S.E. Parker - Feinde der Gesellschaft

Ein offener Brief an die Herausgeber der "Freedom" von S.E.Parker (Gestützt auf ein Gespräch mit der Londoner Anarchisten-Gruppe am 9. Juli 1967, übersetzt von SOLNEMAN)

Nachdem ich mehr als zwanzig Jahre lang ständiger Leser Eures Blatte war, schreibe ich dies, um Euch einige meiner Gedanken über "Freedom" und seine Beziehung zum Anarchismus darzulegen. Ich beabsichtige nicht, all die Ausgaben zu durchstreifen, die während dieser Zeit erschienen sind, sondern nur einen Blick auf "Freedom" zu werfen, wie es ungefähr zu der Zeit war, als ich begann es zu lesen, und dann das zu betrachten, wie es gegenwärtig ist. Hierzu werde ich zwei Ausgaben vergleichen, eine vom 9. März 1946 und die andere vom 8. Juli 1967.

Das Hauptthema der Ausgabe von 1946 war das dringende Bedürfnis der Arbeiter und Bauern, der Massen, eine soziale Revolution zustande zu bringen. In einem Artikel über "Indien - die Drohung des Hungers" wurde uns erzählt, daß "die Aufstellung von Arbeiter- und Bauern-Ausschüssen, um das Land und die Industrie zum Wohl aller zu verwalten, und die Abwendung des Hungertodes die konstruktiven Notwendigkeiten sind, welche die Gegenwart fordere". Ein anderer Artikel über die Lag in Frankreich kündigte an, daß "die französischen Arbeiter zu begreifen beginnen" und daß die Chancen für "revolutionäre Minderheiten hervorragend geworden sind". Und die ägyptischen Massen haben "ihre wahre Aufgabe zu begreifen und einen wirklich revolutionären Weg zu gehen, indem sie die kindischen Trugschlüsse des Nationalismus abstreifen".

Während der Autor eines Artikels über die Wehrpflicht sagt, daß "die Regierung, wie alle Tyrannen, offensichtlich nur Furcht vor dem Volke selbst hat. Sie fürchtet, daß die Massen sich gegen die bestehende Ordnung erheben und eine Gesellschaft des Friedens und der Gleichheit einrichten wird, in welcher die Freiheit zu einem Eckstein und nicht zu einem Verbrechen wird". Und George Woodcock klagte den Kleinbürger-Standpunkt der Levellers an, "der sie daran interessiert sein ließ, eine Gesellschaft kleiner Eigentümer zu schaffen und mit erschütternder Hartnäckigkeit die Lehren des kommunistischen Anarchismus abzulehnen, wie sie von Wistanley und den Diggers gepredigt wurden. Wistanleys soziale Vision, verbunden mit der revolutionären Kraft der Levellers und sich äußernd in einer direkten Aktion der Landbesetzung, würde wirkliche Freiheit nach England gebracht und die Geschichte der Welt geändert haben".

Habt Ihr jemals einen Gedanken darauf verwendet, was aus all diesen frommen Hoffnungen geworden ist? Verhielten die indischen Massen sich so, wie Ihr es ihnen vorschlugt? Waren sie überhaupt interessiert genug, Euch anzuhören? Wieviel näher sind die ägyptischen Massen dem wirklichen "revolutionären Weg"? Denkt Ihr, daß ihre kürzlichen Hosiannahs für Nasser zeigten, daß sie den Nationalismus "überwunden" haben? Und die französischen Arbeiter - die einstige glühende Hoffnung Bakunins und Kropotkins - haben sie begriffen? Zittert de Gaulle in seinen Schuhen vor der drohenden Erhebung "des Volkes selbst", das "eine Gesellschaft des Friedens und der Gleichheit" einrichten wird? Waren diese Hoffnungen irgendwie verschieden von Woodcocks rückblickenden Spekulationen, was geschehen wäre, wenn die Levellers sich so verhalten hätten, wie er 3oo Jahre später sagte, daß sie es hätten tun sollen? Ich habe keinerlei ernsthafte Analyse bei Euch bemerkt zu der Frage, warum dies fromme Hoffnungen geblieben sind. Zweifellos waren sie in der hitzigen, enttäuschten Atmosphäre gerade nach dem zweiten Weltkrieg begreiflich. Ich weiß, ich teilte sie. Aber mehr als zwanzig Jahre sind vergangen und sie sind bestreut mit den Ruinen zerschmetterter Hoffnungen und geplatzter Wünsche. Gerade jetzt, in diesen Tagen, war eine andersgläubige Stimme zu hören, welche die Euphorie von der kommenden Revolution zerstörte. Ein Leser schrieb: "Streiks, Syndikalismus und Klassenkampf haben an sich wenig Bedeutung. Klassenkampf ist eine Tatsache, aber hat, wie ich es sehe, wenig direkte Verbindung mit dem Anarchismus, der keine Klassen kennt, und bestimmt auch (weder historisch noch gegenwärtig) sehr repräsentativ für die Wünsche der arbeitenden Klasse ist…"

Aber Ihr nahmt wenig Notiz von solch einem Argument und scheint es jetzt völlig vergessen zu haben, wenn Eure letzte Seite irgendeine Richtschnur ergibt oder auch die Titelseite der Ausgabe vom 8. Juli dieses Jahres. Hier steht ein Artikel über Aden, der sich liest wie eine Aufwärmung der Artikel von 1946. Wieder einmal ist die Lösung "eine Revolution nicht allein im Gebiet von Aden, sondern in allen Araber-Staaten, um zu sichern, daß der Reichtum aus den Öl-Monopolen, der jetzt im Besitz einer kleinen Minderheit ist, zum Wohl der gesamten Bevölkerung gebraucht wird". Es würde mich interessieren zu hören, welche Antwort Ihr von den Massen aus Aden erhieltet. Und erst recht die Darstellung auf der Rückseite, ein Bericht aus Japan, in welchem festgestellt wird, daß "die Mehrheit des Volkes von Japan" den Krieg in Vietnam zu beenden wünscht. Der Schreiber sagt nicht, wie er zu seiner Schlußfolgerung kam und ich zweifle sehr daran, daß er dies erklären könnte.

So wird das Thema vom revolutionären Volk ständig neu aufgetischt. Was könnt Ihr nun, nach zwanzig Jahren, dazu vorzeigen? Tatsächlich könnte ich sagen: nach achtzig Jahren, nachdem Ihr und Eure Vorgänger dasselbe Lied seit 1886 gesungen habt, als die erste Ausgabe von "Freedom" erschien. Ja, ich weiß, Ihr habt uns von der schwarzen Fahne erzählt, die über Fabriken in Korea wehte; Ihr wart hingerissen vom Ost-Berliner Aufstand von 1953, dem ungarischen Aufstand von 1956, den ersten Tagen des Castro-Regimes in Cuba und den Sitz-Streiks des Komitees der l00. Ihr kratzt unablässig herum nach solchen Beispielen in der Hoffnung, daß all diese Reste von "revolutionärer Aktion" sich aufhäufen werden zu einem überzeugenden Beweis für die Möglichkeiten des Anarchismus, der von den Massen getragen wird. Ihr beschreibt jedoch natürlich nicht die weit zahlreicheren Beispiele, in denen diese selben Massen, aktiv oder passiv, die Herrscher unterstützen, welche sie melken. So habt Ihr Korea, Ost-Berlin, Ungarn, Cuba gehabt, gar nicht zu erwähnen Mexico, Rußland und Spanien. Zweifellos könntet Ihr zu den Anfängen der Geschichte zurückgehen, indem Ihr Fälle von "direkter Aktion" oder "schöpferischer Kraft des Volkes" anführt. Ihr könnt aber noch immer nicht zeigen, wie diese so ausgedehnt werden können, daß sie die autoritären Systeme verdrängen, und auch nicht, daß sie nicht in sich die Keime neuer Formen von Autorität tragen. Habt Ihr je Eric Hoffer's Behauptung in Betracht gezogen, daß gewöhnlich die Massen bekommen, was sie wünschen - als strenge Herren - nach erfolgreichen Revolutionen, und daß nur die geistigen Vorläufer enttäuscht sind?

Hinzu kommt das Problem der Organisation, dem Ihr Euch niemals ehrlich zugewendet habt, indem Ihr dazu neigtet, es mit ein paar Phrasen über "Dezentralisation" wegzuwischen. Simone Weil, in ihrer syndikalistischen Phase, stellte das Problem kurz und bündig auf, als sie schrieb:

"Kann die Organisation der Arbeiter dem Proletariat die Stärke geben, die ihm fehlt? Die erhebliche Verwicklung des kapitalistischen Systems und als Folge davon auch der Probleme, die der dagegen geführte Kampf aufwirft, führt mitten ins Herz der Bewegung der arbeitenden Klasse 'die entwürdigende Scheidung der Arbeit in Hand- und Kopfarbeit'. Spontaner Kampf hat sich stets als unwirksam erwiesen und organisierte Aktion umfaßt beinahe automatisch einen Verwaltungsapparat, der, früher oder später, unterdrückend wird".

Was ist Eure Antwort darauf? Wo sind die Kräfte für Eure Revolution und wie wollt Ihr sie organisieren? Schließlich, wenn die Adener Massen eine Revolution brauchen, müßtet Ihr ihnen zumindest erläutern, was das bedeutet.

Natürlich, eine Rückzugslinie von Eurem völligen Verlaß auf die Revolution ist, sich auf den Standpunkt des Herausgebers Eurer Schwester-Zeitschrift "Anarchy" zu stellen, wenn er mit Malatesta übereinstimmt, daß freiheitlicher Sozialismus "nur eine der Kräfte ist, die in der Gesellschaft wirken und die Geschichte, wie immer, in der Richtung einer Resultante aller Kräfte fortschreiten wird". Aber wenn Ihr dies tätet, wenn Ihr den proletarischen Mythus als Abfall verhökert, wie es die logische Folge dieses Gesichtspunktes wäre, dann zerplatzt Euer Glaubensbekenntnis der sozialen Erlösung, entweder indem es im Blut der sozialen Revolution ertränkt wird, oder als fortschrittliche Offenbarung allmählicher Aufklärung. Malatesta jedoch war kein Vorkämpfer eines beständigen Protestes, wie man nach diesem Zitat annehmen könnte, denn er glaubte, daß eines Tages jene besondere soziale Kraft, die er unterstützte, über alle anderen triumphieren würde. Aber er traf beinahe den Stier ins Auge zu jener Zeit.

Tatsache ist - historisch und gegenwärtig - , daß anarchistische Ideen das Eigentum von nur einer sehr kleinen Zahl von Einzelpersonen sind, die den Anarchismus zu ihrem Interesse machen und ihn als solches verfolgen. Die "schöpferische Kraft" und der "Wunsch nach Freiheit" des Volkes ist so sehr ein beliebter Unsinn und ist das Produkt von Intellektuellen mit schlechtem Gewissen, die ihre sozialen Sünden zu sühnen wünschen. Der wirkliche Arbeiter entspricht niemals dem mythischen Arbeiter, der von revolutionären Theoretikern erträumt wird. Manchmal ist er eine interessierte Einzelperson; öfter jedoch, wenn nicht ein langweiliger Schwätzer, ist er ein Flegel und ein Herdentier. Hierin unterscheidet er sich nicht unbedingt von seinen sogenannten besseren Leuten, außer, daß seine Roheit die Tendenz zeigt, ihn redlicher zu machen. Tatsächlich, all dies Hineinphantasieren revolutionärer Tugend in die Ausgebeuteten, diese feierlichen Ansprachen an sie in kleinst-Leitschriften, die sie niemals lesen, ist nur eine sorgfältig ausgearbeitete Verkleidung für ein Moralsystem, welches festlegt, wie sie sich benehmen sollten, und welches einen vielfarbigen Mantel darüber wirft, wie sie sich verhalten haben, sich jetzt verhalten und verhalten werden - außer natürlich bei der Neuankunft von Jesus Christus, Karl Marx oder Michael Bakunins, einzeln oder zusammen. Das Schlimme ist, daß, was Ihr "Anarchismus" nennt, bestenfalls ein blosser Mischmasch ist, auf halbem Weg gelegen, unsicher aufgehängt zwischen Sozialismus und Anarchismus. Ihr sehnt Euch nach der Souveränität des Ichs, dem befreienden Individualismus, welcher das Wesen des Anarchismus ist, aber Ihr bleibt Gefangene der demokratisch-proletarisch-kollektivistischen Mythen des Sozialismus. Wenn Ihr nicht die Nabelschnur abschneiden könnt, die Euch immer noch mit dem sozialistischen Mutterleib verbindet, werdet Ihr niemals fähig sein, Eure volle Kraft als sich selbst gehörende Einzelpersonen zu erreichen. Ihr werdet immer verlockt werden auf den Weg zu den Limonade-Springbrunnen und Zigaretten Bäumen des großen Zuckerberg-Gebirges.

Leute, wie Ihr, sind angeklagt worden als "Feinde der Gesellschaft". Zweifellos würdet Ihr entrüstet leugnen, das zu sein, und den Anspruch erheben, daß Ihr versucht, die Gesellschaft vor dem Vampir Staat zu retten. Ihr betrügt Euch selbst. Wenn "Gesellschaft" ein organisiertes Kollektiv bedeutet, mit einer Verhaltensgrundnorm, die von allen anerkannt werden muß (und die Eure freiheitlich-kommunistische Utopie einschließt) und wenn diese Norm ein Produkt des Durchschnitts der Menge, der Mittelmäßigkeit ist, dann sind Anarchisten immer die Feinde der Gesellschaft. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß die Interessen der freien Einzelpersonen und die Interessen einer gesellschaftlichen Organisation stets übereinstimmen werden und es ist auch nicht wünschenswert, daß sie dies tun sollten. Ständiger Konflikt zwischen den beiden ist die einzige Aussicht, die mir vernünftig zu sein scheint. Aber ich erwarte, daß Ihr dies nicht sehen wollt, daß Ihr fortfahren werdet zu hoffen, wenn Ihr oft genug wiederholt, "die freie Gesellschaft ist möglich", dann wird es so werden.

Eines Tages jedoch mögen vielleicht einige von Euch begreifen, daß die Welt nicht den Weg geht, von dem Ihr glaubt, daß sie ihn gehen sollte. Ihr werdet dann entweder aufgeben und Euch dem gegenwärtigen Schwindel anschließen, oder aber Ihr werdet die angehäuften Pfeifenträume sowohl davon wie von der sozialen Erlösung aufgeben und Euch selbst, Euer lebendiges Ich, zum Grundprinzip Eures Lebens machen. Ein Anarchist ist jemand, der keine Autorität  aberkennt, nicht einmal die der Anarchie. Vielleicht kann er die Existenz der Herrschaft weder leugnen noch sie zerstören, aber er kann sich weigern, ihre Kreatur zu sein. Er kann sein eigen sein, indem er weder Gott noch einem Menschen gehört, weder der Gesellschaft noch dem Staat. Dies wenigstens habe ich gelernt wahrend dieser zwanzig Jahre.

Originaltext: Zeitgeist Nr. 22, 1973, 15. Jg. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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