Fragmente zum Postanarchismus & seiner Kritik

I) Allgemeines zum Postanarchismus und dessen Identität mit dem klassischen Anarchismus

Wie Jürgen Mümken erläutert, werden „seit etwa 2001/02 [...] [in den internationalen anarchisti-schen Diskussion; M.] die verschiedenen theoretischen Auseinandersetzungen unter dem Begriff ‚Postanarchismus’ zusammengefasst.“ (Mümken, in Mümken [Hg.] 2005: 11) Die Identität mit dem klassischen Anarchismus besteht in der Zielsetzung, nur einige der Begründungen für diese [sic!] sol-len zeitgemäß angepasst werden1: „Das Präfix ‚Post’ steht für eine Infragestellung und Verwer-fung von einigen Grundannahmen des klassischen Anarchismus, nicht für die Aufgabe anarchisti-scher Ziele. Der Postanarchismus hält am Ziel einer klassen- und staatenlosen Gesellschaft fest, nur so macht der Begriff einen Sinn.“ (Mümken, in Mümken [Hg.] 2005: 20). Damit ist dann aber auch gesagt, dass der Anarchismus seine Ziele als Ideal formuliert und die bestehende Gesellschaft daran bloß blamiert … die Kritik an dieser Gesellschaft ist dem folglich nachgeordnet, wenn einfach nur nach neuen Begründungen für die Abweichung vom Ideal der Anarchisten gesucht wird. Das Ideal, an der sie (die Postanarchisten) die bestehende Gesellschaft (und alles andere blamieren), ist folglich auch immer noch „die Freiheit“: „Die Freiheit des Menschen innerhalb einer freien Ge-sellschaft ist das Ziel aller AnarchistInnen, mögen ihre Vorstellungen davon und ihre Wege dahin auch unterschiedlich sein.“ (Mümken 2003: 7)

II) Differenzen zum klassischen Anarchismus

1. Befreiung des Menschen?

Dass der klassischen Anarchismus ‚den Menschen’ (vom Staat) befreien will, scheint dem Post-anarchismus fragwürdig, angesichts des foucaultschen Diktums [Autoritätsargument!], dass „der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, [..] bereits in sich das Re-sultat einer Unterwerfung [ist], die viel tiefer ist als er“ (zit. nach Mümken, in Mümken [Hg.] 2005: 11). Insofern käme das Menschenbild des klassischen Anarchismus (der Mensch ist von Natur aus gut und wird vom Staat behindert und verdorben) nicht hin, weil der Mensch größtenteils auch ge-sellschaftlich geformt wird (Mümken, in Mümken [Hg.] 2005: 17) [Also wird höchstens ein anderes Menschenbild vertreten ...]. Folglich muss laut Foucault, was von den Postanarchisten geteilt wird, das Individuum nicht nur vom Staat befreit werden, sondern „auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist [...].“ (zit. nach Mümken 2003: 9). Die Individuen werden also, so die Vorstellung, von der Gesellschaft zu ihr passend gemacht und sie machen sich auch selbst zu ihr passend (Anpassung)2. Darin wird dann auch der Grund gesehen, dass die Individuen trotz [sic!] ihres [ihnen unterstellten] Wunsches nach Freiheit sich freiwillig der Herrschaft unterwerfen. Die Leute geben sich, so der Postanarchismus, „der Illusion der Freiheit“ hin, weil sie sich nicht als (auch von ihnen selbst) herrschaftsförmig gemacht begreifen; ihre dadurch entstehenden herr-schaftsdurchzogenen Wünsche halten sie für ihren freien Willen, weswegen sie nicht die völlige Freiheit des Anarchismus, sondern die „freiwillige Knechtschaft“3 wählen, die ihnen als Möglich-keit der Betätigung ihres freien Willens erscheint. „Die Individuen wollen, was sie sollen und halten dies für Freiheit und ihre unterwerfende Subjektivierung für Individualität.“ (Mümken 2003: 276)

Auch wenn es nicht ausgesprochen wird, liegt dem in letzter Instanz ein „Das-Sein-bestimmt-das-Bewusstsein“-Determinismus zu Grunde, nachdem jede Gesellschaft die zu ihr passenden Mitglieder hervorbringt. Dementsprechend muss theorieimmanent, um das Ziel der Freiheit zu erreichen, auch ein anderes „Sein“ geschaffen werden – sowohl von der gesellschaftlichen Voraussetzung her, als auch vom gesellschaftlichen Umgang miteinander. Weil der Mensch nach wie vor herrschaftsför-mig konstituiert wäre, garantiert eine Befreiung von Herrschaftsformen noch nicht die Verwirklichung [des Ideal der] Freiheit; für diese sind vielmehr „freiheitliche Praxen“ [was hier genauso inhaltsleer ist, wie „die Freiheit“, welche sie schaffen sollen4, s.u.] in den von Herrschaft befreiten Räumen nötig, um die herrschaftsförmig geprägte Individualität und Subjektivität zu überwinden (Mümken 2003: 9) Fragt sich nur, wer überhaupt Herrschaft abschaffen soll, wenn doch alle Gesell-schaftsmitglieder haargenau zu dieser passend (gemacht worden) sind … und wieso dann über-haupt irgendwer alternative „Praxen der Freiheit“ einüben soll, wenn doch alle ihren angeblichen Wunsch nach Freiheit hier perfekt verwirklicht sehen … oder wieso ausgerechnet herrschaftsförmige Subjekte ihre herrschaftsförmige Subjektkonstitution überwinden wollen sollten. Anders herum: Wenn man entgegen der gesellschaftlichen Prägung doch zu einer Kritik an ihr und folglich auch zum Wunsch nach einer anderen kommen kann – mindestens Mümken scheint dies ja zu können -, wie-so soll man diese erst groß einüben müssen? Die behauptete große Differenz zum traditionellen A-narchismus stellt das stellt das übrigens auch nicht dar, wenn jetzt nur das ‚eigentliche’, ‚unverdor-bene’ Individuum, statt ‚der Mensch’, wie er jetzt ist, befreit werden soll (von einem letztlich positi-ven Menschenbild kommt nämlich auch der Postanarchismus, anders als von Mümken suggiert, nicht los!) – den Gedanken, dass der ‚an sich gute Mensch’ von der Herrschaft ‚verdorben’ ist und diese ‚Verderbnis’ seiner erst wieder loswerden muss, kennt nämlich auch der traditionelle Anarchismus (vgl. z.B. FAU-IAA: A 4.5, A 5.1, B, C 2.2, C 2.4)

2. Befreiung der Gesellschaft?

Auch die die andere vom traditionellen Anarchismus vorgenommene Trennung in Gesellschaft = gut und Staat = böse („Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ – Erich Mühsam) macht der Postanarchismus nicht mehr mit. Während jedoch bei der Frage nach der Befreiung „des Men-schen“ immerhin noch versucht wird, aus den zur Begründung herangezogenen Autoritäten ein paar Argumentansätze zu ziehen, landen Mümken & Co. hier beim puren Aufmotzen der anarchis-tischen Theorie mit Jargon aus der Regulationstheorie, ohne auch nur den Hauch einer Begründung für Aussagen, wie etwa, dass der Staat (immerhin das Gewaltmonopol) keine „autonome Organisa-tion“ mit eigener Autorität sei, sondern „[…] die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses, und dieses wird durch die Gesamtheit seiner Apparate verkörpert, dabei handelt es sich sowohl um repressive, als auch um ideologische Staatsapparate. […] Die jeweiligen historischen Formationen der kapitalistischen Staaten sind das Ergebnis von sozialen Kämpfen und den ihnen innewohnenden Kräfteverhältnissen und Widersprüchen.“ (Mümken, in Mümken 2005: 49), zu bringen. Wenn der-art die linke Konkurrenz um die angesagteste Phraseologie mitgemacht wird, ist es auch nicht wei-ter verwunderlich, dass letztendlich nur leere Theorieblasen, statt Erkenntnisse herauskommen, wie etwa die folgende: „Der Staat ist in der staatlichen Gesellschaft nicht als äußere, auf diese einwir-kende Institution zu verstehen, sondern als Teil der inneren Strukturierung der Gesellschaft.“ (Mümken 2003: 172) Nicht nur, dass auch hier wieder kein einziges Argument für die Behauptung gebracht wird, es wird auch schlicht und einfach erst der Staat in die Gesellschaft hineinverdoppelt („staatliche Gesellschaft“), um ihn dann als aus ihr entspringend zu bezeichnen. Man könnte sich ja auch mal fragen, wie die Gesellschaft ohne Staat überhaupt eine „staatliche“ sein könnte und was man überhaupt über eine Gesellschaft weiß, wenn man gesagt bekommt, dass sie eine staatliche ist. Warum der Staat für sie notwendig ist, erklärt das jedenfalls nicht. Auch die letzte Aussage von Mümken zu diesem Thema ist ob der vorangegangen wenig sinnvoll. Wenn er behauptet, dass die „Gesellschaft erst durch Individuen und ihre soziale Beziehungen und Praxen konstituiert [wird]; dieser Prozess muss nicht freiwillig sein.“ (Mümken 2003: 172), weshalb Gesellschaft nicht immer gut/ anarchistisch sein muss, macht er im Resultat zwar einen richtigen Punkt gegen den klassischen Anarchismus, jedoch ist seine Herleitung dafür in sich widersprüchlich. Denn wenn die Gesellschaft nur eine von den Individuen gemachte ist, wer sorgt denn dann überhaupt dafür, dass sie das un-freiwillig machen5? Der Staat ja wohl nicht, wenn er angeblich nur das Resultat dieser von den Indi-viduen geschaffenen Gesellschaft ist …

Für die Praxis zieht Mümken daraus zunächst einmal den Schluss, dass es nicht um „die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ (Mühsam) gehen könne, sondern die „staatliche Gesellschaft“, und mit ihr dann auch der Staat abgeschafft werden müssen (Mümken 2003: 172). Da es kein Außerhalb des Staates gäbe, müsse man als Teil der ihn formenden „Kräfteverhältnisse“ auf sein Absterben hin-wirken (Mümken, in Mümken 2005: 16). Hierin unterscheidet sich der Postanarchismus also tat-sächlich vom klassischen. Während letzterer den Staat abschaffen wollte, weil die an sich guten Menschen ohne die Einschränkung ihrer Freiheit durch den Staat (Riddick: V) auch eine gute, herr-schaftsfreie Gesellschaft aufbauen würden6, will der Postanarchismus umgekehrt die „staatliche Gesellschaft“ beseitigen, um den Staat loszuwerden. Weil er die Gesellschaft als von den Individu-en konstituierte annimmt, muss das durch die Änderung der Individuen erreicht werden (s. II.1). Des Weiteren wird vom Postanarchismus betont, dass – weil der Staat als „Kräfteverhältnis“ ja nur als Ausdruck von Herrschaft zu verstehen sei -, dass, anders als dies im traditionellen Anarchismus anklingt, sein Ende nicht automatisch das Ende von Herrschaft und Ausbeutung bedeute, sondern z.B. auch ein Bandenwesen hervorbringen könne. (Post-)Anarchisten müssten daher jede Form von Herrschaft bekämpfen, sowie die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft haben7 und diese durchsetzen (Mümken, in Mümken 2005: 50 f.). Freilich haben auch traditionelle Anarchisten längst die Fahndung nach „jeglicher Herrschaft“ aufgenommen, unter die für sie begriffslos alles Mögliche fällt (vgl. z.B. FAU-IAA: A 1-3, A 4.5, C1).

3. Steigerung des Freiheitsidealismus

Wie aus den bisher Ausgeführten ersichtlich, teilen die Postanarchisten nicht einfach nur den Höchstwert Freiheit und idealisieren ihn – auf Kosten jeglichen Inhalts (Riddick: VI – IX)- soweit, dass sie ihn gegen die kapitalistische Gesellschaft und gegen den bürgerlichen Staat, welcher die reale Freiheit aufherrscht, wenden, wie dies die klassischen Anarchisten machen, sondern sie gehen mit der Idealisierung der Freiheit noch einen Schritt weiter als diese. Wie schon unter II.1 ausgeführt, ist für sie Freiheit das (uns) schlechthin unvorstellbare, was erst noch zu schaffen ist. Das zeigt sich auch darin, dass Mümken, anders als die traditionellen Anarchisten, keine Utopie entwirft (was an sich auch durchaus vernünftig ist), weil die freie Gesellschaft den der Herrschaft angepassten Subjekten ohnehin unvorstellbar sein muss: „Wie solche, wirklich freie Individuen dann mit ihrer vollständigen Freiheit ihre freiheitliche Gesellschaft gestalten, das alleine ist ihre Freiheit.“ (Degen, zit. nach Mümken 2003: 11). Egal also, wie diese Gesellschaft aussieht … Hauptsache, sie ist frei (wobei man „Freiheit“ noch nicht einmal definieren kann und/oder will). Umgekehrt ist es auch deren ganze Kritik an dem Laden hier – und hier schließt sich der Kreis zu I. -, dass er mangels nicht einmal definierter „Freiheit“ nicht dieser unvorstellbaren freien Gesellschaft entspricht … noch beliebiger geht es ja wohl nicht.

von MPunkt

Fußnoten:
1.) Die Textteile in dieser Schriftart stellen nicht die Inhaltswiedergabe der Bücher, sondern meine Kommentierung ihrer dar.
2.) Zu Grunde liegt dem die Vorstellung, dass das Subjekt nichts Festes ist, sondern es permanent gemacht wird und sich selbst macht (Mümken, in Mümken [Hg.] 2005: 15).
3.) Dies gewinnt v.a. im Kapitalismus an Relevanz. Dies insofern, weil er laut Mümken eine abstrakte und unpersönliche Herrschaft des Kapitals sei, und Freiheit daher nicht mehr gegen Herrschende, sondern gegen herrschaftsförmige gesell-schaftliche Verhältnisse erkämpft werden muss – und damit auch gegen die Subjekte, welche als eben solche diese tragen [Nur von wem dann?, s.u.]; also gegen ihre Subjektkonstitution (Mümken 2003: 275).
4.) Zumal – und da wird es vollends zirkulär – zur Verwirklichung der Freiheit erst „Praxiken der Freiheit erfunden und gefun-den werden müssen, damit die Freiheit auch praktiziert werden kann“. Nur wenn man (s.u.) gar nicht sagen kann, was Freiheit überhaupt sein soll, wie soll man dann wissen, was eine „Praxis der Freiheit“ ist?
5.) Hinzu kommt, dass „freiwillig“ ja auch noch kein Argument für die inhaltliche Tauglichkeit einer Sache ist. Man kann auch den größten Blödsinn freiwillig machen, z.B. sich im Kriegsfall zur Armee zu melden und begeistert für sein Vaterland sterben.
6.) Einfach eine kapitalistische Gesellschaft ohne Staat wollten die meistens nämlich auch nicht, was man zwar oft nur sehr bedingt ihrer Kritik, dafür aber umso mehr ihrer Utopie entnehmen kann (vgl. z.B. FAU-IAA: B). Insofern ist es auch nicht deren Inhalt, dass jede Gesellschaft per se eine gute (= ihnen genehme) ist. So groß ist der Unterschied, den die Postanarchisten da aufmachen, dann also auch wieder nicht, was ihn freilich nicht durchstreichen soll.
7.) Wobei damit über diese Gesellschaft auch eben nicht mehr ausgesagt sein soll, als dass sie gefälligst herrschaftsfrei zu sein hat (s.u.).

Literatur:

  • FAU-IAA: Prinzipienerklärung, online unter: http://www.fau.org/artikel/pdf/prinzipienerklaerung_2003.pdf/
  • Mümken, Jürgen: Freiheit, Individualität und Subjektivität; Frankfurt a.M., 2003
  • Mümken, Jürgen (Hg.): Anarchismus in der Postmoderne
  • Riddick, Richard B.: Fragmente zur Anarchismuskritik, online unter: http://kf.x-berg.de/forum/thread.php?threadid=371&hilight=fragmente+anarchismuskritik


Originaltext: http://www.postanarchismus.net/pdf/fragemente_zum_postanarchismus_und_seine_kritik.pdf


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