Sozialphilosophische Arbeitsgemeinschaft Berlin/Hamburg - Was ist Anarchismus? (1968)

Weltanschauung, Sozialphilosophie oder Bewegung?

Man kann den Anarchismus das gesellschaftliche Phänomen nennen, dem allein der faszinierende Wunsch nach unbegrenzter Freiheit zugrunde liegt. Der Vieldeutigkeit des Begriffes der Freiheit - abstrakt und konkret - entspricht die Vielfalt der anarchistischen Erscheinungen. Daher auch die vielen Mißverständnisse über den Anarchismus, nicht nur von Seiten seiner Gegner. Im folgenden sollen deshalb die drei grundsätzlichen Aspekte des Anarchismus aufgezeigt und in ihrer Bedeutung erläutert werden.

Der Anarchismus bezeichnet sich als "freiheitliche" Weltanschauung, weil er in der "individuellen Freiheit" das Ideal des menschlichen Seins sieht.

Der Name Anarchismus (vom griech. anarchia = Herrschaftslosigkeit), den schon Proudhon verwandte, bestimmt die Art dieser Freiheit als "Handlungsfreiheit", als Freisein von gesellschaftlichem "Zwang". Die Charakterisierung der eigenen Weltanschauung als "libertär" bestätigt diese Auslegung. "Libertas" nannten die Römer die Freiheit des Bürgers im Gegensatz zur Unfreiheit der Sklaven.

Im gleichen Sinne formulierte Bakunin den Freiheitsgedanken: "Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen in ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst sich selbst gegenüber, dann der Gesellschaft, der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zustimmung dazu geben, ihr anzugehören."

Damit ist der erste Aspekt des Anarchismus aufgezeigt: Soweit er seine eigene Auffassung über das Ideal des individuellen Seins vertritt, ist der Anarchismus eine Weltanschauung.

Die Verwirklichung dieser Weltanschauung im gesellschaftlichen Maßstab führt zum Begriff der "herrschaftslosen Gesellschaft". In ihr summiert sich sozusagen das "ideale Sein" des Einzelnen mit dem der anderen zum allseitig anerkannten Gesellschaftsideal. Die sogenannte "anarchistische Idee" formuliert das so: "Die herrschaftslose Gesellschaft ist das Ideal des gesellschaftlichen Seins."

Damit ist der zweite Aspekt des Anarchismus aufgezeigt: Indem er aus der anarchistischen Idee eine eigene Gesellschaftslehre entwickelt, ist der Anarchismus eine Sozialphilosophie.

Es ist indessen einzuräumen, daß der historische Anarchismus seine Ausgangsposition, die anarchistische Idee, zu keiner in sich widerspruchsfreien Gesellschaftslehre entwickeln konnte. Das unzulängliche Wissen seiner Zeit schloß eine wirkliche Synthese der individuellen mit den kollektiven Ansprüchen aus.

Diese wurde erst durch die Theorie des "Pragmatischen Anarchismus" aufgezeigt und begründet. Zur Realisierung sozialer Ideen bedarf es im allgemeinen keiner begründeten Theorien; auch die Anhänger der anarchistischen Idee kamen ohne sie aus. An die Stelle eines wissenschaftlich ausgearbeiteten Gesellschaftsmodells traten idealistische oder ökonomische Programme, die zwar zur Veränderung der jeweiligen Ordnung aber zu keinen allgemeingültigen Lösungen führen konnten.

Durch diese Entwicklung wurde der Anarchismus das, was er bis auf unsere Tage geblieben ist, eine Soziale Bewegung.

Der Anarchismus hat demnach drei Aspekte. Man kann ihn als Weltanschauung, als Sozialphilosophie oder als Soziale Bewegung ansehen.

Obwohl sich diese Aspekte zum Teil überschneiden und einander bedingen, sollte man sich ihrer stets bewußt sein. Man erreicht dadurch eine exakte Problemstellung und eindeutige Aussagen. Das sind unabdingbare Voraussetzungen für die eigene Weiterentwicklung und die Verbreitung des anarchistischen Ideengutes.

Aus: Befreiung. Blätter für anarchistische Weltanschauung, Mülheim/Ruhr, Nr. 7/1968

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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