Maria Spiridonowa - Briefe an das Zentralkomitee der Bolschewiki

Die Bolschewiki sind die wahren Rebellen gegen die Sowjetmacht... Die Räte müssen wie ein empfindliches, mit dem Volke verbundenes Barometer sein; daher muß eine unbedingte Freiheit der Wahlen, freier Spielraum für den spontanen Willen des Volkes herrschen; nur dann wird es schöpferische Kraft, ein neues Leben, einen lebendigen Organismus geben. Nur dann wird das Volk fühlen, daß alles, was im Lande vorgeht, wirklich seine eigene Sache ist und nicht eine fremde. (1)

Mit dem Terror ist für die angreifende Seite fast untrennbar das Opfer an Leben, Blut und allem anderen verbunden, nur darin, scheint mir, liegt eine Rechtfertigung des terroristischen Akts. (2)

Im Bezirk Chwalynsk des Govemements Saratow trafen Rotarmisten und eine Requirierungsabteilung in einem Dorf ein. Drei der Anführer versammelten nachts die Bauern und befahlen, das Bad in der Badeanstalt zu heizen und Mädchen dorthin zu bringen. "Die schönsten jungen Mädchen!" Unter den Bauern brach ein lautes Geschrei aus, es kam zu einer Schlägerei, und einer der Rotarmisten feuerte einen Schuß ab. Man schlug sich die ganze Nacht, und was kam dann? — Der eine Führer war getötet, und zwei andere mußten mit ihrer Abteilung fliehen. (3)

Die Tscheka sperrte die Bauern massenweise in einen kalten Getreidespeicher ein; sie wurden nackt ausgezogen und mit Ladestöcken geschlagen. Die dortigen Führer erklärten, es sei ihnen von oben der Rat gegeben worden, lieber mit zu großer als mit ungenügender Schärfe vorzugehen. (4)

"In der alten Zeit ritten auf dem Rücken der Bauern zaristische Polizeibeamte, jetzt tun es die Kommunisten", so sprach man in Makarjew im Bezirk Bjelsk, Gouvernement Witebsk, prügelte man die Bauern auf Beschluß des Vollzugsrates. (5)

Man stellte ein Drittel der Dorfgemeinde in eine Reihe und schlug mit Fäusten auf sie ein, von rechts nach links, in Anwesenheit der anderen zwei Drittel; wer einen Versuch zur Flucht machte, wurde von der Requirierungsabteilung mit Peitschen geschlagen. Beim Herannahen der bolschewistischen Abteilung zog man mehrere Hemden und sogar Frauenjacken an, um den Schmerz beim Prügeln erträglich zu machen; die Rotarmisten waren aber so geschickt, daß sie es fertigbrachten, mit einem Hieb zwei Hemden in den Körper der Bauern hineinzuschlagen. Man trennte die Kleider nachher dadurch vom Leibe, daß man sie in der Badeanstalt oder einfach im Teich naß machte; viele waren später wochenlang außerstande, auf dem Rücken zu liegen. Man nahm uns alles weg; den Frauen wurden sämtliche Kleider und alle Leinwand abgenommen, den Männern die Jacken, Uhren und Stiefel; abgesehen vom Getreide... Man fesselte und schlug uns. Einen, den sie nicht überwältigen konnten, haben sie getötet; es war aber ein Wahnsinniger... Sie ließen uns viele Flugblätter und Broschüren da, wir haben sie aber verbrannt, alles bloß Betrug und Schmeichelei.

In die Ausschüsse der Dorfarmut treten Kulaken und die schlimmsten Rowdys ein, sie machen Spazierfahrten mit unseren Pferden, zwingen alle Bauernhäuser, der Reihe nach, Mittagessen für sie zu kochen, sie nehmen uns Geld ab, verteilen es untereinander und schicken nur einen kleinen Prozentsatz davon nach Kasan; sie haben die Viehabnahme bei den Bauem angeordnet... Wir haben das Getreide nicht verborgen, wir haben laut Befehl nach dem Dekret neun Pud pro Kopf für ein Jahr für uns behalten. Da sandten sie uns ein Dekret, dem zufolge wir nur je sieben Pud behalten dürften und die anderen zwei Pud auch noch abliefern müßten. Das haben wir getan. Da kamen die Bolschewiki mit militärischen Abteilungen und raubten uns vollständig aus. Darauf erhoben wir uns. Im Bezirk Juchnow steht die Sache jetzt sehr schlecht; da wurde mit Artillerie geschossen. Die Dörfer brennen. Die Häuser sind dem Erdboden gleichgemacht. Wir wollten doch alles abgeben, wir wollten die Sache friedlich regeln. Wir wußten, daß die Stadt hungert. Wir haben uns selbst nicht geschont... Die Requirierungsabteilungen haben die werktätigen Bauern furchtbar mißhandelt. Schreckliche Dinge sind geschehen. Es waren immer Bewaffnete, Betrunkene mit Maschinengewehren... Den Stationskommissar wollten sie auch verprügeln; sie drohten mit einem Stück Papier, das ihnen, wie sie schrien, das Recht gäbe, "alles zu tun, wozu sie Lust hätten". Es ist charakteristisch, daß sie während dieser Untaten mit unartikulierter Stimme brüllten: "Was? Ihr wollt hier Gegenrevolution machen? Na, das wäre doch!... Wir werden euch Kulaken alle... so... an die Wand... und ein Ende damit!"...

Verprügelungen von Bauern sind in einigen Gouvernements festgestellt worden. Enorm aber ist die Zahl der Erschießungen, der Ermordungen, während der Gemeindeversammlungen, am hellichten Tage und in der Nacht, ohne Gerichtsverhandlung, in Gefängnissen, wegen "gegenrevolutionärer" Umtriebe, wegen der Aufstände der angeblich "reichen Bauern", wo sich in Wirklichkeit manchmal Dörfer mit 15.000 Einwohnern wie ein Mann erhoben. Die ungefähren Zahlen haben die Summen der Opfer der Unterdrückungen in den Jahren 1905/1906 bereits weit übertroffen. Man tötete z.B. Mitglieder der Partei der linken Sozialrevolutionäre, man tötete sie häufig nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Partei und weil sie in dieser Zugehörigkeit verharrten und sie nicht abschwören wollten, man tötete, marterte und verhöhnte sie. In Kotelnitschi z.B. wurden Machnow und Missuno nur deswegen getötet, weil sie linke Sozialrevolutionäre waren. Sie waren echte Kinder der gegenwärtigen Volksrevolution, sie waren aus ihrer Hefe hervorgegangen; sie stiegen empor und arbeiteten so fleißig für die Sache, daß sich über Missuno überall, wo er erschien, Legenden zu bilden pflegten. Unbekannte Helden, auf deren Rücken wir mit euch, Bolschewiken, zusammen die gesamte Oktoberrevolution durchgetragen haben. Missuno mußte seine Weigerung, vor seiner Hinrichtung sein eigenes Grab zu graben, teuer bezahlen. Machnow stimmte dem Befehl, sein eigenes Grab zu graben, unter der Bedingung zu, daß ihm erlaubt würde, vor seinem Tode zu sprechen. Er hat gesprochen. Seine letzten Worte waren: "Es lebe die sozialistische Weltrevolution!"

Im Gouvernement Tua kam es zu Revolten in fünf Bezirken: im Bezirk Jepiphan wurden 150 Personen erschossen, im Bezirk Alexinsk (wo Neuwahlen der Sowjets gefordert wurden) 15 Personen, im Bezirk Krapiwensk 15 Personen, im Bezirk Bogorodsk 9 Personen. (6)

Im Bezirk Schatzk wird das Bild der heiligen Mutter Gottes von Wyschin vom Volke sehr verehrt. Im Dorfe wütete die Grippe, an der die Leute massenweise starben. Man ordnete einen Bittgottesdienst und eine Kirchenprozession an. Der Vorsitzende der Tscheka verhaftete den Geistlichen und beschlagnahmte das Heiligenbild. In der Tscheka spottete man über das Heiligenbild und bespuckte es. Den Geistlichen beleidigte man in jeder nur möglichen Art und Weise. Der Bezirk Schatzk hat eine noch ganz rückständige unwissende Bevölkerung. Die Leute wurden ganz wahnsinnig. Eine große Menge brach auf zur "Befreiung der Mutter Gottes". Frauen, Greise, Kinder. Der Vorsitzende der Tscheka eröffnete ein Maschinengewehrfeuer. "Ich bin Soldat, ich habe in vielen Kämpfen gegen die Deutschen gestanden", so schreibt ein Bauer, "aber so etwas habe ich noch nicht gesehen. Das Maschinengewehr mäht ganze Reihen nieder, aber sie gehen scharenweise weiter, sie sehen nichts und dringen vor über Leichen und Verwundete, mit schrecklichen Augen; Mütter halten ihre Kinder vor sich und schreien: "Mutter, Erlöserin, rette uns, erbarme dich, wir werden alle für dich sterben!" Sie hatten gar keine Angst mehr. Sehr viele haben die Bolschewiki damals nur aus Furcht getötet.

Im Gouvernement Twer wurden in 13 Dorfgemeinden innerhalb sieben Tagen 200 Menschen erschossen. Im Gouvernement Smolensk, Bezirk Welisch, wurden 600 Menschen erschossen; es gab Foltern und "immer die Peitsche". In den Gouvernements Woronesch, Kostroma, Orel gab es Tausende von Erschossenen. Verprügelungen kamen in sämtlichen Gouvernements Westrußlands vor, ebenso in den Gouvernements Nischnij Nowgorod, Kasan, Twer, Pskow, Wjatka, Tambow, Rjasan, Jaroslawl, Kaluga und Tula. Man prügelte mit Ruten, Ladestöcken, Peitschen und Stöcken. Man schlug mit Fäusten, Gewehrkolben und Revolvern. (7)

Die polizeiliche Überwachung der mutmaßlichen oder tatsächlichen feindlichen Elemente wird dort sehr wirksam sein, wo sie Sache der siegreichen Bevölkerung ist. Sämtliche Beispiele politischer revolutionärer Bewegungen führen auf den Gedanken, daß die Überwachung seitens der Gesellschaft viel strenger sein werde als die Überwachung seitens einer beliebigen Spezialpolizei...

Es war tatsächlich die Revolution der arbeitenden Massen, und die Rätemacht ruhte buchstäblich im Schoße dieser Revolution. Sie war unerschütterlich, und nichts, weder Verschwörungen noch Aufstände, hätten sie ins Wanken zu bringen vermocht. Die rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki waren aufs Haupt geschlagen, aber nicht durch die damals seltenen Repressalien und den noch schamhaften Druck, sondern dank ihrer eigenen früheren Koalitionspolitik... Die Rätetagungen in den Gouvernements und Bezirken fanden spontan statt, es gab keine gewaltsamen Auflösungen, keine Verhaftungen, es herrschte ein freier Kampf der Meinungen... Sie (die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki) verschwanden in ihrer Isolierung, der Terror gegen sie war überflüssig. Und so könnten die Dinge noch heute stehen. ..

Zur Zeit, als die Rätemacht noch im Volke ruhte, ließ Dzerschinski (Vorsitzender der Tscheka) nur einige Räuber und Mörder erschießen, und das tat er mit dem Gesichtsausdruck eines Opfers und mit allen Qualen des Schwankens. Nachdem aber die Rätemacht aufgehört hatte, eine Rätemacht zu sein und zu einer bolschewistischen Macht geworden war, als ihre soziale Grundlage und ihr politischer Einfluß immer enger wurde, da brauchte man auch die besondere Bewachung Lenins durch die Lettenformationen, gleich der Kosakenbewachung des Zaren und Janitscharenbewegung des Sultans.

Da brauchte man den sogenannten roten Terror. (8)

Anmerkungen:
1.) Aus: Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Dokumente der Weltrevolution, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 1967, S. 44
2.) aus: Isaak Steinberg, Gewalt und Terror..., a.a.O., S. 187
3.) S. 67
4.) S. 67/68
5.) S. 68
6.) S. 69ff
7.) S. 72
8.) S. 305/306

Spiridonowa, Maria Alexandrowna (1884-1941) – seit 1902 Mitglied der Partei und der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre; 1906 nach einem erfolgreichen Attentat auf den brutalen Gouverneur
Luschenowsky zum Tode, dann zu unbefristeter Zuchthausstrafe verurteilt; nach der Februarrevolution 1917 gehörte sie zu den Führern der linken SR, Mitglied des ZK der linken SR; nach der Oktoberrevolution Mitglied des ZIK und Delegierte der III.-V. Rätekongresse; nicht konform mit der Sowjetregierung in der Frage des Brester Friedens; war die moralische Stimme während des Aufstandes der linken SR am 6./7.7.1918 in Moskau; Verhaftung, dann in Anerkennung ihrer revolutionären Verdienste Amnestie; weitere Verhaftungen in den 1920er Jahren, Verbannung nach Taschkent und Ufa, 1937 Verhaftung; wurde am 11.9.1941 mit 300 Gefangenen im Gefängnis in Orjol [und unter ihnen Christian Rakowski] im Zuge der bevorstehenden Evakuierung des Gefängnisses erschossen. (nach: Weggesperrt. Frauen im Gulag, Berlin, K. Dietz, 2009, S. 413)

Originaltext: Anhang zu Emma Goldman: Niedergang der russischen Revolution, Karin Kramer Verlag, 1987. Gescannt von www.anarchismus.at


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