Torsten Bewernitz - Das Sein verstimmt das Bewusstsein

Soundtrack: Daddy Longleg: „Crime“

„we never said we know a simple way
we never said that everything's okay
so fuckin governments shut up
so goddamn know-it-alls piss off

who the fuck knows what's going on
who brings the food, the streets, the goods
we are the workers, we know what's going on
we should know how to organize!”

(von „Barricadas”, Falling Down Records 2007)

Um kaum einen Begriff ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien, Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome – unisono heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse notwendig.

Insbesondere unter Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von ‚Bewusstsein’ definiert den Begriff als ‚politisch’. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als ‚nationales Bewusstsein’ artikuliert.

Für Intellektuelle und Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von ‚Bewusstsein’ zu verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass unsere ‚Politik’ für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.

Daran ist weniger falsch, als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln, würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das Bewusstsein der Intellektuellen.

Allein: Vorträge etwa über die ‚Globalisierung’, Bewegungen am anderen Ende der Welt oder Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben, das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben: Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein Buch über ‚Globalisierung’ lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf mein Leben hat. Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben. Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die ReferentIn den anderen Anwesenden ein ‚falsches Bewusstsein’ vermitteln könnte.

Das setzt voraus, dass wir unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen, dann halten wir das für („notwendig falsches“) Bewusstsein. Unser Sein als Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen bestimmt.

Vielleicht aber haben unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett, hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht, Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke Ideologie.

Das zeigt den Fehler an der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.

Das ist schlichtweg arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben (das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen- Wissen Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht- Studis oder Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.

Die ‚linken’ Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen wollte, ‚um Dinge umzusetzen’. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee –und die kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte. Darüber hinaus vermuten ‚linke Intellektuelle’, alle würden deswegen studieren, sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle. Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte – Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision ‚Hartz IV kriegen oder Superstar werden’ ist?

Jener Hauptschülerin, die irgendwann einmal auf einem Privatsender auftauchte, wird das Bewusstsein abgesprochen, dass der autonome Kommunenbewohner in Scheinselbständigkeit haben soll. Sie basht Intellektuelle, argumentiert populistisch und wird vielleicht ‚rechts’. Hat sie deswegen weniger Bewusstsein? Nein!

Wie viele ökonomische – und auf die kommt es an – linke Projekte scheitern genau daran? Weil Leute erst gar nicht mitmachen, weil der Scherbenhaufen ein Desaster nicht nur für eine Person, sondern für ein reales, ökonomisches Kollektiv – sei es eine Familie oder eine Kommune - ein Desaster darstellen könnte? Nicht umsonst betont z.B. die Streikforschung, dass über einen Streik nicht auf der Betriebsversammlung, sondern am Küchentisch entschieden wird, weil von einem ausbleibenden Lohn oder einer Entlassung nicht nur eine Person betroffen ist. Junge Linke, die vielleicht noch andere Finanzierungsquellen haben – sei es, dass sie immer wieder einen neuen Job finden oder aber Mama und Papa in der Hinterhand haben – spüren diese Bedrohung nicht dermaßen: Und darum ist die moderne Linke ein Jugendphänomen. Linke ökonomische Projekte scheitern oft genau an diesen verschiedenen Ansprüchen: Sobald eine ökonomisch attraktivere Lösung in Griffweite ist, ist das kollektive ökonomische Projekt von gestern: Man ist ja nicht weg, sondern immer noch in der Antifa, bei dem Anti-Atom- oder Kriegstreffen oder im Theoriezirkel und konstatiert dann am besten noch ein mangelndes Bewusstsein derjenigen, die dort nicht sind. Man ist enttäuscht von den GenossInnen, die bei der letzten Hausbesetzung oder Demo nicht dabei waren. Vielleicht waren sie ja arbeiten um sich oder ein Kollektiv zu ernähren? Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Deswegen muss die Frage erlaubt sein: Wie gehen die, die studiert haben, sich mit Theorie beschäftigen und eine ‚politische’ Alltagspraxis haben, mit denen um, die all das nicht haben? Sind das ‚Spießer’? Oder - noch schlimmer – ‚Prolls’? Mit denen man sich gar nicht auseinandersetzt? Die in der U-Bahn einfach nur nerven? Die andere Musik (Schlager) hören und Fußball besser als Yoga finden? Befinden wir uns in einer ‚linken Szene’, die prima miteinander klarkommt, weil da ja alle das richtige ‚politische’ Bewusstsein haben? Schmeißen wir Leute mit einer Deutschlandfahne auf dem Parker oder nach einem frauenfeindlichen Witz sofort aus dem autonomen Zentrum, damit wir nicht noch einmal Diskussionen führen müssen, über die wir doch schon vor 10 Jahren einen Konsens erreicht haben? Oder ganz polemisch: Haben wir unser gemütliches Plätzchen im Kapitalismus gefunden, in einer Wagenburg, einer Kommune oder einem besetzten Haus? Das alles sind Sachen, die ich durchaus gut finde, zu denen ich hin gehe, weil auch ich gerne Punk höre, mich mit Theorie auseinandersetze und auch glücklich bin, wenn ich nicht – wie am Arbeitsplatz – nach einer Kindesmisshandlung den nächsten Ruf nach der Todesstrafe hören muss oder rassistische Türkenwitze vor einem Fußballspiel. Aber das ist nicht das wahre Leben und oft langweilig. An dem Punkt wünsche ich manchmal, ich würde mich für Fußball interessieren und nicht nur für meine Arbeitsbedingungen.

Ein schönes Beispiel für das Missverständnis zwischen politischem und ökonomischem Bewusstsein sind die Studierendenproteste gegen die Erhebung von Studiengebühren: Die GegnerInnen von Studiengebühren argumentieren, dass alle Studierenden gegen Studiengebühren sein müssten, weil dadurch weniger Bildung für viele erhältlich sei. Das soll auch für Konzernbesitzertöchter und Politikersöhne gelten. Wenn diese nicht gegen Studiengebühren seien, sei das falsches Bewusstsein.

Das ist schlichtweg falsch. Das Kind des reichen Unternehmers hat ein immenses Bewusstsein davon, dass es selber keinen Schaden durch Studiengebühren hat, vielleicht sogar einen Nutzen, wenn weniger Arbeiterkinder studieren und die Lehrenden dadurch mehr Zeit für ihn oder sie. Notwendig falsch ist sein oder ihr Bewusstsein höchstens in dem Sinne, dass das Unternehmerkind automatisch davon ausgeht, später eine gehobene Position einzunehmen und keine ökonomischen Probleme zu haben. Hintergrund ist aber nicht, dass ihnen niemand erklärt hat, dass sie jederzeit plötzlich ArbeitnehmerInnen werden können, sondern, dass sie diese Erfahrung nie gemacht haben. Ihr Bewusstsein ist ihrer aktuellen Situation durchaus angemessen.

Ein ganz anderes Beispiel: Stellen wir uns eine Ärztin vor, die aufgrund massiver geschlechtlicher Diskriminierung entscheidet, ihren Job in einer Klinik aufzugeben und sich selbstständig zu machen, um nicht weiter vom mangelnden Wohlwollen alter männlicher Chefärzte abhängig zu sein, die der Meinung sind, das Frauen nicht operieren können. Sie kommt aus besserem Hause, hat 1968 studiert, setzt sich für Minderheiten ein und liest Marx und Sartre. Mit der neuen eigenen Praxis sieht sie sich der Situation ausgesetzt, Büro- und Reinigungskräfte einzustellen. Diese erwarten einen gewissen Lohn, Urlaub etc., keineswegs bahnbrechende Forderungen, sondern die arbeitsrechtlich garantierten Mindeststandards. Dennoch fühlt sich die Ärztin nach einer gewissen Zeit über den Tisch gezogen, entwickelt eine entsprechende Aversion gegen Gewerkschaften und Parteien, die Gewerkschaftsforderungen unterstützen. Sie hatte guten Grund, selbstständig zu werden, spendet jährlich an Greenpeace oder amnesty international. Obwohl sie diese Praxen weiterhin beibehält, entwickelt sie ein Bewusstsein dafür, dass sie ihre Angestellten ausbeuten muss. Sie entwickelt ein Klassenbewusstein – und zwar das für sie durchaus richtige. Kein Grund, sie zu verachten, denn ihre Handlungsmotivationen sind vollkommen nachvollziehbar.

Sie hat sich bei aller Sympathie für Befreiungsbewegungen und bei aller Empathie für soziale Gerechtigkeit durch ihr Leben und ihr Studium einen gewissen Lifestyle angeeignet (den Bourdieuschen Habitus), den sie nicht missen möchte und über den sie nicht hinaus denken kann. Darüber hinaus hat sie vielleicht Familie, die mit ernährt werden muss. Sie ist vielleicht mit den Ansprüchen in ihre Selbständigkeit hinein gegangen, eine Gemeinschaftspraxis mit egalitärer Bezahlung zu gründen. Es hat aber nicht gereicht, erstens, legitimer Weise, nicht für die Familie und zweitens, nicht so legitim, weil sie ihren Lebensstil nicht ändern wollte – zum Teil aber auch, folgt man dem Bourdieuschen Habitus-Begriff, weil sie nicht konnte. Ein kollektives Projekt, das so unsicher ist, dass es nach einigen Jahren scheitern könnte, kam gar nicht erst in Frage, denn das hätte das familiäre Kollektiv gefährdet. Ihre Klasseninteressen haben sich massiv verändert, und das war ökonomisch auch nicht anders möglich. Trotz dieses Verständnisses muss ich aber als Putzkraft in der selben Praxis gegen sie intervenieren, wenn ich auch nur einen Funken Bewusstsein habe.

Einige der ReferentInnen und BesucherInnen linker Veranstaltungen und LeserInnen linker Bücher und Zeitschriften werden sich genau so entwickeln wie in diesem fiktiven Beispiel. Das Wissen aus den Veranstaltungen und Büchern steht ihnen nach wie vor zur Verfügung, ebenso das T-Shirt mit dem roten Stern, das Palästinenser- Tuch, der Kapuzenpulli und die anderen Symbole vermeintlich ‚linken’ Bewusstseins. Am notwendigen Verhalten ändern diese Symbole gar nichts. Falsches Bewusstsein haben sie dann, wenn sie trotz ihrer ökonomischen Position weiterhin jeder Lohn- und Urlaubsforderung nachgeben, weil sie sie politisch richtig finden. Dann würden sie so falsch liegen wie Studierende, die für einen Minimallohn in der Kneipe schuften und ihren Urlaubsanspruch vergessen. Nach dem Studium wird sich womöglich. herausstellen, dass die einstmals Liberalen prima ArbeitsrechtlerInnen sind und die Linken vorbildliche Ausbeuter werden. Ob sie jemals Marx oder Friedman gelesen haben oder auch nur eine einzige linke Info-Veranstaltung besucht haben, ob sie während des Studiums klassische Musik oder Punkrock gehört haben, hat darauf keinen Einfluss.

Bewusstsein heißt eben nicht, zu wissen, was diese oder jene TheoretikerInnen mal gesagt haben oder wie die Weltwirtschaft funktioniert. Bewusstsein heißt, die eigene Lage zu erkennen und beurteilen zu können. Was sich heute Politik oder politisches Engagement schimpft, hat damit selten etwas zu tun. Im besten Falle wird sich der liberale Student einer Gewerkschaft anschließen und die linke Ärztin einem Arbeitgeberverband, um die entsprechenden Interessen besser durchsetzen zu können. In diesem Moment ist aus der Klasse an sich die Klasse für sich geworden. Es bestimmt eben nicht der/die (ideologische) TheoretikerIn das Bewusstsein, sondern allein das Sein, die blanken Rahmenbedingungen der eigenen Existenz. Wenn ökonomisch relevante Argumente mein Handeln motivieren, habe ich vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber kein falsches Bewusstsein. Von jenen, die dieses Bewusstein haben, ein anderes Handeln einzufordern – und das ist das Geschäft linker Politik – kann keinen Erfolg haben. Wir sind auf uns selber gestellt. Notwendig ist nicht ein weiterer Vortrag, sondern ein Erfahrungsaustausch, damit wir nicht alleine da stehen.

Die Hauptschülerin, die Ärztin und der arbeitende Familienvater waren eben doch begrenzt determiniert. Menschen sind nicht frei in der Gesellschaft des Kapitalismus und es ist absolut nicht sozialistisch oder anarchistisch, das zu behaupten: Wenn dem so wäre, bräuchte es kein Engagement für einen Anarchismus. Keine Entscheidung ist undeterminiert – das zu behaupten, ist letztendlich Ideologie. Menschen, die entsprechend anders entscheiden, diese Entscheidungen vorzuwerfen, ist autoritär. Die Existenz einer solchen Freiheit vorauszusetzen, würde erstens bedeuten, dass der Neoliberalismus mit seinem Diktum ‚Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied’ recht hätte: Wenn ich leide, bin ich selber Schuld. Ich alleine kann das ja ändern. Zweitens verkennt es vollkommen die Struktur des Kapitalismus (der klassische Fehler des Anarchismus), wenn der Mensch so frei wäre, ist seine Rolle im Kapitalismus seine freie Entscheidung: Ich werde wie die zitierte Hartz IV-Hauptschülerin ALG II-Empfänger – wie es die US-amerikanischen ‚Freegans’, die sich für AnarchistInnen halten, ausdrücken: „Wer arm ist und darunter leidet, ist selber Schuld" – oder aber erfolgreicher Selbständiger: Dass das nicht funktioniert, merkt jedeR Arbeitslose sehr schnell. Wer nicht nur mit linken AnarchistInnen rumhängt, sondern auch mit (Schein-)Selbstständigen, Angestellten extrem kapitalistischer Firmen und Arbeitslosen, die nie studiert haben, merkt schnell, dass diese alle nie frei entschieden haben: Der Wunsch nach Freiheit und die philosophische Diagnose, der Mensch sei frei in seinen Entscheidungen, sind etwas sehr Unterschiedliches. Und nur den Wunsch braucht es, um Anarchist zu sein. Die Diagnose, es sei schon so, teilen die Ideologen des Neoliberalismus.

Aus der Erkenntnis, dass das ‚Sein’ nicht zu Erkennen ist, zu schließen, dass es nicht existiere, ist genau so fehlerhaft wie zu behaupten, es sei auf eine bestimmte Weise. Diese Version von Freiheit wird zu einem egomanen Individualismus und dieser ist ein Hauptproblem heutiger anarchistischer PraktikerInnen.

Das Rezept, das ich dagegen setze, ist der Austausch von Erfahrungen in einem ökonomischen Sinne. Diese entstehen nicht in einem wissenschaftlichen Theorieaustausch, sondern in einem Austausch der ökonomischen Abhängigkeiten und einer gemeinsamen Wehrhaftigkeit. In einer halbwegs egalitären Gesellschaft determinieren uns Dein, mein, Annas und Peters Bewusstsein und nicht nur das meine –woher um Himmels Willen soll das kommen? Aus Büchern? Das eigene ‚Bewusstsein’, das schon mal gar keines ist, wenn es einzig und allein meines ist, weil es dann partikular ist, erschient arg beliebig. Es ist dem populistischen Begriff der ‚Anarchie’ als Chaos und Terror nicht besonders fern. Eine heutige Freiheit des einzelnen Menschen zu konstatieren, ist nicht Grundannahme jeder anarchistischen Theorie und Praxis, es ist das Gegenteil: Es ist von hinten bis vorne Neoliberalismus.

Solidarität entsteht nicht durch das Lesen von Büchern oder dem Hören von Musik. Das ist bestenfalls Mitleid. Wir können uns weder mit einem ‚israelischen’ noch einem ‚palästinensischen’ Volk noch mit einer indigenen Bewegung in Chiapas solidarisch erklären, weil Voraussetzung jeder Solidarität das Nachvollziehen der Ausbeutung anhand der eigenen Verhältnisse ist. Um uns mit Israel oder Palästina solidarisch zu erklären, müssten wir uns national definieren und entweder eine entsprechende Schuld oder eine entsprechende Situation erkennen. Allerdings können wir Ähnlichkeiten in staatlicher Repression und ökonomischer Ausbeutung erkennen, wenn wir mit den Menschen reden, und dort auch entsprechend solidarisch sein. Das ist das Faszinierende z.B. an der EZLN: Sie erzählen und machen Erfahrungen begreif- und vergleichbar. Die Ausbeutung in der Maquiladora mag intensiver sein als die im deutschen CallCenter: Nach einem Austausch erkenne ich gemeinsame Strukturen. Erst so kann ich solidarisch handeln. Für alles andere könnten wir auch in die Kirche gehen. Wenn Buch und Musik das Kriterium für Bewusstsein wären, dann täte es auch Die Bibel und der Choral – und dann täte es auch ‚Mein Kampf’ und Rammstein. Es ist klar, das so etwas fatal ist. Niemand bekommt von mir auch nur einen Hauch von Solidarität, weil er Bakunin liest und Slime hört.

Das Sein bestimmt (und verstimmt) das Bewusstsein. Etwas marxistische Theorie täte dem Anarchismus auch in diesem Punkt ganz gut.

Originaltext: http://www.grundrisse.net/grundrisse29/verstimmt_das_Bewusstsein.htm


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