Ein Leben für die Freiheit - Gespräch mit Ferdinand Groß

Ferdinand Groß wurde am 11.2. 1908 in einer Wiener ArbeiterInnen-Familie geboren. Seit seiner Lehre, die er im PUCH-Werk Graz als Schlosser absolvierte, lebt er in Graz. Bereits 1926 wurde Ferdinand Groß mit erster sozialistischer Literatur konfrontiert. Seine immer stärker werdenden politischen Aktivitäten führen schließlich zum Verlust seines Arbeitsplatzes und Ferdinand Groß begab sich 6 Jahre lang auf Wanderschaft, ehe er 1932 wieder nach Graz kam. Bereits während seiner Wanderschaft hatte er öfters etwas von den Gedanken des großen österreichischen Anarchisten Pierre Ramus gehört und fühlte sich diesen sehr nahe. So wurde er in Graz Aktivist des „Bund Herrschaftsloser Sozialisten“ und des „Arbeitervereins“. Nach dem Verbot von KPÖ und der „Revolutionären Sozialisten-Anarchisten“, 1933 durch den Austrofaschismus und der Flucht P. Ramus ins Exil konnten nur mehr einige streng geheime Treffen durchgeführt werden. Aber auch unter der Diktatur der Nationalsozialisten hatte Ferdinand Groß den Mut bei der Besetzung der CSR im Betrieb gegen die Nazimachthaber aufzutreten. Bald schon wurde er u.a. wegen wiederholtem Verweigern des „Deutschen Grußes“ aus den PUCH-Werken entlassen und schlussendlich von der Gestapo verhaftet, misshandelt und mit Deportation bedroht. Da Ferdinand Groß aber weiter seiner Überzeugung treu blieb kam er ins KZ (Dachau, Natzweiler/Flossenburg), Aber auch dort leistete Ferdinand Groß weiter Widerstand. Bei seiner Strafverlegung in das „Sonderlager“ Neckargerach b. Heidelberg gelang ihm die Flucht. Nach 1945 nahm Ferdinand Groß gleich wieder seine politische Tätigkeit auf, versuchte Kontakte zu überlebenden Gesinnungsgenossen herzustellen und fand später bei den „AntimilitaristInnen“ und der „Friedensbewegung“ eine neue politische Heimat. Gleich nach dem Ende seiner beruflichen Laufbahn (1968) widmete er sich – völlig auch sich alleine gestellt – dem Bemühen die Schriften P. Ramus bekannt zu machen und in seinem Geist für den Herrschaftslosen Sozialismus/Anarchismus zu kämpfen. Zunächst arbeitete er mit Flugblättern in Graz, seit 1976 erscheint aber regelmäßig 4x jährlich seine Zeitschrift „Befreiung“ (kann gegen Spende bestellt werden bei: Ferdinand Groß, Boznerstrße 6, 8020 Graz), die er alleine herstellt, herausgibt und verbreitet. Mit diesem Mann, der trotz aller Verfolgungen sein ganzes Leben für eine anarchistische Gesellschaft gekämpft hat und auch heute noch aktiv für seine Sache arbeitet, haben wir ein Gespräch geführt, das wir hier abdrucken wollen. Die Fragen stellte Thomas Schmidinger.


Wie und wann bist du auf die Ideen des Anarchismus gestoßen? Könntest du uns etwas Biographisches über dich sagen?

Viele Menschen, die sich ihres Ichs voll und ganz bewusst sind, beobachtend und forschend durchs Leben gehen, ihre von Natur gegebenen positiven Fähigkeiten, Begabungen geistige wie physische zweckentsprechend und nützlich in gesellschaftlicher Gemeinschaft ausüben wollen, müssen erleben, dass sie gehemmt werden und auf Schwierigkeiten stoßen durch die die unzulänglichen, fehlkonstruierten Gesellschaftsformen, welche auf dem ausbeutenden, unterdrückenden, staatlichen, kapitalistischen und militaristischen Profitsystem beruhen, in diesem der unterworfene Mensch nicht als Korne der Schöpfung betrachtet wird, sondern zur lebenden Ware degradiert ist, mit der Profit zu erzielen ist, zur Vermehrung des Kapitals, zu Gunsten der im kapitalistischen System Herrschenden, die es bei Gefahr angegriffen zu werden brutalst verteidigen lassen. Also das Ganze ist ein erbärmlicher Zustand, dem die gesamte Menschheit unserer Erde ausgeliefert ist. Einer von vielen dieser Menschen bin auch ich, einer der schon in jungen Jahren die Beobachtung machte und es erleben musste, wie höchster Missbrauch mit mir und meinen Mitmenschen getrieben wurde und weiterhin getrieben wird und durch regierende Minderheiten gegenüber der Mehrheit, dem schaffenden Volk, in der damals so auch heute existierenden Kapitalgesellschaft der Ausbeutung und Unterdrückung.

Meine damals 6 Jahre gedauerte Arbeitslosigkeit und die kurz danach 6 Jahre Haft in den Konzentrationslagern verbrecherischer Regime, ließ in mir die Erkenntnis reifen, dass Diktaturen aber auch Demokratien in denen es Arbeitslosigkeit, Gefängnisse und Zuchthäuser gibt, faul und korrupt sind, die soziale Frage niemals lösen werden und auch nicht wollen, daher endgültig zum Verschwinden gebracht werden müssen durch die völlige Neuordnung der Gesellschaft im Sinne von Herrschaftslosigkeit, sozialer und geistiger Neukultur, des Friedens, der Gewaltlosigkeit und individuellen Selbstbestimmung: für freie Menschen und solche die es werden wollen. Einen konstruktiven Plan zum Aufbau einer solchen Gesellschaft verfasste unser lieber Freund Pierre Ramus mit dem genialen Werk „Die Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“. Nur sie kann als neues Weltbild, eine neue Weltordnung gelten: Sie aufzubauen ist höchste Angelegenheit, höchstes Strebensziel der Verfechter des Anarchismus, denen ich mich 1931 anschloss.


Welche Bedeutung hat der österreichische Anarchist Pierre Ramus in deinem Anarchieverständnis?

Das, was die großen Kämpfer der anarchistischen Bewegung bedeuten in der Zeit und in den Ländern wo sie lebten und wirkten, das war Pierre Ramus in Österreich. Ich lernte ihn bei seinen Vorträgen hier in Graz kennen. Seine geistige Ausstrahlung, seine Redegewandtheit zog mich in seinen Bann, denn seine Vortragsthemen waren zündend, aufrüttelnd und sozialrevolutionär. Sie hinterließen nachhaltige Eindrücke, die von ganz großer Bedeutung für mich waren und lassen seine Persönlichkeit weiterhin Vorbild bleiben. Pierre Ramus war von hohen Idealen beseelt, für sie sich zu interessieren und zu begeistern er seine Zuhörerschaft aufrüttelte, ihre positiven und schöpferischen Fähigkeiten er weckte, dass sie ihre höchsten Glückansprüche wahrnehmen, wie überhaupt sie ihr Geschick selbst bestimmen sollten als Voraussetzung gemeinsam zum Menscheitsfrühling des Anarchismus gelangen zu können. In meinem Anarchieverständnis nimmt Pierre Ramus einen ganz besonderen Platz ein, weil er nicht nur ein faszinierender, ehrlicher und aufrichtiger Volksredner, sondern auch ein begnadeter Sozialschriftsteller war. Mit seinen außergewöhnlichen, einzigartigen literarischen Werken bereicherte er die anarchistische Literatur und das darin enthaltene Gedankengut soll uns bestärken beim Lesen dieser Werke im Kampf für unser Ziel.


Unter AnarchistInnen wird oft sehr heftig über die Gewaltfrage diskutiert. Im breiten Spektrum anarchistischer Bewegungen gab es sowohl Einzelattentäter oder Ideen einer bewaffneten Revolution als auch strikt pazifistisch orientierte AnarchistInnen. Welche Position beziehst du in der Gewaltfrage?

Die Gewaltfrage in der anarchistischen Bewegung ist eine sehr wichtige. Dank der sich weltweit durchgerungenen Erkenntnis bei AnarchistInnen, der absoluten Gewaltlosigkeit gegenüber der Gewalt den Vorzug zu geben im Kampfe zur Durchsetzung einer anarchistischen Weltordnung, machten wir uns frei von dem lange an uns anhaftenden Vorurteil unserer Gegner, die uns als Kriminelle, Gesetzlose, Chaoten, Bombenwerfer, Mörder und so vieles mehr diffamierten. Daran hatten wohl vielfach Anhänger der Gewalt, Außenseiter, die im Alleingang Attentate an herrschenden Persönlichkeiten verübten, Schuld, wiewohl diejenigen, denen das Attentat galt, die größten Massenmorde heraufbeschworen. Als Diffamierungskampagne gegen Anarchisten und den Anarchismus wird z.B. das Attentat auf die Kaiserin Elisabeth von einem „Anarchisten“ herangezogen dessen unbesonnene, unrühmliche Tat ganz und gar zu verurteilen ist, jedoch aber der Vergleich nicht berücksichtigt wird, dass im durch die damalige österreichisch-ungarische k.u.k. Monarchie heraufbeschworenen 1. Weltkrieg 10 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten und man diesen Massenmord gegenüber dem an der Kaiserin verübten Mord, niemals als ein Verbrechen des Herrschergeschlechts, des Staates anprangerte und verurteilte. Schon die fruchtbare und schreckliche Bilanz dieses ersten Massakers und dem verhältnismäßig kurz darauf folgenden noch größeren, verbrecherischen Völkermorden im 2. Weltkrieg, ließ nicht die Erkenntnis aufkommen, dass eigentlich der zu verdammende Staat als der größte Gewaltverbrecher zu bezeichnen ist. Die Empörung und Abscheu der Menschen gilt vielmehr begangener Morde im zivilen Leben, hingegen das Privileg des Staates Massenmord durch Kriege zu begehen, bleibt unangetastet und wird nicht als Verbrechen verurteilt. Das ist dem Umstand zuzuschreiben, dass alle Menschen Staatsbürger sind, sich also dem Staate zugehörig fühlen, wodurch es zur Mitschuld, zur Selbstanklage und Selbstverurteilung kommen müsste und welche Bürgerin, welcher Bürger tut dies?

Von diesem Standpunkt aus betrachtend ist es für uns herrschaftslosen SozialistInnen, gewaltfreien kommunistischen AnarchistInnen klar, absolute Gegner jedes Staates als auslösender Faktor jeglicher Gewalt zu sein, sei sie polizeilich oder militärisch, und somit vollständig das Prinzip der Gewaltlosigkeit als Kampftaktik zur Verwirklichung unserer Ideale zu verstehen haben. In der spanischen bewaffneten Revolution 1936 bis 1939, woran die AnarchistInnen und SyndikalistInnen beteiligt waren, war die Anwendung der Gewalt eine totale Fehltaktik. Denn hätten die Revolutionäre die Gewaltlosigkeit in Anwendung gebracht durch Generalstreik und Boykott der Franco-Administration und Gesetzgebung, so hätte dieses verbrecherische Gewaltregime nicht von so langer Dauer sein können und es hätte nicht so immens viele Menschenopfer gegeben, die durch die Anwendung von Gewalt nicht zu rechtfertigen sind, geschweige denn einen Erfolg für die bewaffnete Revolution brachte. Die Gewaltlosigkeit bedingt daher einen hohen Intelligenzgrad der sie Ausübenden für ein zu erkämpfenden Ziel, gegenüber der plumpen, brutalen, Menschen tötenden, primitiven Methode der Gewalt, welcher nur mit geistiger Überlegenheit, Schlauheit und List beizukommen ist.


Viele Menschen die in ihrer Jugend revolutionären Ideen anhängen passen sich später sehr schnell an. Viele geben auf oder flüchten sich in esoterische New-Age-Scheinwelten. Du bist für mich ein Beispiel, dass es auch anders geht, dass es möglich ist trotz aller Verfolgungen und Schwierigkeiten aufrecht seinen Weg zu gehen, dass die Kapitulation vor einem übermächtigen System nicht sein muss. Diese Frage mag etwas seltsam klingen, aber wo nimmst du diese Energie her, wie schaffst du es mit deinen 86 Jahren immer noch voll Energie für eine herrschaftslose, befreite Gesellschaft zu kämpfen?

Die anarchistische Ideenlehre festigte mein Bewusstsein, gibt mir das geistige Fundament und für diese Ideen zu wirken ist für mich Freude und Lebenssinn. Sie bestärken mich auch in der Notwendigkeit für sie zu kämpfen, dass sie keine Utopie bleibt. Der Anarchismus steht in krassem Gegensatz zum Staate, seiner Herrschaftsstruktur beruhend auf Gewalt, Macht, Ausbeutung und Unterdrückung durch die regierende Minderheit gegenüber der Mehrheit, dem schaffenden Volk. Dieser asoziale Zustand macht es erforderlich Kenntnisse zu erlangen über die Neuorganisierung und den Aufbau der staatenlosen Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus. Das von Pierre Ramus in der Theorie verfasste Werk bietet das geistige Fundament, um uns für die in der Praxis aufzubauende neue Sozial- und Weltordnung im Lichte gereifter Vernunft und Erkenntnis zu befähigen. Die Voraussetzung zur Durchführung dieses Weltbildes bedeutet alles Hindernde, Faule und Morsche zu erkennen, es für überflüssig, bedeutungslos zu erklären und das Feld von diesem Schutt zu räumen. Es ist allerdings nicht zu verhehlen, dass es einer großen Anstrengung bedarf, das im Staatsgeist und in Staatsangehörigkeit konservativ denkende Volk für die Notwendigkeit dieses radikalen gesellschaftlichen Umbruchs zu seinem eigenen Vorteil und Nutzen zu überzeugen. Dies notwendige und wichtige propagandistische Arbeit ist mir völlig bewusst und daraus schöpfe ich die dafür erforderliche Lebenskraft.


Wie siehst du die Chancen für den libertären Sozialismus nach dem Zusammenbruch des autoritären Sozialismus im Ostblock? Kann der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus wieder zu einem Erstarken libertärer Ideen führen? Die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems für Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen zu sorgen ist ja die gleiche geblieben. Dieses herrschende System kann doch nicht einfach des „Ende der Geschichte“ sein.

Mit dem Zusammenbruch des autoritären Sozialismus, der keiner war, sondern ein Pseudonym, verschwand ein großes und gefährliches Hindernis und begünstigt damit das Erstarken libertärer Ideen, denn nur Diktaturen sind das endgültige „Aus“ solcher Ideen. So möchte ich ebenfalls auf das von Pierre Ramus verfasste geniale und interessante Werk „Die Irrlehre und Wissenschaftslosigkeit des Marxismus im Bereich des Sozialismus“ hinweisen, welches uns aufschlussreich, exakt und präzise die darin enthaltenen Argumente und Faktoren als Ursache des Zusammenbruch des auf tönernen Füßen gestandenen bolschewistischen Staatskolosses vermittelt. Dieses Werk wäre jenen zu empfehlen, die immer noch im Geistesbereich des Marxismus- Leninismus verbleiben. Es gilt daher neue Diktaturen zu verhindern und unverzüglich mit dem Aufbau des herrschaftslosen Sozialismus, des kommunistischen Anarchismus zu beginnen. Die von Herrschsucht und brutalsten Machtdünkel besessen gewesene Führungsclique in der ehemaligen UdSSR, deren Intellekt in primitiven Bahnen des Ungeists von Marx und Lenin sich bewegte, vermochte nicht das russische Volk zur Freiheit, zum Wohlstand für alle zu führen. Sie konnten der Bevölkerung das fundamentalste Lebensrecht, die ihm gebührende Lebensexistenz, trotz üppig sprießender und überreicher Vegetation in diesem Lande, nicht sichern. Diese Diskrepanz zwischen Mensch und Natur ist auf der ganzen Welt vorherrschend, sie hat ihre Ursache durch die Ausgeburt des staats- und privatkapitalistischen Monopolsystems, welches das alleinige Recht für sich in Anspruch nimmt, den Reichtum an Grund und Boden und alles für die Lebensexistenz Erforderliche und Notwendige der übrigen Menschheit zu beanspruchen, sie davon sklavisch abhängig macht und demzufolge Arbeitslosigkeit, Armut, Elend, Hunger, Seuchen, Revolten, Kriminalität und letzten Endes Kriege als das Resultat des heute erbärmlichen gesellschaftlichen Zustandes verursacht. Der daraus hervorgegangene, widernatürliche, krankhafte Egoismus der Menschen, mehr an sich zu raffen als sie und ihre Familien benötigen – die eigentliche Triebfeder in allen Profitsystemen – führt zu einer asozialen Handlung, die angeprangert und bekämpft werden muss um das Fundament schaffen zu können für unser Ziel die gerechte „Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“ [Anm. des Tippers: So heißt das Hauptwerk von Pierre Ramus]. Es bedarf nur der schaffenden Hände aus der ewig grünenden und fruchtbaren Erde den Nahrungsbedarf für alle Menschen zu decken und zwar überreich, um nirgends Menschen hungern lassen zu müssen. Das Privileg der herrschenden Klasse muss entzogen werden auf dass alle Menschen das Recht auf Wohlstand haben. Wenn wir dafür viele Menschen gewinnen wird dies eine neue bessere Menschheitsepoche einleiten.


Danke für dieses Gespräch.



Originaltext: Vogelfrei (Zeitschrift der Libertären Liga), Nummer 1, (1/94), S. 24 - 26


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