Freiheit, Individualität und Subjektivität - Staat und Subjekt in der Postmoderne aus anarchistischer Perspektive (Buchbesprechung)

Jürgen Mümken geht in diesem Buch den von Gilles Deleuze und Félix Guattari gestellten Fragen nach: "Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Warum ertragen sie seit Jahrhunderten Ausbeutung, Erniedrigungen, Sklaverei, und zwar in einer Weise, dass sie solches nicht nur für die anderen wollen, sondern auch für sich selbst?"

Wer in diesem Buch nach Antworten sucht, kann lange suchen. Mümken will keine vorgefertigten Lösungen liefern, sondern die LeserInnen einladen sich mit verschiedenen Theorieansätzen zum Thema "Staat" und "Subjekt" auseinander zu setzen, um so Denkanstösse für die Auseinandersetzung mit der von Deleuze und Guattari gestellten Frage zu geben. Ihm geht es hier nicht um die Formulierung einer geschlossen totalisierenden Theorie, "sondern um Formen des 'anarch(ist)ischen Denkens', das Vorhandenes als Werkzeug benutzt, um dadurch Denkräume zu eröffnen (10)."

Mümken versteht dies ganz im Sinne Foucaults, der seine Bücher als Werkzeugkisten ansieht, indem Leute sie aufmachen können, um Sätze, Ideen oder Analysen als Schraubenzieher zu verwenden und um so die Machtsysteme kurz zu schließen, zu demontieren oder zu sprengen.

Um dies zu erreichen, stellt Mümken verschiedene Diskurse dar (Strukturalismus, Postrukturalismus, Dekonstruktivismus etc.) und zeigt anarchistische Anschlüsse an diese Diskurse auf, stellt Aspekte der anarchistischen Staatskritik (Stirner, Bakunin, Kropotkin, Rocker) und der marxistischen Staatskritik (Marx, Althusser, Poulantzas, Hirsch) dar, geht auf die Genealogie des modernen Staates von Foucault ein, um aufzuzeigen, wie das Verhalten von Menschen durch den Staat, bzw. durch Macht, Herrschaft, Denkformen, Techniken und Praktiken strukturiert werden kann.

Im Zentrum der Auseinandersetzung um das Subjekt und dessen Subjektivierung stehen feministische Theorien (Gender, Post-Gender, Anarchafeminismus). Aber auch der "Einzige" von Max Stirner kommt zum Zuge als Kritik bürgerlicher Subjektvorstellung und als Mittel sich selbst zu konstituieren. Diese Ansätze bilden die praktische Kritik um die Identitätspolitiken der Postmoderne zu durchschauen.

In Zeiten der kapitalistischen Globalisierung oder der Postmoderne sind neue Analyseinstrumente erforderlich, welche die kapitalistische Vergesellschaftung, das Kapitalverhältnis und die damit einhergehenden Strukturen problematisieren und die den Blick darauf richten, wie Herrschaftsverhältnisse durch das eigene Handeln tagtäglich reproduziert werden, bzw. radikal in Frage gestellt werden können.

Für Mümken versagen die klassischen Instrumente der Herrschaftskritik in der gegenwärtigen Gesellschaft, denn "jede Epoche bringt ihre eigenen Herrschaftstechnologien hervor, so dass wir auch immer wieder neue Instrumente der Analyse brauchen (275)."

Mümkens Buch ist eine Aufforderung an alle alte Grabenkämpfe sein zu lassen und sich auch bei "nicht-anarchistischen" DenkerInnen die "geeigneten Werkzeuge für unsere Ziele (10)" auszuleihen, um sie dann destruktiv gegen die bestehenden Verhältnisse einzusetzen. Mümken, der ein profunder Kenner des Denkens des französischen Philosophen Michel Foucault ist, gibt mit diesem Buch nicht nur einen detaillierten Einblick in dessen Gedankenwelt, sondern liefert gleichzeitig einen umfassenden Einblick in verschiedene Theorien, ohne dabei den Blick auf das Thema zu verlieren. Personenregister und das gut erarbeitete Inhaltsverzeichnis ermöglicht das Buch auch als eine Art kommentiertes Theorielexikon zu benutzen. Dieses Buch ist m.E. ein wichtiger Beitrag um die anarchistische Theorie und somit auch die anarchistische Praxis weiterzuentwickeln.

Rezension von Stefan Paulus

Jürgen Mümken: Freiheit, Individualität und Subjektivität - Staat und Subjekt in der Postmoderne aus anarchistischer Perspektive, Verlag Edition AV, S. 302

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 282 (Oktober 2003)

Originaltext: www.graswurzel.net


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