Ferdinand Groß (Wien 1908 - Graz 1998) - Aus dem Leben eines österreichischen Anarchisten und Antimilitaristen
Am 12. Jänner 1998 verstarb in Graz einen Monat vor seinem 90. Geburtstag einer der letzten aus der "alten Garde" der anarchistischen Bewegung in Österreich. Manchem wird er durch seine zweiundzwanzig Jahre hindurch erschienene Zeitschrift "Befreiung" bekannt sein, manchem auch durch Begegnungen im privaten Rahmen oder bei Anarchistentreffen. Und wohl keiner, der ihn persönlich kannte, wird seine außergewöhnliche Energie und seine ständige Bereitschaft zur Überzeugungsarbeit vergessen. Wie unwichtig ihm dabei die Geschichte seines eigenen Lebens war, fiel mir erst auf, als ich diesen Nachruf schreiben wollte. Ich konnte mich wohl stundenlanger Gespräche zu aktuellen Problemen oder zum Anarchismus im allgemeinen entsinnen, aber Näheres über sein Leben, an dessen beispiel- und vorbildhafter Führung ihm so sehr gelegen war, mußte ich erst anhand zahlreicher Notizen, die ich mir während unzähliger Gespräche machte, sowie aus alten Tonbandabschriften aus den Jahren 1986 und 1989 wieder zusammenbauen.
Ferdinand Karl Gross - so die amtliche Schreibung seines Namens - wurde am 11. Februar 1908 als Kind des Hutmachers Wenzel Gross und der Hausfrau Maria Gross, geborene Kreusel, in Wien geboren. Er war noch keine elf Jahre alt, als der Erste Weltkrieg endete, in dessen Folge eine verheerende Hungersnot über Wien hereinbrach. Der tränenreiche Abschied vom Vater, als er zum Kriegsdienst einrücken mußte, gehörte zu seinen frühesten Erinnerungen. Auch der Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und die Errichtung der Republik Österreich blieben in seinem Gedächtnis. Doch der Hunger, erzählte er mir 1986, ist das, an was ich mich wirklich erinnere. Das andere, der politische Systemwechsel, war nur dumpfes Hintergrundgrollen. Aber daß der Krieg an der ganzen Misere Schuld war, wußte ich schon damals. Bedrückend wirkte auch der frühe Tod seiner Mutter. Nach dem Abschluß der Grundschule in Wien zog Ferdinand Gross mit seinem Vater und den Geschwistern zur Stiefmutter nach Graz, wo er 1922 bis 1925 eine Schlosser- und Dreherlehre bei den Puch-Werken absolvierte; die bekannte Fahrrad- und Autofabrik beschäftigte damals an die 2.000 Arbeiterinnen und Arbeiter.
Erste politische Kontakte
Graz, die zweitgrößte Stadt des neuen Österreich, wurde von 1919 bis 1934 von dem sozialdemokratischen Bürgermeister Vinzenz Muchitsch, übrigens ein ehemaliger Anarchist, regiert. Die steirischen Kommunisten hatten als eigenständige Bewegung kaum Bedeutung, denn sie waren 1922 als eine Art Opposition in die sozialdemokratische Partei der Steiermark eingetreten und fungierten nun als deren linker Flügel. 1925/26 nahm Ferdinand Gross erste Kontakte zu sozialdemokratischen und kommunistischen Kreisen auf, besuchte deren Veranstaltungen und machte sich ein wenig mit der einschlägigen Literatur vertraut. Wenn wir ihm glauben dürfen, konnte er schon damals seinen Mund nicht halten. Jedenfalls endete sein immer stärker nach außen getragenes politisches Engagement für die "linke" Arbeiterbewegung mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes. Als offizieller Grund mußte ein Krankenstand herhalten; er hatte eine Blutvergiftung und mußte operiert werden. Schon länger hegte er den Plan, gemeinsam mit einem Freund nach Brasilien auszuwandern. Die beiden Freunde begaben sich 1926 auf die Walz und marschierten bis Hamburg, von wo aus sie sich nach Übersee einschiffen wollten. Als die Firma, welche die geplante Auswanderung organisieren sollte, pleite machte, standen die beiden mittellos und ohne Arbeit da.
Die Zeit der Arbeitslosigkeit
Also marschierten sie weiter nach Luxemburg, wo sie sich in der Hauptstadt niederlassen wollten. Das Arbeitsamt verwies sie jedoch aufs Land, wo sie als Hilfsarbeiter beim Gleisbau Arbeit fanden. Dadurch erhielten sie auch eine Aufenthaltsgenehmigung, und so konnten sie nun eine berufliche Verbesserung anstreben: Sie wurden Hilfsarbeiter in einem Hüttenwerk. Der durch den Hunger der Nachkriegszeit, die Spätfolgen seiner Operation und die Anstrengungen von Wanderschaft und Arbeit geschwächte Ferdinand Gross erkrankte an einer Gehirnhautentzündung, welche er ohne ärztliche Hilfe auskurieren mußte. Bald danach trennten sich die Wege der Freunde: Der eine zog weiter nach Frankreich, Ferdinand Gross blieb in Luxemburg, wo er in einer Schlackenmühle zur Kunstdüngerproduktion, später in einem Walzwerk als Walzer, zuletzt zwei Jahre im Erzabbau unter Tag arbeitete. Wegen seines schroffen Verhaltens gegenüber dem Direktor anläßlich einer ungerechten Beschuldigung entlassen, konnte er in Luxemburg keine Arbeit mehr finden und kehrte nach fünfeinhalb Jahren im Ausland Anfang 1932 nach Graz zurück. Diese Luxemburger Jahre äußerster materieller Not und existentieller Unsicherheit, so betonte Ferdinand Gross später öfters, waren ihm eine soziale Schule. Eine Schule, die ihm die Angst vor dem Leben nahm und die ihm die Gewißheit gab, in jeder Lage den aufrechten Gang gehen zu können. Das war eine wichtige Erkenntnis, erzählte Ferdinand: Die Not kann gar nicht so groß sein, daß man nicht trotzdem zu seiner Gesinnung offen und freien Herzens stehen kann. Irgendwie fand ich immer mein Brot, auch wenn ich den Ausbeutern und Unterdrückern nicht nach dem Maul redete. Ich weiß eigentlich nicht mehr, was ich damals wirklich war: Sozialist? Kommunist? Ich glaube, innerlich war ich damals schon Anarchist, aber halt noch mehr ein Anarchist des Herzens. Es war jedenfalls damals, daß ich von den marxistischen Parolen genug hatte und erstmals anarchistische Ideen kennenlernte.
Auch in Graz erwartete ihn das Schicksal der Arbeitslosigkeit. Zunächst lebte er von der Arbeitslosenunterstützung. In diesen Jahren engagierte er sich in der sogenannten "Friedlandsiedlung" in Unterwald bei Tregist, einem Ort in dem nahe Graz gelegenen Kohlenrevier. Ein Tiroler plante hier die Errichtung einer Arbeitslosen-Siedlung und hatte dafür ein etwa 40 ha großes Grundstück gekauft. Als das Projekt scheiterte, kehrte er nach Graz zurück, wo er allerdings erst nach beinahe sechs Jahren Arbeitslosigkeit 1937 als Dreher wieder in den Puch-Werken Arbeit fand.
Doch wichtiger war ihm wohl, was er hier in Graz erlebte. Bald nach seiner Rückkehr aus Luxemburg versuchte der begeisterte Sänger, der bis wenige Wochen vor seinem Tod jeden Tag mit Gesangsübungen begann, einem Arbeiterchor beizutreten, und stieß auf die "Sängerrunde "Freiheit"". Der Name sagte mir zwar nichts, aber "Freiheit" klang schon einmal gut, erzählte er mit ironischem Lächeln. Er ließ nun seine Stimme schulen (Tenor, doch die Falsett-Technik ermöglichte es ihm, auch Sopran zu singen), teils in einer Grazer privaten Gesangsschule, teils am Konservatorium der Stadt Graz. Bald erreichte er jenes professionelle Niveau, daß es ihm noch in den 60er Jahren ermöglichte, im Gemischten Chor des Grazer Opernhauses mitzusingen. Jedenfalls wurde Ferdinand Gross in der "Sängerrunde "Freiheit"" willkommen geheißen. 1933 trat dieser Chor anläßlich einer Rede des österreichischen Anarchisten Pierre Ramus (d.i. Rudolf Großmann) in Graz auf, und Ferdinand Gross traf zum erstenmal sein großes Vorbild persönlich - bis 1934 sollte es noch zu mehreren solchen Begegnungen kommen.
Begegnung mit Pierre Ramus
Ferdinand, der den Namen "Ramus" zuvor nur gehört hatte, war nun vom Menschen Ramus begeistert und verschaffte sich alle nur erreichbaren Schriften dieses zwischen syndikalistischem und kommunistischem Anarchismus angesiedelten Denkers, der Antimilitarismus und Pazifismus ins Zentrum seiner Weltanschauung rückte. Die Bücher und Broschüren wurden dann in mühevoller Kleinarbeit studiert, denn das Lesen ging damals noch nicht so gut.
Die Person Pierre Ramus' und die weltanschauliche Ausrichtung seiner Schriften, unter denen mir "Das anarchistische Manifest", "Die Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus" und "Die Irrlehre und Wissenschaftslosigkeit des Marxismus im Bereich des Sozialismus" als die wichtigsten erscheinen, sind so etwas wie eine Meßlatte, mit der man seinen eigenen Standort bestimmen kann. Doch die eigentliche Herausforderung war nun, die Überzeugungen, zu denen mich Ramus, aber auch Kropotkin, gebracht hatten, auf meinen eigenen Alltag anzuwenden, auf mein ganz persönliches Leben wie auf mein Leben innerhalb der Bewegung, deren Richtung ich zwar durch Ramus vorgezeichnet fand, aber deren konkrete Gestaltung erst im Kampf mit den jeweiligen Problemen erfolgte. Ferdinand Gross wurde nun zum Genossen Ferdinand, von vielen liebevoll "Ferdl" genannt. Er schloß sich dem "Bund herrschaftsloser Sozialisten" (BH) an, eine von Pierre Ramus nach dem Ersten Weltkrieg gegründete "föderative Vereinigung örtlicher Gruppierungen, die in freier Autonomie miteinander verbündet sind," wie es in den 1922 beschlossenen Leitsätzen hieß. Die Grazer Gruppe des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" organisierte sich in dem 1893 von Anarchisten gegründeten "Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein", der durch die Anhänger Pierre Ramus' nach dem Ersten Weltkrieg wiederbelebt wurde und - im Verhältnis zur Einwohnerzahl - die größte Ortsgruppe des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" bildete. Um eine Vorstellung von der Größenordnung zu geben, seien hier "offizielle" Zahlen bemüht: 1912 beobachtete die Polizei in der ganzen Steiermark nur etwas mehr als 50 Personen als Anarchisten, 1924 bereits allein in Graz etwa 200 und 1929 in Graz zwischen 400 und 500. Für die Versammlungen des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" in Graz zählte die Polizei zwischen 1920 und 1929 durchschnittlich etwa 375 Sympathisanten und schätzte den harten Kern der Anarchisten auf etwa 50 Personen. Ferdinand war nun in mehreren Grazer Teilorganisationen dieses "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" aktiv. Im Mittelpunkt stand für ihn die 1924 gegründete "Sängerrunde "Freiheit"", die bei allen Großveranstaltungen wie den Reden Pierre Ramus' oder diversen Gedenktagen an Märtyrer des Anarchismus oder Ereignisse der Bewegung, aber auch bei Begräbnissen von Genossinnen und Genossen auftrat. Er war häufiger Gast der damals über 500 Titel umfassenden Bibliothek des "Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungsvereins", welche in dem 1927 eröffneten Vereinsheim "Neue Heimat" in der Idlhofgasse 36a untergebracht war. Er war auch Mitglied der anarchistischen "Konsumgenossenschaft "Neue Heimat"", die gängige Waren zum Großhandelspreis einkaufte und günstig an ihre Mitglieder weitergab. Und er machte bei der Theatergruppe mit, die unter anderem Stücke ihres Genossen, des vor allem als Operettenlibrettisten bekannten Dichters Robert Bodanzky aufführte. Ob Ferdinand dabei auch als Schauspieler auftrat, konnte ich leider nie erfahren. Er erzählte lieber von den Badeveranstaltungen in den Murauen oder den sonntäglichen Ausflügen der Anarchistinnen und Anarchisten in die Umgebung von Graz, vor allem auf die Platte, einem bei Graz gelegenen Berg, wo schon einmal fünfzig Leute oder mehr zusammenkamen, sangen und diskutierten und Mitgebrachtes gemeinsam verzehrten - einfach ein großes Fest außerhalb der Stadtgrenzen, wo man sich der Beobachtung der Polizei entzog. Hier traf er übrigens auch seine Frau Rosa Uttler, mit der ihn eine über sechs Jahrzehnte währende Lebens- und Kampfgemeinschaft verband.
Verfolgung durch den Austrofaschismus
Ein Liebkind Ferdinands war schon damals die Vasektomie (= Sterilisation des Mannes, Anm.), die von Anhängern Ramus' propagiert wurde; auch Ferdinand unterzog sich diesem Eingriff. Die Vasektomie-Frage war es schließlich, die das Ende des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten" einläutete. In Graz gab es mehrere Möglichkeiten, sich einer Vasektomie, etwa durch die Ärzte Johann und Clemens Bartošek, beide überzeugte Anarchisten, zu unterziehen. 1932 flog das unter dem Decknamen "Schachklub Graz" laufende Unternehmen auf, die Polizei verhaftete führende Mitglieder des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten", und im Juni 1933 endete der "Sterilisations-Prozeß", wie er auf den Titelseiten mehrerer österreichischer Tageszeitungen bezeichnet wurde, mit dem Freispruch der 21 Angeklagten.
Dann aber kam es zum politischen Umsturz in Österreich. Der mit der sogenannten "Selbstauflösung des Parlaments" begonnene Staatsstreich der Christlich-sozialen um Engelbert Dollfuß führte rasch zur Errichtung eines klerikal-faschistischen Regimes. Beim Revisionsprozeß im Mai 1934 wurde Ramus zu 14 Monaten schweren Kerkers, verschärft durch je einen Fasttag und ein hartes Lager pro Monat, verurteilt, die übrigen Angeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zwei und zehn Monaten (zusammen acht Jahre und drei Monate). Der blutig niedergeschlagene Aufstand von Sozialdemokraten im Februar 1934, an dem in Eggenberg (heute zu Graz gehörig) auch Anarchisten teilnahmen, bedeutete das öffentliche Ende der linken Arbeiterbewegung in Österreich. Auch der "Arbeiter-Bildungs- und Unterstützungs-Verein" wurde im Mai 1934 aufgelöst, die anarchistische Bewegung in den Untergrund gedrängt. Ferdinand hatte also nur zwei Jahre lang erlebt, wie die anarchistische Bewegung in der relativen Freiheit der parlamentarischen Demokratie agieren konnte. Sein anarchistisches Erwachsenwerden, wie er es scherzhaft zu nennen pflegte, fand zum überwiegenden Teil unter den Bedingungen des Faschismus statt.
Zu Beginn des Austrofaschismus, während Pierre Ramus seine Strafe in der Grazer Haftanstalt Karlau absaß, führte eine kleine Gruppe des ehemaligen "Bundes herrschaftsloser Sozialisten", an deren Rand sich auch Ferdinand bewegte, die Vasektomierungen weiter, doch flog das Unternehmen bald auf, und im Oktober 1935 wurden alle fünf angeklagten Anarchisten zu höheren Gefängnisstrafen verurteilt.
Im selben Jahr erhielt die Grazer Anarchistenszene jedoch wichtigen Zuwachs: Es trafen vor der Diktatur König Boris' III. geflohene bulgarische Anarchisten ein, unter denen in Graz die Studenten Dimitri Keremidtschieff und Haralampi Dimitroff-Haralampieff, vorübergehend auch der Techniker Panajot Tschiwikoff, eine wichtige Rolle spielten. Mit deren guten Beziehungen zum "Internationalen Anarchistischen Sekretariat" in Paris konnten die Grazer Anarchistinnen und Anarchisten nun Kontakte zum Ausland knüpfen.
Einen weiteren und für die Reorganisation wohl entscheidenden Impuls erhielt die anarchistische Bewegung in Graz durch den Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Juli 1936. Anfang 1937 bildeten sich schließlich zwei anarchistische Gruppen in Graz heraus. Die eine Gruppe scharte sich um den damals dreißigjährigen Malergehilfen Josef Stefflitsch; zu ihr gehörten unter anderem dessen Lebensgefährtin Josefine Capelari (Köchin, 29 Jahre), Anna Schwab (später verheiratete Knödl, Bedienerin, 39 Jahre) und deren Sohn Franz Schwab (Installationslehrling, 17 Jahre) sowie die beiden schon erwähnten bulgarischen Studenten Dimitri Keremidtschieff (Medizinstudent, 25 Jahre) und Haralampi Dimitroff-Haralampieff (Technikstudent, 22 Jahre). Die zweite Gruppe bildete sich um die Schwestern Leeb, nämlich um Ottilie "Otti", verheiratete Binder, und Maria "Mitzi', verheiratete Rader (Hilfsarbeiterin, 27 Jahre). Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Josef "Sepp" Teichmeister (Schlossergehilfe, 35 Jahre), Maximilian "Maxl" Koller (Bäckergehilfe, 19 Jahre), Alois Rader (Schlosser und Chauffeur, 40 Jahre) und Maria Zahrastnik (Hausbesitzerin, 38 Jahre), die gemeinsam mit ihrem Mann Alois in den ersten Wochen nach der Okkupation Österreichs durch die Nationalsozialisten im März 1938 Pierre Ramus bei sich beziehungsweise Genossinnen und Genossen versteckte. Beide Gruppen waren in ein größeres Sympathisantenfeld eingebettet, fast ausschließlich ehemalige Mitglieder des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten", darunter wieder Ferdinand.
Zunächst wurde eine Sammelaktion für die notleidenden Kinder der kämpfenden Genossen in Spanien gestartet. Dann machte man sich an die Herstellung von eigenen Flugschriften, wobei die Bedingungen der Diktatur die Erfahrungen aus der 1926 gegründeten "Kürpresse" (Grazer Verlag des "Bundes herrschaftsloser Sozialisten") wertlos machten. Papier, Druckerschwärze und Matrizen wurden verhältnismäßig einfach durch eine Genossin besorgt, doch die Beschaffung einer Schreibmaschine wurde zu einem großen Problem. Im eingeweihten Freundeskreis gab es keine, und eine Miete hätte eine lichtbildliche Ausweisung erfordert. Franz Schwab konnte zwar eine kaputte Schreibmaschine auftreiben, doch konnte man sie nicht selbst reparieren, und eine professionelle Instandsetzung wäre ein zu großes Risiko gewesen.
Schließlich ergriff Anna Schwab (Knödl) die Initiative und schrieb die Artikel heimlich im Büro ihres Arbeitgebers, des Grazer Stadtarztes Dr. Siegfried Pfanner. Das erste auf diese Weise hergestellte Flugblatt "Stellung der F[ederación] A[narquista] I[bérica]" konnte in der Nacht auf den 14. März 1937 in Graz verteilt werden. Das zweite Flugblatt "Im Jahre 1886-87 wurde in Chicago zum erstenmal der 1. Mai als internationaler Kampfstreittag versucht!" wurde in der Nacht auf den 1. Mai 1937 in Briefkästen gesteckt und vor Fabriken verstreut. Ein drittes Flugblatt "Arbeiter und Intellektuelle!!" wurde in der Nacht auf den 30. Juni, ein viertes und letztes "Der 19. Juli im Zeichen des revolutionären Freiheitskampfes des spanischen Proletariats!!!" in der Nacht auf den 28. Juli 1937 verteilt.
Im Laufe der Zeit hatte man die Hektographietechnik so zu beherrschen gelernt, daß man die Auflage von zunächst 100 auf zuletzt 400 Stück steigern konnte. Im August 1937 erschien schließlich die erste Nummer (gezeichnet "Juli") der Zeitschrift "Mitteilungen der anarcho-kommunistischen Vereinigung Oesterreichs F[öderation der] A[narchisten] Oe[sterreichs] [Graz]" (5 S.; Auflage: 100), im September 1937 die zweite Nummer unter dem neuen Titel "Brot und Freiheit. Organ der anarchistischen Föderation Deutscher Sprachkreis [Graz]" (6 S.; Auflage: 150) und unter dem gleichen Titel die letzte, als "Nummer 3" ausgewiesene Ausgabe im Oktober 1937 (8 S.; Auflage: 150). Zur selben Zeit tauchte noch eine, auf einer anderen Schreibmaschine getippte Zeitschrift auf, welche von der Gruppe um die Schwestern Leeb hergestellt wurde: "Licht. Unser Kampf gegen jede Unterdrückung u[nd] Ausbeutung". Die erste Nummer erschien im September (Untertitel Moderne Sklaverei [Graz], 8 S.; Auflage: 150) und die zweite im Oktober 1937 (Untertitel Revolution oder Krieg [Graz], 8 S.; Auflage: 100).
Doch dann schlugen die Behörden des christlich-sozialen Ständestaates zu: Am 22. November 1937 wurde Josef Stefflitsch verhaftet, unmittelbar danach weitere fünfzehn Personen. Hausdurchsuchungen und Einvernahmen führten im Dezember 1937 zu neuen Verhaftungen. Dennoch blieben wichtige Mitglieder wie Ottilie Binder unentdeckt, andere, wie Maria Rader und Josef Teichmeister, mußten wieder freigelassen werden.
Im Jänner 1938 wurden in einem beschleunigten Verfahren sieben Anarchistinnen und Anarchisten nach §58b und c des Strafgesetzes (sie hätten zu Handlungen "zur gewaltsamen Veränderung der Regierungsform und Herbeiführung einer Empörung und eines Bürgerkrieges im Innern aufgefordert, angeeifert und zu verleiten gesucht") angeklagt und verurteilt: Josef Stefflitsch (drei Jahre schwerer Kerker mit einem harten Lager vierteljährlich), Josefine Capelari (zwei Jahre schwerer Kerker und als jugoslawische Staatsbürgerin Ausweisung), Maximilian Koller, der Bäckergehilfe Augustin Dobay (52 Jahre alt) und der Hilfsarbeiter Peter Fabian (33 Jahre alt; je ein Jahr schwerer Kerker); Dimitri Keremidtschieff und Haralampi Dimitroff-Haralampieff wurden freigesprochen. Gerade diese Jahre empfand Ferdinand als für mich äußerst wichtig und prägend. Er erklärte damit nicht nur sein Bestreben, eine anarchistische Zeitung in Österreich zu begründen, sondern auch und vor allem seine Überzeugung, daß Untergrundarbeit wenig lohnend ist, weshalb er für ein offenes Bekenntnis zum Anarchismus eintrat. Daß er dies nicht nur propagiert, sondern auch gelebt hat, bewies er wenige Monate nach diesen Ereignissen.
Nazis, Krieg und Konzentrationslager
Nach dem "Anschluß" Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 spitzte sich die Lage der Anarchistinnen und Anarchisten in Graz zu. Fast alle überlebten den Nationalsozialismus durch Still- und Ruhighalten. Nur Ferdinand setzte seine Agitation zunächst durch Verteilen alter Nummern von Ramus' Zeitschrift "Erkenntnis und Befreiung" in den Puch-Werken fort; er hinterlegte die Zeitschriften einfach in den Gemeinschafts- und Umkleideräumen. Noch ehe man ihn als Urheber dieser Aktion ausforschen konnte, wurde er aus anderen Gründen verfolgt.
Am 1. März 1939 wurde er von der Gestapo festgenommen und verhört. Dabei bekannte er sich - und wer Ferdinand kannte, weiß, mit welcher Inbrunst er dies vorgebracht haben wird - offen als herrschaftsloser Sozialist, Anarchist und Kriegsgegner. Mit der Drohung, daß er bei der kleinsten Auffälligkeit "nach Dachau" kommen werde, wurde er entlassen. Doch er sollte sich seiner Freiheit nur kurz freuen. Beim Abschluß einer von Nationalsozialisten in den Puch-Werken veranstalteten Feier anläßlich der Okkupation der Tschechoslowakei im März 1939 verweigerte er den obligaten Deutschen Gruß. Deswegen denunziert, wurde er "wegen politischer Unzuverlässigkeit" entlassen. Kurz danach erhielt er eine Vorladung der Gestapo.
Nichtsahnend und offensichtlich voller Zuversicht fuhr er mit dem Fahrrad zur Grazer Polizeidirektion, wo er sofort inhaftiert wurde. Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurde er als "Schutzhäftling" "auf unbestimmte Zeit" nach Dachau transportiert: Zunächst kam er in die sogenannte "Liesl", ein Sammelgefängnis in Wien, dann in einem der berüchtigten Bahntransporte nach Dachau. Kahlgeschoren, im "Zebra", der bekannten Häftlingskleidung, und mit aufgenähtem roten Winkel, der ihn als politischen Häftling auswies, bezog er im Konzentrationslager Dachau den Block 1. Aber schon Anfang Herbst 1939 wurde er ins Konzentrationslager Flossenbürg (Bayern) verlegt, wo er im berüchtigten Steinbruch geschunden wurde. Im Frühjahr 1940 wurde er wieder ins Konzentrationslager Dachau rückverlegt, wo er Stubenältester bei inhaftierten polnischen Geistlichen wurde und später bei russischen Kriegsgefangenen tätig war. Im Sommer 1944 wurde er zum Straftransport abkommandiert, was einem Todesurteil gleichkam. Im Viehwaggon wurde er ins "Arbeitslager" Neckarelz bei Mosbach (Baden-Württemberg) gebracht, wo er in einem aufgelassenen Gipswerk für die Fortführung der Rüstungsindustrie arbeiten mußte. Zunächst wieder Stubenältester, meldete er sich dann zum Arbeiten und war zunächst für die Wartung des Werkzeugs zuständig, dann als Kantineur tätig. Nach der Bombardierung des nahegelegen Dorfes wurde er zum Rücktransport nach Dachau abkommandiert.
Auf dem Weg zum Bahnhof gelang ihm gemeinsam mit einem Freund, einem Kommunisten und Spanien-Kämpfer, im März 1945 die Flucht. Beide fanden in einem nahegelegenen Ort bei einer Bahnwärterin Zuflucht, und als sie am 1. April 1945, es war der Ostersonntag, aus dem Radio hörten, daß sie sich in der amerikanischen Zone befänden, wußte Ferdinand, daß er endlich frei war, auch wenn an eine Rückkehr in die Heimat zu diesem Zeitpunkt wegen der dort währenden Kämpfe noch nicht zu denken war. Doch so seltsam das auch klingen mag, nach all dem, was man mir daheim angetan hatte, ich wollte weg aus Deutschland, möglichst schnell zurück nach Graz, wo ja meine liebe Frau war. Ferdinand erzählte oft die Geschichte, wie er und sein Lagergenosse erstmals seit vielen Jahren anständige und ausreichend Nahrung erhielten, vor allem aber, wie ihnen mitleidsvolle Menschen Bekleidung schenkten, darunter ein Sakko, in dem 100 US-Dollar eingenäht waren. Mit dem Geld konnten sie ein Auto kaufen und - versehen mit einem amerikanischen Passierschein - im Mai 1945 endlich Richtung Österreich aufbrechen. Die Strecke von Salzburg nach dem in der sowjetischen Zone liegenden Graz mußte er allein und als Anhalter zurücklegen, wobei ihm schon mulmig zumute war, denn er wußte, was mit Anarchisten in der Sowjetunion passierte.
Rückkehr nach Österreich
Mit einem kleinen Packen, der vor allem Decken enthielt, kehrte er nach Graz zurück, wo er seine Frau und deren Sohn, der später in noch jungen Mannesjahren bei einem Flugzeugunglück starb, wohlbehalten in ihrem Heim in der sogenannten Klusemannsiedlung in Graz-Neuhart, Heimweg 35, vorfand. Getroffen hatte ihn aber, daß die anarchistischen Propagandaschriften, die er vor seiner Verhaftung in einer Aschengrube vergrabenen hatte, darunter die von ihm so geschätzten Bücher und Broschüren Pierre Ramus', nur noch verschimmelt vorfand.
Dann begann die Arbeitsuche: 1946 konnte er wieder als Dreher, später als Lehrlingsausbildner, in den Puch-Werken Arbeit finden. Auch konnte er bald die Zimmer-Küche-Wohnung in der fabrikseigenen Werksiedlung in der Bozenerstraße 6 beziehen. Auch politisch besserte sich die Situation. Am 24. Juli 1945 kam gemäß dem Zonenvertrag die gesamte Steiermark unter britische Kontrolle. Ferdinand suchte nun wieder den Kontakt zu den anarchistischen Genossinnen und Genossen in Graz und überhaupt in der Steiermark. Es entstand tatsächlich eine kleine Gruppe, die sich "Bund Herrschaftsloser Sozialisten Österreichs (Anarcho-Syndikalisten) - Gruppe Graz" nannte und die nach einer Konferenz mit Genossinen und Genossen aus Wien im August 1947 seit September 1947 eine eigene Zeitschrift herausgab: "Die Freie Generation".
Bald gab es zwischen den Anarchisten in Graz und Wien, wo sich die "Gruppe Krapotkin" und die "Gruppe Tolstoi" konstituiert hatten, heftige Reibereien. Aus der zeitlichen Distanz zeigen sich die behaupteten inhaltlichen Differenzen (Verhältnis zu den Pfadfindern) eher als eine Sache von Sympathie und Antipathie der Beteiligten. Ferdinand blieb jedenfalls am Rande dieser Gruppe, unterhielt aber durchaus freundschaftliche Beziehungen, so auch zu den treibenden Kräften Maria Rader und Josef Teichmeister. Der Hauptgrund, warum sich Ferdinand dieser Gruppe nicht voll anschloß, bestand im Konflikt Antimilitarismus - Pazifismus. Während Vertreter des neuen "Bundes Herrschaftsloser Sozialisten Österreichs (Anarcho-Syndikalisten) - Gruppe Graz" zwar einen konsequenten Antimilitarismus verfochten, den bewaffneten Widerstand gegen den Faschismus aber guthießen, stand Ferdinand auf dem Standpunkt eines bedingungslosen Gewaltverzichts und lehnte auch das Recht auf Notwehr ab.
Doch diese Differenzen hatten kaum Einfluß auf die anarchistische Bewegung in Österreich, welche nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst einmal nicht fußfassen konnte. Ihre drei bedeutendsten Proponenten waren tot: Pierre Ramus war 1942 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten während der Überfahrt nach Mexiko am Schiff verstorben, Max Nettlau 1944 in seinem niederländischen Exil mehr oder minder verhungert und Herbert Müller-Guttenbrunn durch eine tragische Verwechslung 1945 von sowjetischen Soldaten erschossen worden.
Weitestgehend vergeblich mühten sich in Wien vor allem Adolf Pranz, Leopold Spitzegger und Johann "Ossi" Lahner um eine Reorganisation der anarchistischen Bewegung, während der Wiener Schriftsteller Israel L. Utas mit seiner Mischung aus Individualanarchismus und Zionismus eigene Wege ging. In Graz war die Bewegung Anfang der 1950er Jahre soweit zerfallen, daß man sich publizistisch einfach der Gruppe um die Zeitschrift "Die freie Gesellschaft. Monatsschrift für Gesellschaftskritik und freiheitlichen Sozialismus" (Darmstadt/Land) anschloß.
Kennzeichnend für den Stand der anarchistischen Bewegung in Österreich Anfang der 1950er Jahre war die Tatsache, daß die Österreicher auf dem internationalen Kongreß der "Internationalen Arbeiter-Association" 1951 in Toulouse nur indirekt vertreten waren, indem sie Genossen anderer Länder ihre Stimme übertrugen. Auf der "Conférence Européenne Anarchiste" 1948 in Paris waren immerhin die "Fédération socialiste antiautoritaire autrichienne (Groupe Pierre Kropotkine de Vienne)", also der "Bund Herrschaftsloser Sozialisten (Anarcho-Syndikalisten) Österreichs - Gruppe Krapotkin, Wien", und der "Bund Herrschaftsloser Sozialisten Österreichs (Anarcho-Syndikalisten) - Gruppe Graz", mit eigenen Delegierten vertreten gewesen.
Anarchistische Neuorganisation
Erst Mitte der 1950er Jahre fand Ferdinand eine Gruppierung, in der er sich voll engagieren konnte. Es waren die radikalen Pazifistinnen und Pazifisten um die Publizistin Luise Eisenmenger-Micko (geborene Aloisia Micko) und deren Zeitschrift "Der Antimilitarist". Die Zeitschrift war das Organ der am 4. September 1954 konstituierten "Pazifistischen Union"; in ihren Statuten bestimmte sie sich "als Dachorganisation für Gesellschaften, die für absolute Gewaltlosigkeit (non-violence) und Kriegsdienstverweigerung bei jeder Art von Krieg eintreten". Bald danach ging die "Pazifistische Union" in der 1952 gegründeten "Sektion Österreich der Internationale der Kriegsdienstgegner" auf, deren Präsidentin 1952 bis 1963 Luise Eisenmenger-Micko war.
Diesen beiden Gruppierungen kam 1955 eine besondere Bedeutung zu, weil 1955 nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch den Staatsvertrag die Wiederaufrüstung Österreichs durch die Schaffung eines Heeres diskutiert wurde. Zwar konnte dies nicht verhindert werden, aber es entstand ein eindeutig antimilitaristisches und pazifistisches Lager in Österreich. Ferdinand wurde übrigens erst 1956 Mitglied der "Sektion Österreich der Internationale der Kriegsdienstgegner"; dies ging auf sein Mißtrauen gegen Vereine zurück. Tatsächlich gehörte er sonst nur noch dem "KZ-Verband" als Mitglied und der "Pierre Ramus-Gesellschaft" als Ehrenmitglied an.
Ferdinand baute damals einen Vertrieb des "Antimilitaristen" (100 Exemplare pro Nummer) und pazifistischer Literatur in Graz auf, wobei er die - meist verschenkten - Druckwerke mit dem roten Stempelaufdruck "Militarismus ist der Weg des Todes! Daher bejahen Sie den Frieden, nur er ist das Leben. Schriftliche Bestellungen für Graz und Umgebung bei Ferdinand Gross, Graz, Bozenerstraße 6/1." versah. Die Anarchistinnen und Anarchisten bildeten innerhalb der Gruppe um den "Antimilitaristen" eine beachtliche Fraktion. So setzten sie durch, daß in der Zeitschrift auch Auszüge aus der zuerst 1892 erschienenen Schrift "La Conquête du pain" von Petr Alekseevic Kropotkin veröffentlicht wurden. Diese Auswahl war übrigens von der in Klagenfurt aktiven "Gruppe Kropotkin" um Alexander Baier, Josef Krainer - er publizierte auch unter dem Kürzel "J. Kr." in der "befreiung" - und Genossen Kulle - er trat unter dem Decknamen Alois Rabitsch auf - herausgegeben worden. Zu dieser Gruppe unterhielt Ferdinand enge Verbindungen. Ein anderer Mitarbeiter des "Antimilitaristen" war der bekannte Anarchist Willy Huppertz aus Mülheim an der Ruhr, mit dem Ferdinand seit etwa 1962 eine enge Freundschaft verband. Eine weitere Mitarbeiterin der Zeitschrift war die schon während des Austrofaschismus aktive Grazer Anarchistin Anna Knödl, aus deren Werken Ferdinand posthum einige Arbeiten in seiner eigenen Zeitschrift veröffentlichte. Auch er selbst trat - nunmehr in der vertrauten Schreibweise Ferdinand Groß - erstmals mit Artikeln an die Öffentlichkeit, zunächst mit Leserbriefen, dann aber auch mit einem längeren Beitrag zum "Antimilitaristen".
Weißt Du, erzählte er mir im Juni 1989, das Schreiben war damals so eine Sache. Ich hatte meine Gedanken im Kopf schon geordnet, aber wenn ich sie dann niederschreiben wollte, sah alles ganz anders aus. Ich mußte Schreiben eigentlich erst lernen, und dazu noch das Niederschreiben von Ideen. Ich hatte Ramus als Vorbild, und was immer ich niederschrieb, es mußte verblassen vor den Schriften meines Vorbilds. Erst als ich mich von der Vorstellung, so wie Ramus schreiben zu müssen, löste, ging mir das Schreiben mehr und mehr, besser und besser von der Hand. Bald darauf lieferte Ferdinand auch zur Zeitschrift "befreiung" seines Freundes und Genossen Willy Huppertz den einen oder anderen Beitrag.
Gründung einer eigenen anarchistischen Zeitschrift
Ferdinands wichtigstes Anliegen wurde es aber in den 1960er Jahren, in Österreich eine eigene anarchistische Zeitschrift zu gründen, in der er den Anarchismus ganz im Sinne Pierre Ramus' propagieren konnte. Gewaltfreiheit und Anarchismus sind austauschbare, völlig identische Begriffe, pflegte er stets zu sagen, und er überlegte, diese Vorstellung auch zum Titel oder wenigstens zum Motto für die zu schaffende Zeitschrift zu machen. Da das Wort "anarchistisch" längst in Mißkredit geraten und in der Alltagssprache zum Synonym für "gewalttätig" und "chaotisch" geworden war, beschloß er, an die Tradition Pierre Ramus' anzuschließen und vom "herrschaftslosen Sozialismus" zu sprechen. Wenig bekannt, weil auf Österreich und teilweise überhaupt nur auf Graz beschränkt, blieb sein erstes Flugschriftenunternehmen: "Informationen der unabhängigen, parteilosen Antimilitaristen und Pazifisten". Zwischen 1959 und 1962 erschienen vier Publikationen als Hektographie mit aufgestempeltem Reihentitel, zunächst Texte von Luise Eisenmenger-Micko, bald auch eigene Texte. Themen waren Marxismuskritik, Abrüstung und Wahlboykott. Da er mit seiner Schriftenreihe jenseits des parteiorientierten Antimilitarismus von Luise Eisenmenger-Micko stand, erregte er bald deren Mißfallen und mußte auf den Druckvermerk "Nachdruck aus der Zeitung Antimilitarist" verzichten. Das nahm Ferdinand zum Anlaß, der Flugschriftenreihe einen neuen Titel zu geben, der nun die beiden Grundbegriffe seiner Weltanschauung enthielt: "Informationen der herrschaftslosen Sozialisten und Antimilitaristen". Zwischen 1964 und 1968 erschienen sieben Publikationen, wieder als Hektographie mit aufgestempeltem Reihentitel. Die Texte stammten wieder von Luise Eisenmenger-Micko und Ferdinand, ergänzt durch solche von Pierre Ramus. Ferdinand verteilte seine Flugschriften vor allem in Graz, besonders aber in den Puch-Werken - nunmehr Steyr-Daimler-Puch AG -, wo er sich seit 1959 offen im Sinne des Anarchismus betätigte und mit seiner Kritik an den sozialdemokratischen Betriebsräten auch bald einige Anhänger gewinnen konnte. Ferdinand setzte sich vor allem für die Verbesserung der Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter ein: Erwähnt seien hier nur sein Kampf gegen die sogenannte Einarbeitung und seit 1960 für eine Arbeitszeitverkürzung, nämlich für die 40-Stunden-Woche, die erst 1968 vom "Österreichischen Gewerkschaftsbund" ins Kampfprogramm genommen und 1975 schließlich Gesetz wurde. Daß diese Propagandaarbeit von den Vertretern des Staates nicht tatenlos hingenommen wurde, mußte Ferdinand auch erfahren: Im April 1970 wurde er wegen unerlaubten Verteilens von Druckwerken nach §15 Presse-Gesetz zu einer Geldstrafe von öS 200,- und den Verfahrenskosten von öS 300,- verurteilt. Doch dies ist ein zeitlicher Vorgriff.
Dann kam das Jahr 1968: Für Ferdinand war es in zweifacher Hinsicht ein einschneidendes Datum. Zum einen ging er in diesem Jahr in Rente, zum anderen wurde er erstmals unmittelbar mit Anarchos konfrontiert. Oft erzählte er, welch ein Schock es für ihn war, als er vom 30. August bis 4. September als einer von drei österreichischen Beobachtern (die Grazer Ferdinand Groß und Petko Petroff sowie der Wiener Johann Lahner) am legendär gewordenen Anarchisten-Kongreß in Carrara erstmals persönlich die neue Anarchistengeneration kennenlernte. Auftreten und Inhalte der Jungen waren ihm fremd, und doch begeisterte ihn der Aktivismus, der von ihnen ausging. Diese Bewunderung war es auch, die ihn veranlaßte, auch für die Übernahme marxistischer Ideen durch die Anarchos Verständnis zu finden, wenngleich er solches für sich selbst zutiefst ablehnte. Für einen eingefleischten Anti-Marxisten und alten Kämpfer des Anarchismus, dem die Opfer vom im Namen des Marxismus verfolgten, gequälten und zum Teil auch ermordeten Genossinnen und Genossen bekannt waren, bedeutete dies einen wichtigen Schritt, dessen Radikalität vielen von uns Jungen damals wohl nicht bewußt war. Und noch was habe ich damals gelernt, erzählte er mir 1986. Carrara hat mir gezeigt, daß wir Alten unsere Streitereien begraben müssen und daß wir junge Menschen für die Idee gewinnen müssen, die dem Anarchismus neues Leben geben können. Solche jungen Menschen lernte Ferdinand 1970 kennen, als er sich als rühriger Propagandist für das - nicht zustandegekommene - Volksbegehren gegen das Bundesheer einsetzte, welches der damalige Sozialdemokrat (heute Grüne) und Präsident der Österreichischen Journalistengewerkschaft Günther Nenning (Nenning ist heute Schreiberling der "Kronen Zeitung", Anm.) und seine Zeitschrift "Neues Forum" initiiert hatten. Der nunmehr 62jährige Ferdinand ging auf die Straße und erlebte das beglückende Gefühl, mit so vielen Gleichgesinnten für den Frieden zu demonstrieren, erzählte er mir über seine Teilnahme an der Großdemonstration anläßlich des Internationalen Vietnam-Tages am 15. April 1970 in Wien. Das war etwas ganz anderes als damals beim Ostermarsch, meinte Ferdinand 1986, und er bezog sich dabei auf seine Teilnahme am ersten Ostermarsch in Österreich am 21. April 1963. Bald fand Ferdinand in Reinhard Umek einen jungen Kampfgefährten, mit dem er wieder Flugschriften herstellen konnte. Zwischen 1972 und 1973 legten sie den von ihnen in Österreich vertriebenen Exemplaren der "befreiung" (Köln) insgesamt fünf verschiedene Publikationen bei, und 1973 erschien die einzige Nummer der Flugschriftenreihe "Information der herrschaftslosen Sozialisten - Anarchisten". Diese Flugschriften wurden als Übungsfeld genutzt, inhaltlich wie - und auch dies wird heute in seiner damaligen Bedeutung oft wenig erkannt - drucktechnisch. Umek, ein angelernter Drucker, führte die Umstellung des Druckverfahrens von der Hektographie auf Offset durch. Eine neue Druckmaschine wurde angeschafft, und 1974 erschienen zwei Nummern der Flugschriftenreihe "Informationen der herrschaftslosen Sozialisten - Anarchisten" im Offsetdruck zum Ersten Mai und gegen den Papst beziehungsweise für den Kirchenaustritt. Man plante sogar einen eigenen Verlag für "kritische Literatur": "Umek-Verlag". Ziel aber blieb die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, in der Reinhard Umek die neue Generation, wie sie Ferdinand nannte, er selbst die alten Traditionen des Anarchismus vor allem im Sinne Pierre Ramus' einbringen sollte. Tatsächlich erschien 1975 eine als "Sonder-Ausgabe" bezeichnete Vorauspublikation der geplanten Zeitschrift "befreiung", noch mit dem Titelkopf der "befreiung" (Köln) und deren Jahrgangszählung, aber bereits im Kleinformat und fast nur mit Beiträgen österreichischer Anarchistinnen und Anarchisten sowie Antimilitaristinnen und Antimilitaristen.
Die erste "Befreiung"
Im Februar 1976 war es soweit: Die erste Nummer der Grazer "Befreiung" erschien. Der Titel sollte die Tradition kennzeichnen, in der das Organ gesehen wurde. Es sollte an Ramus' Zeitschrift "Erkenntnis und Befreiung" (1918-1933) ebenso erinnern wie an die "befreiung" (1948-1970) von Willy Huppertz. Die Übernahme der "befreiung" durch Anarchos im Oktober 1970 hatte für Ferdinand das eigentliche Ende dieser Zeitschrift bedeutet, auch wenn er die neue "befreiung" noch bis 1973 eifrig in Österreich vertrieb. Als er dann 1976 seine eigene "Befreiung" begründete, sah Ferdinand darin den berechtigten Nachfolger der gleichnamigen Zeitung seines Genossen und Freundes Willy Huppertz, dessen Tod am 12. März 1978 ihn tief traf. Überhaupt waren die letzten Jahre durch den Tod alter Kampfgefährtinnen und -gefährten geprägt, wobei ihm der Tod von Willi Goedecke am 16. September 1980, von Augustin Souchy am 1. Jänner 1984 und von Jean Barrué am 26. August 1989 besonders nahe gingen.
Bis zur Nummer 23 vom September 1981 gab Ferdinand die Zeitschrift gemeinsam mit Reinhard Umek heraus. Doch zunehmende weltanschauliche Differenzen führten dazu, daß Umek ausschied und Ferdinand beschloß, die Zeitung alleine weiterzuführen. Mit der Nummer 36 vom Dezember 1984 gab er ihr auch jenen Untertitel, der gleichsam die Essenz des Programms dieser Zeitschrift ausdrücken sollte: "Organ des herrschaftslosen Sozialismus für soziale und geistige Neukultur im Sinne des Friedens, der Gewaltlosigkeit und individuellen Selbstbestimmung; für freie Menschen und solche, die es werden wollen".
Vielleicht sollte man hier festhalten, daß das Zeitschriftenunternehmen gleich mit einer bösen Überraschung begann. Die erste Nummer bestand im wesentlichen im Wiederabdruck des Klassikers "Die Gottespest und die Religionsseuche" von Johann Most aus dem Jahr 1883, eine der wohl meistgedruckten Schriften des Anarchismus. Wegen dieser Veröffentlichung wurde Ferdinand angezeigt; in der Strafverfügung vom 14. April 1976 heißt es, er habe "als verantwortlicher Redakteur eine bestehende Religionsgemeinschaft, nämlich die römisch-katholische Kirche, deren Glaubenslehre und deren gesetzlich zulässige Einrichtungen unter Umständen herabgewürdigt und verspottet, unter denen sein Verhalten geeignet war, berechtigtes Ergernis [sic!] zu erregen, und hiedurch das Vergehen der Herabwürdigung religiöser Lehren nach §188 des StGB begangen", und es wurde "hiefür eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 50.- S., somit insgesamt 3.000 S. verhängt"; außerdem mußte er die öS 200,- Verfahrenskosten bezahlen. Für das Einkommen eines Rentners war dies zwar eine empfindliche Strafe, doch für einen Genossen, der viele Jahre Konzentrationslager überstanden hatte, nur ein Dorn im Fleisch, wie Ferdinand sagte, um ihn zur Fortsetzung der Zeitschrift aufzustacheln. Nur einmal noch geriet er in die Mühlen der Justiz: Ein Universitätsassistent fühlte sich wegen eines Artikels in der Nummer 24 / 1981 auf die Zehen getreten, und Ferdinand mußte im Wege eines gerichtlichen Vergleichs eine Strafe in der Höhe von jeweils öS 5.000,- an den Kläger und an dessen Rechtsanwalt zahlen sowie eine Gegenerklärung veröffentlichen. Ich weiß, daß vielen und gerade jüngeren Genossinnen und Genossen die Zeitschrift "antiquiert" erschien, enthielt sie doch vornehmlich Wiederabdrucke von Arbeiten Ramus' aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus. Darüber haben wohl manche übersehen, daß Ferdinand über die Propagierung des Anarchismus nach Ramus hinaus stets aktuelle Themen aufgriff.
Unermüdlich engagiert
Es waren unzählige Aktionen, an denen er mitwirkte, weshalb nur zentrale herausgegriffen seien. Seit Mitte der 1970er Jahre engagierte er sich gegen die sogenannte "friedliche" Nutzung der Atomenergie, gipfelnd in der erfolgreichen Volksabstimmung vom November 1978 gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf. 1981 war er für die "Initiative zur Abschaffung des Bundesheeres" tätig, für die er auch eigene Flugblätter druckte und Unterschriften sammelte. In den Jahren 1984 und 1985 kämpfte er gegen den Ankauf von Abfangjägern vom Typ Draken für das österreichische Bundesheer, was im Dezember 1985 im gesamtösterreichischen "Anti-Draken-Volksbegehren" und im März 1986 im steirischen "Anti-Draken-Volksbegehren" kulminierte. Natürlich fehlte Ferdinand auch nicht bei den großen Demonstrationen gegen die Stationierung der dann doch angekauften Abfangjäger in Graz-Thalerhof und im obersteirischen Zeltweg 1987. Besonders hervorgehoben sei sein Kampf gegen Kurt Waldheim als Bundespräsident im Jahr 1988. Vor allem in den Jahren 1990 und 1991 führte er seinen Kampf gegen den Beitritt Österreichs zum "Europäischen Wirtschaftsraum". Dieser Kampf gegen die "Europäische Union", in der er den Sieg des Kapitals und des politischen Zentralismus sah, setzte er bis zur Volksabstimmung im Juni 1994 und zum Beitritt Österreichs mit Anfang 1995 fort. 1990 bis 1992 engagierte er sich in der Initiative "Österreich ohne Heer".
1991 und 1992 setzte er sich für die Abschaffung der Gewissensprüfung für Zivildiener ein; dies verstand er aber nur als eine weniger bedeutsame Variante, wie er meinte, seines grundsätzlichen Antimilitarismus. Diesen propagierte er während der beiden letzten Jahrzehnte auch im Rahmen der Grazer "Friedenswerkstatt" und der 1976 gegründeten "ARGE für Kriegsdienstverweigerung und Gewaltfreiheit", deren Organ "friedolin. Zeitschrift für Kriegsdienstverweigerung und Gewaltfreiheit" übrigens in den Jahren 1992 bis 1994 mit der Druckmaschine von Ferdinand hergestellt wurde. Noch im Sommer 1997, als er sich entschloß, seine "Befreiung" mit Jahresende einzustellen, entwarf er den neuen Titelkopf des "friedolin", in welchem seine eigene Zeitschrift weiterleben sollte: "Friedolin und Befreiung. Organ des herrschaftslosen Sozialismus, für Kriegsdienstverweigerung und Gewaltlosigkeit, für soziale und geistige Neukultur im Sinne des Friedens, der individuellen Selbstbestimmung; für freie Menschen und solche, die es werden wollen". Die Umsetzung dieses Planes legte er in die Hände des "friedolin"-Redakteurs Paul Friedrich, den er um 1988 kennengelernt und mit dem er sich in den letzten Jahren angefreundet hatte.
Wie wenig Ferdinand kampfesmüde war, zeigt auch seine Teilnahme an der großen Demonstration gegen die Militärparade anläßlich des Nationalfeiertags in Wien im Oktober 1995 und an der "Peace Parade" in Graz im Oktober 1996. Selbst 1997 focht der fast 90jährige noch im Rahmen des gleichnamigen Volksbegehrens gegen die Gentechnik und engagierte sich für das Zustandekommen der sogenannten Wehrmachtsausstellung, "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944", in Graz, die dann vom 1. Dezember 1997 bis 11. Jänner 1998 auch stattfand. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß es seit Ende der 1950er Jahre wohl kaum eine Wahl auf Gemeinde-, Landes- wie Bundesebene in Graz gab, bei der er nicht heftig gegen Wahlschwindel und Stimmenfang zu Felde gezogen ist. In den letzten Jahren verstärkte sich auch sein Interesse an der libertären Pädagogik und Psychologie; der wiederholte Abdruck neuerer Schriften von Gerda Fellay, die er 1993 kennenlernte und mit der er sich geistig eng verbunden fühlte, legen davon beredtes Zeugnis ab. Aber im Zentrum seiner Zeitschrift stand das Werk Pierre Ramus', um dessen Wiederabdruck er sich - und die Zeitschrift hatte immerhin eine Auflage zwischen 1.200 und 1.500 Stück - unablässig bemühte.
Ungebrochene Willenskraft
Als ich Ferdinand im April 1982 anläßlich eines Vortrages von Augustin Souchy in Graz kennenlernte, war er bereits in Rente. Seine "Befreiung" war ihm eine gut funktionierende, aber immer wieder neue Herausforderung geworden. Besonders freute er sich über die Besuche von Augustin Souchy, Horst Stowasser und Gerda Fellay in Graz und über die Frucht meines jahrzehntelangen Wirkens: die Veranstaltung am 13. und 14. November 1992 in Wien anläßlich des 110. Geburts- und 50. Todesjahres von Pierre Ramus und die darauf folgende Gründung einer "Pierre Ramus-Gesellschaft" im Jänner 1993, die Ferdinand zum Ehrenmitglied wählte. Dabei ging es ihm nicht um seine Person, - Eitelkeit war ihm wirklich fremd - sondern um die Anerkennung und Würdigung des Menschen Pierre Ramus und dessen Schaffens. Noch eine andere Freude war ihm in den letzten Jahren vergönnt. Ich habe schon auf Ferdinands Begeisterung für den Gesang hingewiesen. Den Tag begann er mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit und Selbstdisziplin mit Singübungen. Der begeisterte Sänger, der Gesang stets sein Lebenselixier nannte, konnte in den letzten Jahren regelmäßig gegen Winterende im "Centre International des Recherches sur l ' Anarchisme" (C.I.R.A.) in Lausanne Proben seiner Gesangskunst zum besten geben. Lieder von Franz Schubert und diverse Opernarien zählten zu seinen Lieblingsstücken. Zum Singen von Arbeiterliedern war er leider nicht mehr zu bewegen. Er meinte, sie seien für große Chöre geschrieben, weshalb ein Solovortrag lächerlich wäre. Seinen letzten Auftritt als Sänger hatte er im Jänner 1997 in Lausanne.
Im März 1997 flog der Neunundachtzigjährige in die USA zur Tochter von Pierre Ramus, Lilly E. Schorr. Diesen jahrelang ersehnten Besuch bezeichnete er im Krankenhaus als würdigen Höhepunkt, vielleicht auch Abschluß meines Lebens. Tatsächlich hatte er sich von den Strapazen der Reise nicht mehr richtig erholt. Seine Herzkrankheit brachte ihn 1997 dreimal ins Krankenhaus. Mit scheinbar ungebrochener Willenskraft schaffte er es dennoch, im Dezember 1997 die Nummer 85 seiner "Befreiung" herauszubringen. Kurz vor Weihnachten mußte er völlig geschwächt ins Grazer Landeskrankenhaus eingeliefert werden, wo er nach zwanzig Tagen entschlief.
An dieser Stelle wird es höchste Zeit, seiner stets nur im Hintergrund agierenden Frau Rosa zu gedenken: Sie war ihm durch sechs Jahrzehnte Lebens- und Kampfgefährtin, nicht nur eine wichtige Stütze während des Faschismus, sondern später auch rege Helferin bei der "Befreiung", besonders aber erste und ihm wichtigste Kritikerin jedes neuen Heftes. Nachdem sie an multipler Sklerose schwer erkrankte und ans Bett gefesselt war, pflegte sie Ferdinand viele Jahre auf bewundernswert liebevolle Weise. Ihr Tod im Februar 1994 traf ihn hart. Tief berührt haben mich seine Worte am Tag vor Rosas Begräbnis: Weißt Du, das letzte Mal, daß ich solche Angst hatte wie jetzt, war im KZ. Die Führung des Haushalts, die früher gemeinsam erledigt wurde, übernahm Ferdinand nach Rosas Erkrankung zusehends alleine. Dies fiel ihm offensichtlich nicht schwer, denn Hausarbeit bezeichnete er als seine stille Leidenschaft. Der begeisterte Hausmann kochte, putzte, wusch und bügelte selber - und machte herrliche Fruchtsäfte. Wer jemals Ferdinand in seiner bescheidenen Wohnung besuchte, wird sie als Inbegriff von "blitzsauber" in Erinnerung behalten. Mir bleiben die Erinnerungen an die vielen schönen Stunden in dieser Wohnung mit Ferdinand und Rosa. Der anarchistischen Bewegung bleibt das Vermächtnis eines Menschen, der stets den aufrechten Gang gegangen ist, selbst in den gefährlichen Zeiten des Faschismus, das Vermächtnis eines Menschen, auf den man als Freund wie Kampfgefährten stolz sein kann.
Reinhard Müller - Graz, im Jänner 1998
Aus: "Friedolins Befreiung" Nr. 2/1998
Originaltext: http://oeh.tu-graz.ac.at/~arge-kdv/f298_a1.htm