- und Organisationstätigkeiten übernommen wird, wo diese Privilegien keine Wurzeln haben.

Es ist nicht nötig, zu sagen, dass das repräsentative System auch in den Umfeldern, die sich anarchistisch nennen, breit angewendet wird, insbesondere dort, wo sich die Anarchisten in Föderationen und in Unionen vereinigen, und mehr noch im gewerkschaftlichen Bereich, wo die Anarchisten zu Kongressen und zu Treffen oder auch zu Verwaltungsaufgaben und sogar zu Verlagsfunktionen von unterschiedlicher Natur Delegierte wählen, oder sich als solche wählen lassen.

Diese Transplantation des repräsentativen Systems erfolgt allerdings nicht ohne Schaden, und auch nicht ohne Opposition.

Wir alle haben gesehen, wie viel Schaden beispielsweise die Vertretungen der Confederación Nacional del Trabajo in Spanien, zur Zeit der antifaschistischen Kämpfe von 1936-39, sowohl der Sache der Freiheit in ihrem Land, wie auch der anarchistischen Bewegung im Allgemeinen zugefügt haben. Damals wirkte das repräsentative System, praktiziert von Menschen, die sich Anarchisten nannten, gleich, wie es bei allen autoritären Parteien wirkt. Zu einem gewissen Zeitpunkt übernahmen die angeblichen Vertreter des iberischen libertären Proletariats die Initiative einer Regierungspolitik, die den Prämissen der anarchistischen Lehre absolut entgegengestellt ist, und, ohne ihre Mandanten zu befragen – ja sogar ihre Proteste, wo sich Anlass dafür bot, in der Zensur und im Blut erstickend –, entsandten sie ihre Männer dazu, Ministerämter zu bekleiden und mit brutalen Repressionen des Volkswillen zu solidarisieren.

Die internationale anarchistische Bewegung hat die Konsequenzen von dieser verhängnisvollen Perversion noch immer nicht fertig abbezahlt.

Die absolutistische Reaktion des Nazifaschismus erzeugt, wie es Malatesta voraussah, als Reaktion einen Zuwachs von Sympathien für das demokratische Regime. Der Kampf, um den Nazifaschismus zu stürzen, ein langer, blutiger und zwangsläufig gemischter Kampf, hat zwischen den Kämpfern der autoritären demokratischen Parteien und den anarchistischen Militanten, die sich an ihm beteiligt haben, unvermeidlich eine Waffen-, Gefahren- und Missbehagenbrüderschaft kreiert, die sich nach dem Fall des Faschismus nicht wird rasch auflösen können. Es wird Demokraten geben, die durch diese Waffenbrüderschaft dem Anarchismus zugeneigt sein werden, aber es wird mit Sicherheit auch Anarchisten geben, und es gibt solche, die hingegen dazu geneigt sind, den demokratischen Methoden Zugeständnisse zu machen. Die Nachrichten, die wir täglich aus Europa erhalten, besagen in der Tat, dass es eine grosse Verwirrung in den Ideen der Übriggebliebenen des aufständischen Kampfes gegen den Nazifaschismus gibt, und dass das dringendste Problem für die Propaganda des anarchistischen Ideals darin besteht, die Ideen zu klären.

Der Anarchismus ist eine junge Bewegung, die gezwungen ist, in einer autoritären Welt zu agieren. In dieser Umgebung anarchistisch zu leben, ist unmöglich. Viele, die den Zielen zustimmen, die sich der Anarchismus zu erreichen vornimmt, haben keine sehr klaren Ideen rund um die Methode, um dahin zu gelangen. Und im Übrigen entspricht das, was die auserlesenen Anarchisten selbst tun, nicht zwangsläufig dem Anarchismus, bloss weil es von Anarchisten getan wird.

«Unsere Handlungen – schrieb Luigi Galleani – sind nicht zwangsläufig anarchistisch, weil wir, die sie begehen, Anarchisten sind (niemand würde die Eigenschaft als Anarchist in dem Moment bekennen, in dem er die Steuern, die Miete oder die Bussgelder bezahlt), aber eben umgekehrt sind wir umso mehr Anarchisten, je mehr unsere Handlungen und unser Verhalten unserem Ideal entsprechen.» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt. 25. Juni 1904).

Es geht also darum, zu wissen, ob unsere Handlungen für die Ideen, die wir bekennen, geeignet sind, und ob, in dem Fall, den wir untersuchen, das repräsentative System als geeignete Methode akzeptiert werden kann, sowohl heute, in unseren alltäglichen Beziehungen zur Propaganda und zur Aktion, wie auch morgen, im Funktionieren der Gesellschaft unter anarchistischem Regime.

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Das repräsentative System bringt, an erster Stelle, eine Delegation des Denkens, des Willens und der Funktion mit sich; es bringt, an zweiter Stelle, die Vorherrschaft der Mehrheit mit sich, da die Vertretung andernfalls durch die Opposition bewegungsunfähig gemacht würde; und es bringt, letztendlich, das Prinzip der kollektiven Verantwortung mit sich.

Der Anarchismus schliesst prinzipiell jegliche Herrschaft aus, sei es jene der Mehrheit, jene der Minderheit, oder auch jene des Individuums. Über diesen Punkt gibt es oder dürfte es unter Anarchisten keine Uneinigkeiten geben. Gegen Ende seines langen militanten Lebens schrieb Errico Malatesta, der ferner die Organisation der Anarchisten nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch als getrennte Partei bekannte, diesbezüglich:

«Es ist bekannt, dass die Anarchisten die Regierung der Mehrheit (Demokratie nicht anerkennen, genauso wie sie die Regierung von Wenigen (Aristokratie, Oligarchie, oder Klassen- oder Parteidiktatur), und auch jene eines Einzelnen (Autokratie, Monarchie oder persönliche Diktatur) nicht anerkennen. Die Anarchisten haben die Kritik an der sogenannten Regierung der Mehrheit schon tausend Mal gemacht, die ausserdem übrigens, in der praktischen Anwendung, stets zur Herrschaft einer kleinen Minderheit führt.» (Errico Malatesta, Scritti, Bd. III, S. 306).

Das Prinzip der kollektiven Verantwortung ist im repräsentativen System implizit. Wenn das Individuum, wenn das Volk sein Denken, seinen Willen, seine Funktion an ein anderes Individuum oder an eine Gruppe von Individuen delegieren kann, dann verpflichtet das, was diese Individuen beim Erfüllen dieser Vertretung tun, die Vertretenen. Tatsächlich wohnen wir hier, wo das repräsentative System seine grösste Anwendung erreicht hat, aussergewöhnlichen Manifestierungen dieses Gefühls der kollektiven Verantwortung bei. Euer Kind, das von der Schule zurückkehrt, informiert euch, dass “wir” [gemeint sind die der Vereinigten Staaten von Amerika], in den Häfen von Japan angelangt sind, dass “wir” noch nie einen Krieg verloren haben; der Strassenkehrer versichert euch, dass “wir” für mindestens fünfzig Jahre in Deutschland bleiben werden, oder dass “wir” die Kreditgeber der ganzen Welt sind, und so weiter. Natürlich wiederholt das Kind, was es sagen hörte, und so die Allgemeinheit von all denjenigen, die halb tot sind vor Hunger und nicht einmal Paar Ersatzschuhe haben, aber sich als verantwortlich für all das betrachten, was die Regierung und die herrschende Klasse des Landes tun und entscheiden, zu tun.

Die russischen Anarcho-Kommunisten, die vor zwanzig Jahren die “Plattform” verfassten, übernahmen gemeinsam mit dem repräsentativen System das Prinzip der kollektiven Verantwortung: «Die ganze Union ist verantwortlich für die revolutionäre und politische Aktivität von jedem Mitglied; und jedes Mitglied ist verantwortlich für die revolutionäre und politische Aktivität der Union» – proklamierte die Plattform. Malatesta antwortete, dass «dies die absolute Negierung von jeglicher individuellen Unabhängigkeit und von jeglicher Initiativ- und Aktionsfreiheit ist»; und fügte an: «Aber wenn die Union verantwortlich ist für das, was jedes Mitglied tut, wie kann sie den einzelnen Mitgliedern und den verschiedenen Gruppen dann die Freiheit lassen, das gemeinsame Programm so anzuwenden, wie sie es für am besten halten? Wie kann man verantwortlich sein für eine Handlung, wenn man nicht die Befugnis hat, sie zu verhindern? Die Union, folglich, und das “Exekutivkomitee” für sie, müsste die Aktion der einzelnen Mitglieder überwachen und ihnen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben; und da die Missbilligung nach der Tat nicht die im Vorhinein akzeptierte Verantwortung beseitigen kann, könnte niemand irgendetwas tun, ohne zuvor die Genehmigung, die Erlaubnis des Komitees erhalten zu haben. Und, anders herum, kann ein Individuum die Verantwortung für die Handlungen von einer Kollektivität akzeptieren, bevor es weiss, was diese tun wird, und es kann sie nicht daran hindern, zu tun, was es missbilligt?» (Errico Malatesta, Scritti, Bd. III, S. 305).

Hier befinden wir uns durch und durch im Bereich des Absurden, desselben Absurden, aufgrund dessen die Völker gehalten sind, in Krieg und in Frieden alle Fehler und alle Verbrechen zu büssen, die ihre Regierenden begingen.

Aber, wenn wir die Verantwortungen von unseren Repräsentanten nicht akzeptieren wollen, worin besteht dann noch ihre Eigenschaft als unsere Repräsentanten?

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Die ganze Frage reduziert sich also darauf, zu verstehen, ob es, zuerst einmal, möglich ist, und ob es schliesslich für die Ziele der anarchistischen Aktion und Propaganda angebracht ist, das eigene Denken, den eigenen Willen, oder irgendeine Funktion, die man aus dem einen oder anderen Grund nicht direkt erfüllen will, an andere zu delegieren.

Die ganze anarchistische Literatur ist voller Argumente und Polemiken, die die Unmöglichkeit davon demonstrieren.

In der Anarchistischen Enzyklopädie von Sébastien Faure findet man eine Definition der Delegation, die erklärt, weshalb die Repräsentanz ein unauffindbarer Phönix ist.

«Der Delegierte [oder Repräsentant] – schreibt Faure –, ist also eine Person, der man seine Mächte übertragen hat und die nicht im eigenen Namen, sondern in jenem ihrer Mandanten handelt oder handeln sollte. Die Interessen der Delegierten müssen sich verflüchtigen gegenüber denjenigen der Gruppen, welche sie ernannt haben, um einen Auftrag oder irgendeine Arbeit zu erfüllen, und sie verpflichten sich, ihre eigene Persönlichkeit zu vergessen, um sich alleine der Organisation oder der Individuen zu besinnen, die ihr Vertrauen in sie gelegt haben.» (Encyclopédie Anarchiste, Stichwort: “Délégué”).

Nun, ist es denn möglich, dass ein Individuum, das zum Repräsentanten ernannt wurde, seine Persönlichkeit so weit annullieren kann? Und, falls dies möglich wäre, wäre es menschlich, zu verlangen, dass sich ein vernünftiges, bewusstes und freies Wesen angesichts seiner Funktion als Repräsentant so weit annulliert, dass sie zu einem Roboter des Willens von anderen wird?

Wenn dies unmöglich ist, wenn dies nicht menschlich ist, dann kann es nicht den anarchistischen Prinzipien entsprechen, welche nie das Unmögliche fordern und nie danach streben, die Würde des Menschen zu zerdrücken.

Der Anarchismus ist per Definition der Anspruch auf Freiheit und Würde des Individuums. «Die negative Bedingung der Freiheit – schreibt Bakunin – ist diese: kein Mensch ist einem anderen Gehorsam schuldig; er ist nur unter der Bedingung frei, dass alle seine Handlungen nicht durch den Willen anderer Menschen, sondern durch seinen eigenen Willen und seine eigenen Überzeugungen bestimmt werden.» (Gesammelte Werke, dt. Üb., Berlin 1975, Band II, “Drei Vorträge vor den Arbeitern des Tals von St. Imier”, S. 245).

Wie könnten die Handlungen des Individuums von seinem eigenen Willen bestimmt sein, wenn es diesen Willen, in Dingen, die es betreffen, an andere delegiert?

«Als Anarchisten – schrieb Giuseppe Ciancabilla – gestehen wir keinem Menschen, wie sehr er auch ein würdiger und verdienstvoller Gefährte sein mag, das Mandat zu, die Meinungen von einer abwesenden Masse zu vertreten [...].» (La Protesta Umana, San Francisco, 20. August 1903). Und anderswo ermahnte seine Zeitung “La Protesta Umana” expliziter: «Ein Anarchist kann, um kohärent zu bleiben, keinerlei Delegation von Gruppen oder Grüppchen akzeptieren; die Anarchistenkongresse dürften keine Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheit oder Minderheit aussprechen [...].» (La Protesta Umana, San Francisco, 8. Oktober 1903).

Das Wort Kohärenz ist eines von jenen, das vielen Personen Misstrauen einflösst, als ob es eine Zwangsjacke wäre, die uns von aussen aufgezwungen wird.

Aber es liegt in der Definition selbst der Anarchie, dass jedes Mitglied der Gesellschaft frei ist, persönlich, mit der eigenen Arbeit und dem eigenen Denken, zu seinem und aller Wohlbefinden beizutragen, ohne eine andere Beschränkung als jene, die ihm seine Fähigkeiten und seine Kapazitäten bezeichnen.

Das heisst, dass es sich nicht die Illusion machen kann und soll, manche Aufgaben an andere delegieren zu können, denen es selber nachkommen kann, und, umgekehrt, sich nicht einbilden kann und soll, dass andere an seiner Statt tun können oder wollen, was er selber nicht tun kann oder will. Die anderen werden nach dem eigenen Gewissen handeln, nicht in Ersatz des seinen.

«Bis jetzt – schreibt Engländer, ein anderer Theoretiker des Anarchismus – war man nur auf die Souveränität des Volkes bedacht, wir aber müssen zur Souveränität des Individuums gelangen.» (Cronaca Sovversiva, Lynn, Mass., 11. September 1909). Und die Souveränität des Individuums bedeutet nicht das Recht, zu beanspruchen, noch die Befugnis, sich die Illusion zu machen, dass andere für uns handeln; sie bedeutet bloss, dass wir auf direktem Weg tun können, was wir für notwendig oder für nützlich halten zu tun, und dass andere nicht das Recht oder die Befugnis haben, es uns zu verbieten, unter der Bedingung, selbstverständlich, dass die gleiche Freiheit von Unseresgleichen nicht verletzt wird.

Das meinten unsere Vorgänger, als sie die Notwendigkeit der direkten Aktion verkündeten, die sie nicht bloss als Kampfhandlung verstanden, sondern auch als vom Individuum zu Gunsten der Bewegung und des Ideals entwickelte Propagandainitiativen und Aktivitäten jeglicher Art.

«Jeder Anarchist ist ein Propagandist – schreibt S. Faure –; er würde leiden, wenn er die Überzeugungen verschweigen müsste, die ihn beseelen, und seine grösste Freude ist es, rund um sich herum, bei allen Gelegenheiten, das Apostolat seiner Ideen zu betreiben.» (Encyclopédie Anarchiste, Stichwort: “Anarchiste”).

Und Émile Pouget erklärte die Bedeutung der direkten Aktion auf noch vollständigere Weise, als er schrieb: «Die direkte Aktion ist die Befreiung der Menschenmassen, bis heute dazu bearbeitet, den auferlegten Glauben zu akzeptieren – sie ist ihre Erhebung hin zur Einsicht, hin zum Bewusstsein. Sie ist der Aufruf an alle, sich am gemeinsamen Werk zu beteiligen: ein jeder ist eingeladen, nicht mehr ein menschliches Nichts zu sein, – nicht mehr von oben oder von ausserhalb sein Heil zu erwarten: ein jeder ist aufgefordert, Hand anzulegen, – nicht mehr passiv die sozialen Fatalitäten zu erdulden. Die direkte Aktion beendet den Kreislauf der Wunder – Wunder des Himmels, Wunder des Staates – und in Gegenüberstellung zu den Hoffnungen in die “Vorsehungen” von jedwelcher Art, proklamiert sie die Umsetzung der Maxime: das Heil liegt in uns!» (Cronaca Sovversiva, Lynn, Mass., 23. September 1910).

In jedem Einzelnen von uns, selbstverständlich, denn es ist axiomatisch, dass die direkte Aktion keine delegierte Aktion ist.

Die direkte Aktion des Individuums ist die implizite Maxime in allen Definitionen des Anarchismus.

«Was ist Anarchie?» – fragt Élisée Reclus. Und er antwortet:

«“Ein Leben ohne Meister”, sowohl für die Gesellschaft wie auch für das Individuum, eine soziale Übereinkunft, die nicht aus der Autorität und aus dem Gehorsam, aus den Gesetzen und aus den strafrechtlichen Sanktionen hervorgeht, sondern aus dem freien Zusammenschluss von Individuen und Gruppen, gemäss den Bedürfnissen und den Interessen von allen und jedem.» (Elisée Reclus, Correspondance, Band III, S. 122).

Nicht anders drückt sich Kropotkin aus: «Das freie Individuum stellt die erste Quelle einer freien Gesellschaft dar.»

Um sich «dem Kommunismus zu nähern», wird der Sozialismus «weniger auf dem Prinzip der Vertretung beruhen und mehr self-government werden müssen, mehr Regierung seiner selbst durch sich selber.»

«[Unsere eigene Taktik] – es ist noch immer Kropotkin, der spricht – besteht in der Entwicklung der grösstmöglichen Summe an individueller Initiative in jeder Gruppe und bei jedem Individuum. Die Einheit des Handelns muss sich durch die Einheit des Ziels und die Macht der Überzeugung ergeben, welche jede Idee besitzt, wenn sie, frei ausgesprochen und ernsthaft diskutiert, für richtig befunden wird.»

«Diese Tendenz – schlussfolgert Kropotkin – drückt der gesamten Taktik der Anarchisten, sowie dem inneren Leben ihrer Gruppen den Stempel auf.» (P. Kropotkin, Moderne Wissenschaft und Anarchismus, dt. Üb., Zürich 1978, Seiten 138, 139, 142, 143).

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In der anarchistischen Sprache werden die Kollektivitäten stets nur als temporäre Gruppierungen von freien Individuen betrachtet, jedes für sich denkend und wirkend, nie als Abstraktionen. Lest Malatesta von vorne bis hinten durch und ihr werdet stets finden, dass er nie abstrakt von Gruppen, von Komitees, von Kongressen oder von Organisationen spricht, sondern allzeit Sorge trägt, zu präzisieren, dass er beabsichtigt, von den einzelnen Individuen zu sprechen, welche jene kollektiven Körper zusammensetzen und in eigenem Namen sprechen und handeln.

«Wir stellen uns eine Gesellschaft vor – schreibt Kropotkin –, in der die Beziehungen unter ihren Mitgliedern nicht mehr durch Gesetze [...], nicht mehr durch irgendwelche Autoritäten reguliert werden, ob sie nun vom Volk gewählt wurden oder die Macht aus Erbrecht innehaben; sondern durch freiwillig eingegangene und jederzeit wieder auflösbare, gegenseitige Verpflichtungen, sowie durch Sitten und Gebräuche, die von allen wohl akzeptiert sind. Diese Gebräuche, jedoch, dürfen nicht vom Gesetz oder vom Aberglauben versteinert und kristallisiert werden; [...] Also keine Autorität, die den anderen ihren Willen aufzwingt. Keine Regierung des Menschen über den Menschen. [...] Dem Individuum überlassene Handlungsfreiheit [...]. Die Gesellschaft verlangt nichts vom Individuum, wozu es nicht im Moment selbst, in dem es das tut, frei zugestimmt hat, es zu tun.» (Moderne Wissenschaft und Anarchismus).

Das Individuum handelt, folglich, es delegiert nicht, es beauftragt nicht die anderen, für es zu handeln.

Paraf-Javal geht noch weiter, wenn er schreibt: «Die Revolution wird erst stattfinden, wenn die Menschen keine Mächte mehr delegieren [...], wenn sie es anderen Menschen nicht mehr erlauben, zu sagen: Ihr habt mir das Recht übertragen, für euch zu handeln!» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 14. November 1903).

Nicht nur die Anarchie, sondern die emanzipatorische Revolution selbst ist für Paraf-Javal erst möglich, wenn die Menschen sich von der ungesunden Angewohnheit abwenden, das eigene Handeln und die eigene Verantwortung an andere zu delegieren, denn es ist ihm eben aus dieser Delegation, woraus die Autorität entsteht, und die Flucht vor der Verantwortung, woraus sich die Unterwerfung ergibt.

«Die Autorität – schreibt Galleani –, im volkstümlichen Sinne des Wortes, ist die Gesamtheit der Individuen, welche mit der Verrichtung der öffentlichen Dienste beauftragt sind.» (La questione sociale, Paterson, N.J., 8. März, 1902).

Wählt wen auch immer, zur Verrichtung von öffentlichen Diensten, und ihr werdet eine Autorität geschaffen haben, welche sich der Macht bedienen wird, die ihr ihr übertragen habt, um sich selber Privilegsbedingungen zu schaffen. Denn euer Gewählter, da er nicht aus eigenem Antrieb und unter seiner Verantwortung, sondern durch eure Delegation handelt, wird sich als im Vorhinein entbunden und von euch in all seinen Akten unterstützt betrachten, zumindest solange, bis die Mehrheit seiner Wähler nicht auf unumstössliche Weise ihren Dissens zum Ausdruck bringt, und er wird, folglich, geneigt sein, Verantwortungen auf euch abzuwälzen, die er niemals wagen würde, für sich alleine zu übernehmen.

Michael Bakunin betrachtete das repräsentative System als essenziell bürgerlich. Das Programm der autoritären Sozialisten widerlegend, sagt er just, dass die Arbeiter, auch nach der Abschaffung der privaten Monopole des Reichtums, die Macht zwangsläufig «durch Stellvertretung» ausüben müssten; «das heisst, sie einer zu ihrer Vertretung und Regierung gewählten Gruppe Menschen anvertrauen, wodurch sie unvermeidlich in alle Lügen und in alle Knechtschaften des Repräsentation- oder Bourgeoissystem zurückfallen würden.» (Op. cit, Band III, “Brief an die Brüsseler Liberté”, S. 243).

Man bemerkt, Bakunin spricht von einem Regime, worin die Sozialisierung des Reichtums bereits erfolgt ist und wofür die übliche, für das bürgerliche Regime akzeptierte Kritik des Systems der politischen Repräsentanz nicht zutreffen würde. Er stellt sich entschieden gegen das sozial-kommunistische System, eben weil es, auch dort, wo es das repräsentative System respektieren würde, die Realisierung der individuellen Freiheit nicht erlaubt.

«Man begreift – schreibt Bakunin –, dass auf den ersten Blick ein, zumindest dem Anschein nach, so einfacher Organisationsplan auf die Einbildungskraft von Arbeitern verführerisch wirken kann, die mehr nach Gleichheit und Gerechtigkeit als nach Freiheit begierig sind, und die sich töricht einbilden, dass das eine und das andere ohne Freiheit existieren können, als ob man sich, um die Gerechtigkeit und die Gleichheit zu erobern und zu festigen, auf andere und vor allem auf Regierende verlassen könnte, egal wie sehr sie sich als vom Volk gewählt und kontrolliert bezeichnen mögen! In Wirklichkeit wäre das für das Proletariat ein Kasernenregime, in dem die vereinheitlichte Masse der Arbeiter und der Arbeiterinnen zum Schlag des Tambours aufwachen, einschlafen, arbeiten und leben würden […].» (Ebd., S. 246).

Das Volk wird diejenigen, an welche es seine Unabhängigkeit delegiert hat, indem es seinen Willen und seine Freiheit an ihre Entscheidungen abtrat, niemals kontrollieren können.

Elisée Reclus, der die Anarchie auf eine harmonische Weise auffasste und ihre Prinzipien mit klassischer Formeinfachheit ausdrückte, schrieb in einem Brief, der in allen anarchistischen Propagandazeitungen die Runde machte:

«Abstimmen heisst, abzudanken; einen oder mehrere Meister für eine kurze oder lange Periode zu ernennen, heisst, auf seine eigene Souveränität zu verzichten. Ob er nun absoluter Monarch, konstitutioneller Prinz oder schlicht mit einem kleinen Teil Königtum ausgestatteter Mandatar wird, der Kandidat, den ihr auf den Thron oder auf den Sessel hebt, wird eurer Übergeordneter sein.»

«Abstimmen heisst, sich betrügen zu lassen; – fährt Reclus fort – es heisst, zu glauben, dass Menschen wie ihr plötzlich, beim Klingeln einer Glocke, die Tugend erlangen werden, alles zu wissen und alles zu verstehen. [...]

Abstimmen heisst, den Verrat herbeizubeschwören. [...]

Also dankt nicht ab, [...] stimmt nicht ab! Anstatt eure Interessen anderen anzuvertrauen, verteidigt sie selber; anstatt Advokaten zu nehmen, um eine künftige Handlungsweise vorzuschlagen, handelt!

Für Menschen mit gutem Willen mangelt es nicht an Gelegenheiten. Die Verantwortung für sein Verhalten auf andere abzuschieben, bedeutet, an Mut zu ermangeln.» (Correspondance, Band II, “Lettre à Jean Grave”, S. 364-366).

Wie man sieht, behandelt es hier Elisee Reclus nicht auf besondere Weise, unter kapitalistischem Regime für Abgeordnete, Bürgermeister oder Richter abzustimmen. Er spricht hingegen auf allgemeine Weise von der Delegation, die er unter allen Umständen für eine Abdankung, eine Stupidität und eine Feigheit hält.

***

Aber dann, wird man sagen, wie könnte morgen die anarchistische Gesellschaft funktionieren, wie kann heute selbst die anarchistische Bewegung funktionieren, wo sollen Zeitungen und Propagandabroschüren publiziert werden, wo sollen Komitees zur Assistenz und für so viele andere Initiativen unterstützt werden, wo sollen, schliesslich, die Gefährten, die in den Provinzen und in den verschiedensten und fernsten Staaten wohnen, von Zeit zu Zeit, einander treffen, miteinander sprechen, sich über die gemeinsame Aktion verständigen, und es können nicht alle zum Treffen gehen, sowohl aus Gründen der Zeit, wie auch des Platzes und der Mittel?

Was die Zeitungen betrifft, so hat die Praxis das Problem quasi automatisch gelöst. Wer schreibt, kann und darf nur schreiben, wie er denkt, wenn er schreiben würde, was andere denken, wäre er offensichtlich ein Unaufrichtiger und ein Unehrlicher. Es hat, leider, auch delegierte Zeitungsredakteure gegeben, aber die haben stets geringen Erfolgt gehabt, und zudem war die Delegation stets eher nominal als effektiv, und im Allgemeinen war der grösste Schaden, der sich daraus ableitete, eine unwirksame Vortäuschung glaubhaft zu machen.

Dort aber, wo die Delegation zur Redaktion von einer Zeitung, die sich anarchistisch nennt, effektiv würde, dort, wo die Vortäuschung wirksam würde, könnte der Schaden für die Ernsthaftigkeit und für die Zukunft der anarchistischen Bewegung sehr gross sein. Denn, sich anmassend, für ihre Mandanten zu sprechen, würde die Redaktion in Wirklichkeit einzig für sich selber oder, schlimmer noch, für eine kleine Kamarilla von Geschäftemachern sprechen, auf diese Weise das eigene Denken und jenes der anderen verfälschend.

Was die Komitees zur Assistenz, zur Agitation, zur Aktion oder für Initiativen von jeglicher Art betrifft, so werden diese von den Gefährten im Allgemeinen betrachtet – und in Realität funktionieren sie – als Gruppen von Bereitwilligen, welche die Solidarität und die Mitarbeit der anderen Gefährten verdienen, solange sie eine Arbeit entwickeln, die als nützlich oder notwendig oder korrekt erachtet wird, und anderenfalls von jenen, die anderer Meinung sind, sich selbst überlassen werden. Denn sofern sie als repräsentative Körperschaften von einer lokalen oder regionalen Bewegung betrachtet werden, so werden sie zu Institutionen, die den allgemeinen Regeln der demokratischen Politik unterstellt sind, Zielscheibe von mehr oder weniger künstlichen Mehrheiten oder Minderheiten, zwangsläufig behindert in ihrem Wirken von den inneren Uneinigkeiten, welche die Gemüter verbittern und von der Aktion abwenden: sowohl die Bereitwilligen, die sich nicht mehr frei fühlen, gemäss dem eigenen Gewissen zu handeln, wie auch die Allgemeinheit der Gefährten, die, sich als vertreten betrachtend, den angeblichen Vertretern die Arbeit überlassen, welche mit den verschiedenen Initiativen verbunden ist, die sie hätten unternehmen können.

Die direkte Aktion der Militanten ist, erinnern wir uns stets daran, die unerlässliche Bedingung für die Existenz von einer wirklichen und fruchtbaren anarchistischen Bewegung. Und die Aktionsfreiheit von jedem und allen ist ihr unerlässlicher Antrieb – stets gesetzt, dass die Freiheit der einen nicht in die gleiche Freiheit der anderen eingreift.

Was die Kongresse und Versammlungen betrifft, so hat sich die Frage des repräsentativen Systems den Gefährten seit den Anfängen der anarchistischen Bewegung, als theoretische und praktische Bewegung, innerhalb der Ersten Internationale gestellt.

«Sobald aber das Absolute nicht existiert – schrieb Bakunin 1872 –, kann es für die Internationale kein unfehlbares Dogma, und infolgedessen auch keine offizielle ökonomische oder politische Theorie geben, und unsere Kongresse dürfen nie die Rolle von ökumenischen Räten beanspruchen, welche Prinzipien proklamieren, die für alle Mitglieder und für alle Gläubigen obligatorisch sind.» (Op. Cit., Band III, “Brief an die Brüsseler Liberté”, S. 222).

Die Zeitung “La Révolte”, an welcher die bekanntesten Militanten der ersten Generation der anarchistischen Bewegung mitarbeiteten, schrieb diesbezüglich seit 1891:

«Die grosse Hürde, der die anarchistischen Versammlungen stets begegnet sind, besteht darin, zu wissen, ob es dort Delegierte geben soll oder nicht. Alle hinzugehen, ist unmöglich, das würde zu viel kosten. Delegierte zu nominieren, wäre nicht anarchistisch. So hat man es vorgezogen, nichts zu tun, während es doch so einfach gewesen wäre, dazu beizusteuem, einen Gefährten in Stand zu setzen, die Reise zu machen.

Wir verstehen die Angst sehr gut, die die Delegationen einflössen. Es ist die Angst vor Kongressen, die die Parlamentarier nachahmen, die Angst vor Entscheidungen, die von einem Zentrum auferlegt werden. Aber, wenn man einmal keinerlei Zentrum zulässt, und keine Entscheidungen jedwelcher Art akzeptiert, ausser dann, wenn sie sich zu eigen gemacht werden, dann könnte man diese Versammlungen als schlichte Gelegenheiten betrachten, um Ideen auszutauschen. In diesem Falle ist der Gefährte, dem per Spendensammlung die Reise bezahlt wurde, kein Gesetzgeber, sondern ein Gefährte, der schlicht andere Gefährten sehen ging, um aus ihrem Kontakt einen Mundvoll frische Luft zurückzubringen.»

«Dies, natürlich – schlussfolgerte “La Révolte” –, wenn es wirklich etwas gibt, das es zu diskutieren gilt, irgendeinen Punkt, über den es erforderlich ist, sich zu verständigen.» (La Révolte, Paris, 11.-17. April 1891).

Das ist, in Wirklichkeit, was jedes Mal geschieht, wenn ein Individuum an ein solches Treffen oder einen solchen Kongress geht, ob dieser nun anarchistisch ist oder nicht. Der einzige Unterschied zwischen einem Delegierten und jemandem, der nur beansprucht, sich selber zu vertreten, ist wahrscheinlich jener, dass der erstere, da er sich den Anschein geben muss, denjenigen, die ihn gewählt und ihm geholfen haben, für die Spesen der Reise und des Aufenthaltes am Ort des Treffens aufzukommen, etwas zurückzutragen, sich gezwungen sieht, die Tätigkeit, die er selber dort ausübte, ins bestmögliche Licht zu rücken, um in seinen Mandanten – oder Wählern – die Illusion zu stärken, angemessen vertreten worden zu sein; während der zweitere, also derjenige, der, mit der Hilfe von anderen, an die Versammlung gehen konnte, ohne anderen Anspruch als sich selbst zu vertreten, da er keine Illusion aufrecht zu erhalten hat, nicht versucht sein wird, der Wahrheit von dem, was geschah, etwas anzufügen.

Im Jahr 1904, anlässlich der Weltausstellung von Saint Louis, Missouri, gedachten die Gefährten von dieser Stadt, ein Treffen einzuberufen, an dem sich alle Gefährten der Vereinigten Staaten, und anderer Länder, eingefunden hätten, welche sich nach Saint Louis begeben hätten, um die Ausstellung zu besuchen. Die Redaktion der Zeitung “La Questione Sociale” aus Paterson schlug vor, um der Sache eine grössere Wichtigkeit zu geben, dass «die Gefährten, die an das Treffen gehen werden, darüber hinaus, natürlich sich selber zu vertreten, auch Vertreter von Gruppen, Zirkeln, Kernen und anderen Einrichtungen sein sollen [...], ansonsten würde das Treffen Gefahr laufen, sich auf eine kurze Zusammenraufung von vier vom Schicksal Begünstigten zu reduzieren, die exzellente Vertreter des anarchistischen Ideals sein mögen, ebenso wie auch... das Gegenteil».

Der Gefährte Galleani erhob Einwand, in der “Cronaca Sovversiva”, und es entstand eine recht heftige Polemik bezüglich dem ehrenhaften Anarchisten.

«Die Delegationen von Willen, Energie und Denken – schrieb Galleani – sind absurd und usurpatorisch, wenn es sich um sozialistische Kandidaten handelt, aber logisch und rehabilitiert (gemäss der “Questione Sociale”), wenn sie zum Gebrauch der anarchistischen Kandidaten am Treffen von Saint Louis modernisiert werden sollen.» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt. 11. Juni 1904).

«Unsere Handlungen – wendete Galleani damals ein – sind nicht zwangsläufig anarchistisch, weil wir, die sie begehen, Anarchisten sind (niemand würde die Eigenschaft als Anarchist in dem Moment bekennen, in dem er die Steuern, die Miete oder die Bussgelder bezahlt), aber eben umgekehrt sind wir umso mehr Anarchisten, je mehr unsere Handlungen und unser Verhalten unserem Ideal entsprechen.»

«Eine Gruppe, ein Kern, ein Zirkel, der sich über die Lösung einig ist, die es einem bestimmten Problem zu geben gilt, spaltet sich hingegen über gewisse andere in zwei, in drei, in mehrere Untergruppen auf. Wird der Delegierte am Treffen den Willen der Minderheit, der Mehrheit, der zweiten oder der dritten Gruppe vertreten?

Und das Denken von wie vielen und von welchen Gruppen wird die beschlussfassende Körperschaft in ihren Beschlüssen widerspiegeln? Und wie viele Gruppen werden in diesen Beschlüssen nicht einmal ein entferntes Echo von ihrem Denken und ihren Ansichten finden?

Muss man etwa – fragte Galleani – muss man etwa die gesamte Kritik wiederholen, womit der Anarchismus seit einem halben Jahrhundert das parlamentarische System entkräftet, indem er schlussfolgert, dass keine Delegation von Willen, Energie und Denken übertragbar ist?»

“La Questione Sociale“ antwortete, dass es nicht darum ging, Willen, Energie oder Denken, sondern schlicht Funktionen zu delegieren.

«Unser herzlichstes Misstrauen» – antwortete Galleani.

«So hat es schon immer begonnen. Vor zwanzig Jahren akzeptierten Andrea Costa und nach ihm Musini, und Maffei später, von den Wählern aus der Romagna, aus Parma und Emilia das Mandat, den rebellischen Protest der Enterbten des Vaterlandes ins Parlament zu tragen, mit dem ausdrücklichen und erneuerten Vorsatz, sich entschieden jeglicher Beteiligung an der Abstimmung, jeglicher Mitarbeit am gesetzgeberischen Werk des Parlamentes zu enthalten.

Es handelte sich, unter diesen Rahmenbedingungen, nicht um eine Delegation von Mächten, es handelte sich um eine schlichte, harmlose Delegation von Funktionen...

Wo sind sie geendet?

Die Gefährten aus Italien wissen es, die sich, belehrt durch die Erfahrung, auch in Zeiten von grösserer Reaktion, heftig gegen die Protest-Kandidaturen von Palla, von Galleani, von Malatesta oder von Schicchi aufgelehnt haben, Kandidaturen, die weder eine Delegation von Mächten, noch eine Delegation von Funktionen darstellten, aber unter der impulsiven Naivität des Gefühls den Irrtum und den Widerspruch verhüllten.» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 25. Juni 1904).

Und, da sich die Polemik über den ehrenhaften Anarchisten erhitzt hatte, bekräftigte Galleani kategorisch, dass die Verfechter der Delegation «[…] im Namen der Masse, die sie mit einer Delegation betrügen wollen, trotz welcher sie nur sich selbst vertreten» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 27. August 1904), sich zu Verkündern des repräsentativen Systems machen.

Bedeutet das, dass die Aktion gelähmt werden muss, dass keine Versammlungen gehalten werden dürfen, dass es ausserhalb des repräsentativen Systems nur den Absolutismus der Auferlegungen geben kann?

Mitnichten.

«Das spontane Übereinkommen der Kriterien, der Beurteilungen, der Vorschläge, aufgrund dessen sich die gewagtesten Initiativen in siegreiche Realität umsetzen – schrieb Galleani –, ist stets möglich, aber unter der Bedingung, dass die Energien und der Wille eines jeden frei von jeglichem Kompromiss und von jeglicher Erniedrigung bleiben.»

Und er erklärte: «Jede komplexere und kühnere Initiative kann ihre Realisierung, ohne sich zu schmälern, im freien und spontanen Zusammenwirken von all jenen finden, die mit ihrer Nützlichkeit und Wirksamkeit übereinstimmen [...].» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 10. September 1904).

«Ich habe bisher gesehen, dass alle Gefährten, die das Studium von irgendeinem spezifischen Aspekten des sozialen Problems vertieft haben, bei den Gefährten stets einen Weg gefunden haben, um das Resultat ihrer Untersuchungen und ihrer Studien in einer Zeitung, in einer Broschüre oder an einem Treffen öffentlich zu machen.

Wenn Errico Malatesta, der noch nie ein vom Schicksal Begünstigter war, die wunderbare Didaskalie seiner “Fra Contadini” [“Unter Landarbeitern”] hätte auf eigene Spesen verbreiten müssen, läge das Manuskript wohl noch immer auf dem Boden seines Koffers. Ebenso würde ich, wenn ich an das Treffen von Saint Louis oder an irgendeine Propagandaversammlung gehen sollte, wofür Zeit- und Geldaufwand nötig ist, mich nicht aus dem Haus bewegen, bis in alle Ewigkeit. Aber ich bin mir sicher, dass ich, wenn ich eine Gruppe von Gefährten nach einem Mittel frage, um in einer Broschüre, an einer Kundgebung, an einem Treffen etwas zu sagen, was der Entwicklung, der Orientierung oder einer wirksamen Bekräftigung der gemeinsamen Ideen nützen kann, reichlich das Mittel oder die Mittel finden werde, die für das Unterfangen unerlässlich sind.

Impliziert all dies eine Delegation, eine Vertretung, ein Mandat?

Nicht einmal den Schatten davon! Ich werde nur meine Ideen darlegen, verteidigen, vertreten, egal, was die Ideen der Gefährten sind, die mich in die Lage versetzt haben, sie zu veröffentlichen und sie zu verbreiten.» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 9. Juli 1904).

***

Über die Frage der Kongresse schrieb der Gefährte Antonio Cavallazzi, der für mehr als ein Jahrzehnt der eifrigste und aktivste Mitarbeiter von Galleani in der “Cronaca Sovversiva” war, im Jahr 1905, anlässlich eines Vorschlags für einen Internationalen Kongress, der von der Arbeiterstiftung Argentinien gemacht wurde:

«Für uns darf einem anarchistischen Kongress – benutzen wir ruhig dieses Wort von gängigem Gebrauch – nicht von Individuen beigewohnt werden, die eine spezielle Vertretung, eine Funktion innehaben. Ein Mensch kann nicht anderen seine Vertretung auftragen, ohne einem Teil von seiner Persönlichkeit zu entsagen, und auch nicht eine Vertretung empfangen, ohne gegenüber denjenigen, die ihn mit dieser Vertretung betrauen, eine bürgerliche Vormachtstellung einzunehmen.

Andererseits ist es absurd, ein Individuum zu delegieren, damit es sich an ein Treffen begibt, um über bestimmte Fragen zu diskutieren, und ihm aufzuerlegen, eine im Voraus festgelegte Ideenordnung zu verfechten. Diese Vorgehensweise würde das Treffen zwangsläufig nutzlos machen, denn, da somit die Meinungen im Voraus gemacht sind, wäre die Diskussion, die darauserfolgen würde, nahezu überflüssig.» Das repräsentative System ist also, gemäss Cavallizzi, mit den anarchistischen Prinzipien unvereinbar, und, «um einen wirklich libertären und wirksamen Charakter zu haben», muss einem Kongress «von freien Individuen beigewohnt werden, die jeglichem Mandat, jeglicher offiziellen Vertretung einer Gruppe oder eines Zirkels entblösst sind, von Individuen, die Ideen haben, die es zu diskutieren gilt, Fragen, die es zu debattieren gilt, um deren intrinsische Wirksamkeit aufdecken zu lassen.» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 30. September 1905).

Für Galleani stellte das repräsentative System einen der fundamentalen Gründe dar, weshalb er die Föderation der Anarchisten in einem formellen Organismus für unmöglich hielt.

Im Jahr 1908, als die Gefährten von New York vorgeschlagen haben, alle in den Vereinigten Staaten wohnhaften Anarchisten in einer Föderation zu organisieren, schrieb Galleani, dass die Erfahrung lehrt, dass «die verstreuten Anstrengungen und Energien auf spontane, kraftvolle Weise unter dem Ansporn des Bedürfnisses und der Anforderungen des Kampfes Zusammenkommen und sich koordinieren, bis sie über den listigsten Feind, über seine finstersten Hinterhalte, über seine perfidesten Tücken triumphieren [...].

Die Föderation setzt, per Definition, zwei Rahmenbedingungen voraus, die, in Missachtung aller Versicherungen von Unabhängigkeit und Autonomie, welche uns von den Vorschlagenden gegeben wurden, das Qualifikativ „Anarchie“ zerstören, zu dem sich, im gegebenen Fall, die Delegation und die Zentralisierung gesellen will, was dasselbe ist, wie zu sagen: Parlamentarismus und Regierung. Haben die Gefährten von New York nachgedacht über die merkwürdige Situation, in der sie sich gegenüber den Gegnern befinden, und über den Widerspruch, den sie unauflösbar zwischen ihren Handlungen und ihren Worten errichten würden?

Wir haben bis hierhin in der elektoralen und parlamentarischen Aktion der Sozialisten diese Delegation der Funktionen bekämpft, welche die erste und verhängnisvollste aller Formen der Entsagung ist, welche die Negierung der direkten Aktion und die Auslöschung von jeglicher Initiative ist [...].» (Cronaca Sovversiva, Barre, Vt., 18. Januar 1908).

Die Zitate könnten endlos fortgeführt werden, um unabänderlich zum logischen Schluss zu gelangen, dass das repräsentative System nicht nur mit den anarchistischen Prinzipien der individuellen Freiheit, sondern auch mit den elementarsten Begriffen der Ehrlichkeit, der Aufrichtigkeit und der Wahrheit unvereinbar ist.

***

Die Idee der politischen Repräsentanz impliziert die Notwendigkeit eines generischen Mandats, welches im Gemeinrecht lediglich auf die Minderjährigen und die Entmündigten angewendet wird, auf all diejenigen kurzum, die, da sie geistig beeinträchtigt sind, zu persönlicher Verantwortung unfähig sind und unter Vormundschaft gestellt werden. Das repräsentative System ist wahrhaftig der Mechanismus, mittels welchem das souveräne Volk mit der eigenen Zustimmung entmündigt und der Vormundschaft der privilegierten Klassen unterstellt wird.

Die Anarchisten verfechten, dass der erwachsene Mensch seine Mündigkeit erreicht hat und sich deshalb von allen Vormundschaften, egal wie instituiert, emanzipieren und gemäss dem eigenen freien Gewissen und unter seiner persönlichen Verantwortung handeln muss. Das repräsentative System bewahrt all seine Mängel ebenso sehr, wenn es von Anarchisten angewendet wird, wie dort, wo es von anderen angewendet wird. Malatesta sagt geradezu, dass, «in Anbetracht der Bedingungen, unter welchen die Anarchisten leben und kämpfen, ihre Kongresse noch weniger wirklich repräsentativ sind als es die bürgerlichen Parlamente selbst sind, und ihre Kontrolle über die exekutiven Organe, wenn diese autoritäre Befugnisse haben, schwerlich prompt und wirksam ausfällt.» (Scritti, Bd. III, S. 306).

Der Anarchist, sowohl wenn er individuell agiert, wie auch wenn er in der Gruppe agiert, tut nichts ausser das, was ihm sein Gewissen suggeriert, und eben deswegen ist er Anarchist, insofern, als er sein Gesetz in sich selber hat. Er sucht nicht die Autorisierung von anderen für das, was er tut, und er beansprucht auch nicht, dass andere für ihn handeln. Wenn sein Werk gut ist, wird es gutgeheissen und nachgeahmt werden. Wenn es schlecht ist, wird es missbilligt werden, und ihm selbst wird es eventuell gelingen, seine Fehler zu sehen.

Eine deutliche Weisung dafür, wie die neuen sozialen Ideen realisiert werden können, ohne auf die Mystifizierungen des repräsentativen Systems zurückzugreifen, erhalten wir von den Vorläufern des Sozialismus selbst. Schon seit der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schrieb Victor Considérant, ein Schüler von Fourier, dass zwei Wege offen sind für jede Idee, um realisiert zu werden: der gesetzgeberische Weg, das heisst der Weg der Macht, welchen die Anarchisten zurückweisen, und der wissenschaftliche Weg, der – sagt Considérant – «in der Fähigkeit besteht, die nunmehr den Anhängern von jeder der sozialistischen Ideen angehört, frei mittels Darlegung und Diskussion für ihre Verbreitung in den Köpfen zu sorgen, und sich untereinander zusammenzuschliessen, um sie in die Praxis umzusetzen, und eben dadurch, um von ihren Systemen vor der Gesellschaft die Erfahrung zu machen. Die Fortschritte der Wissenschaft sind, soviel ich weiss, noch nie vom Gesetz dekretiert worden. Sie sind stets, und sie werden stets das Produkt der Selbsttätigkeit der Wissenschaftler, ihrer Studien, ihrer Diskussionen, und letztendlich ihrer Experimente sein. Der Weg, der dem Fortschritt von allen anderen Wissenschaften gedient hat, und immer dienen wird, wird notwendigerweise jener der sozialen Wissenschaft, sobald die verschiedenen Sozialismen, wenn sie nicht mehr politische Parteien im Wettstreit um die Regierungsmacht sein können, nur noch Schulen im Wettstreit um die freie Eroberung der Intelligenzen sind.»

Zu unseren Tagen wird derselbe Gedanke vom Gefährten Luigi Bertoni in einem Artikel von ihm über das Wort Élection, in der Encyclopédie Anarchist, präsentiert. Bertoni sagt nämlich:

«Die anarchische Lösung, die offensichtlich zunächst das Ende der Gegenüberstellung zwischen privaten Interessen und öffentlichem Interesse voraussetzt, durch eine Ordnung der Dinge, worin jeder, während er sein partikuläres Wohlbefinden sucht, zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt, wird darin bestehen, im sozialen Bereich das anzuwenden, was im wissenschaftlichen Bereich gemacht wird. All jene, die sich einer bestimmten Wissenschaft hingeben, gehen ihren Entdeckungen und ihren Anwendungen durch die freie Forschung und das freie Experimentieren nach, stets auf neue Perfektionierungen abzielend. Diese einmal realisiert, besteht keinerlei Bedarf an einer polizeilichen Gewalt, um sie durchzusetzen. Jeder beeilt sich, sie seinerseits anzuwenden, und gleichzeitig, eventuelle Verbesserungen daran vorzunehmen. Durch diese Methode hat die Menschheit bereits wunderbare Fortschritte vollbracht, ohne jedwelchen Bedarf, Wahlen durchzuführen. Ein jeder hat sich selbst gewählt, durch seine Intelligenz, seine Hingabe und seine Arbeit, durch einen manchmal hartnäckigen Kampf gegen antike Vorurteile oder unlautere Interessen. Die Verwaltung der öffentlichen Sache, in all ihren mannigfachen Teilgebieten, ist selber ebenfalls eine Wissenschaftsfrage. [Und] Wahlen haben wahrlich nichts wissenschaftliches [...].»

Die wissenschaftliche Methode wird hier nicht als ein Talisman heraufbeschworen, der jederzeit parat und unfehlbar die definitive Lösung für alle sozialen Probleme hat.

Nein, sie wird hingegen als die praktische und konkrete Methode schlechthin verstanden, durch die Erfahrung bestätigt als die ergiebigste an Resultaten, stets unvollständig – denn die definitiven Lösungen gibt es nicht aber stets perfektionierbar.

Sie wird als Möglichkeit verstanden, für alle, ob Individuum oder Gruppe, die glauben, irgendein Problem zum Vorteil von sich und anderen lösen zu können, frei die praktische Erfahrung davon zu machen, um, aufgrund der Ergebnisse, festzustellen, ob diese Lösung gut ist oder nicht.

Die Probleme der Physik, der Chemie und jedes anderen Zweigs der Wissenschaft werden auf diese Weise gelöst.

Man muss jedoch, in der sozialen Wissenschaft wie in allen anderen, völlige Forschungs- und Experimentierfreiheit haben. Man muss, ferner, die notwendigen Mittel besitzen, um jene Untersuchungen und jene Experimente durchzuführen.

Freiheit und Mittel, die den Pionieren des sozialen Fortschritts durch das Dogma der Autorität und durch den Fetisch des Eigentums, als ausschliessliches Monopol des Individuums oder des Staates, völlig verschlossen sind.

Die Autorität des Staates verweigert noch heute den Soziologen – wie sie sie einst den Physikern verweigerte – die Freiheit, Experimente zu machen, die fähig sind, die Absurdität ihrer Gesetze und ihrer Institutionen zu demonstrieren. Das Sondermonopol des sozialen Reichtums verwehrt ihnen die Mittel dazu.

Aber in ihren Gruppen und ihren Zirkeln, in denen sich ihr Bewusstsein manifestiert, haben die Anarchisten sich von der Tyrannei des Dogmas der Autorität und vom Fetisch des Privateigentums emanzipiert. Im beschränkten Umfeld ihrer individuellen und kollektiven Aktion sind sie frei von jeglicher Autorität und sind sie angetrieben von Überzeugungen, nicht von Interessen. Sie befinden sich, demnach, in Bedingungen, die es ihnen gestatten – in ihren Beziehungen – die wissenschaftliche Methode der Untersuchung und Experimentierung anzuwenden, die es ihnen erlauben, jene Lösungen zu finden, die den anarchistischen Prinzipien am besten entsprechen und, folglich, für ihre Bewegung am vorteilhaftesten sind.

***

Solange die auf dem Privileg von Reichtum und Macht begründete Ordnung fortdauert, ist die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Verwaltung der öffentlichen Sache unmöglich. Denn in Gesellschaften, die auf dem Privileg von wenigen basieren, gibt es nicht wirklich eine öffentliche Sache, die die vielen Enterbten verwalten könnten. Der ganze Reichtum und die ganze Macht sind Monopol einer privilegierten Minderheit, welche sie zwar im Namen der Öffentlichkeit, aber, in Wirklichkeit, ausschliesslich im eigenen Interesse verwaltet.

Unter solcherlei Bedingungen realisiert das repräsentative System weder die Volkssouveränität, noch die Freiheit des Individuums. Die ganze Menschheit wird der Vormundschaft der Reichen und der Mächtigen unterstellt, und die Volkswahlen haben nur insofern einen Wert, wie sie diesen Zustand von Vormundschaft sanktionieren. Dort, wo die enterbte und unterdrückte Menschenmenge Anstalten macht, dagegen zu rebellieren, werden alle Ressourcen der Macht und des Reichtums in Bewegung gesetzt, um sie zurück in die Unterwerfung zu stossen.

In der Evolution der politischen Formen stellt das repräsentative System für die enterbten Menschenmengen keinen effektiven Fortschritt dar. Die wirkliche Errungenschaft, die durch die politische Revolution vollbracht wurde, besteht in der Formulierung des Prinzips der Volkssouveränität, welches die Ursprünge der Macht vom Himmel auf die Erde überführt und festlegt, dass die Menschen die alleinigen Urheber ihres Schicksals sind. Aber das repräsentative System realisiert dieses Prinzip nicht, es verfälscht es, es korrumpiert es und es verrät es. Das repräsentative System verleiht den Menschen, als proklamierte Urheber des eigenen Schicksals, keine andere Befugnis als jene, ihr Schicksal an die privilegierten Klassen zu delegieren, welche sie regieren und ausbeuten.

Das Prinzip der Volkssouveränität kann seine Realisierung einzig und alleine in der vollständigen Freiheit des Individuums erreichen. Diejenigen, die sich zum Ziel setzen, den weiteren Fortschritten der Zivilisation Antrieb zu geben, sind deshalb gehalten, sich dafür einzusetzen, dass dieses unrealisiert gebliebene Prinzip lebendige und wirksame Realität wird. Und das ist speziell die Aufgabe der Anarchisten, die im Bereich des sozialen Fortschritts das sind, und beanspruchen, das zu sein, was die wahren Wissenschaftler im Bereich des Wissens, des Studiums und der Untersuchung sind: die Pioniere, die unermüdlichen Erforscher der Wahrheit.

Die Geschichte kennt keine Alternative zum repräsentativen System, das von der bürgerlichen Demokratie generalisiert wurde, ausser im auto-kratischen und oligarchischen Absolutismus. Die soziale Wissenschaft ist noch in ihrer Kindheit und die Zögerungen sind verständlich. Vielleicht ist es unvermeidlich, dass sich, auch in der anarchistischen Bewegung, von Zeit zu Zeit der Versuch zeigt, das repräsentative System einzuführen, und folglich die Notwendigkeit, die – bereits seit Jahrzehnten von unseren Vorläufern gemachte – Demonstration von der Unmöglichkeit zu wiederholen, die Illusionen und die Täuschungen von diesem System mit den Prinzipien der Anarchie zu vereinbaren.

Aber wir müssen uns wehren gegen solche Versuche. Wir müssen den Mut haben, die neuen Wege, die vom Ideal angezeigt und von der durch die Erfahrung bestätigten Vernunft beleuchtet werden, einzuschlagen.

Wir sind Ausrufer von einer neuen Idee des sozialen Zusammenlebens, von einer Idee, die gewaltsam gegen die ererbten Vorurteile, gegen die Trägheit der durch Unwissenheit und Entbehrungen abgestumpften Gemüter, und vor allem gegen die vom ökonomischen und politischen Privileg verschanzten Interessen stösst.

Angesichts der Notwendigkeit, unsere Ideen den Menschen und den Völkern bekannt zu machen, angesichts der Notwendigkeit, sie vor den Tücken und vor den Angriffen unendlicher Feinde zu verteidigen, sind wir gehalten, neue, unerforschte, unbekannte Wege zu suchen. Wie der Forscher, der in den Dschungel vordringt, müssen wir diese Wege uns selber und den anderen öffnen, mit der Anstrengung von Denken, Muskeln und Willen, uns bei jedem Schritt versichernd, nicht vom Kurs abzuweichen.

Die Idee ist unser einziger Kompass, und wenn die Idee uns davor warnt, dass wir vom Weg abgekommen sind, dann müssen wir uns zurück auf die gute Richtung setzen.

Wenn wir zur Anwendung des repräsentativen Systems zurückkehren – erfunden im Mittelalter von listigen Tyrannen, um ihre Tyrannei über ihre unwissenden Untertanen zu stärken –, würden wir uns auf einen falschen Weg begeben, der nicht zur Anarchie führen kann, da er von einer Vortäuschung, einer Anmassung und einem Betrug ausgeht, die sehr gut der Autorität gedient haben und dienen, aber niemals der Sache der Freiheit, der Solidarität und der menschlichen Emanzipation werden dienen können.

Quelle: Max Sartin - Das repräsentative System und das anarchistische Ideal. Konterband-Broschüren 5. Zürich, Oktober 2015. Original: Max Sartin, Il Sistema rappresentativo e l’ideale anarchico, herausgegeben als Broschüre von “Biblioteca de L’Adunata dei refrattari", 1945, Newark, N.J. (USA). Übersetzt aus dem Italienischen. Zitate wo möglich abgeglichen und aktualisiert.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/max-sartin-das-reprasentative-system-und-das-anarchistische-ideal


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