Anarchismus als Organisationsform

(M)Eine Sicht auf Anarchismus als Organisationsform in der Auseinandersetzung mit einem Text von Colin Ward (1966: Anarchism as a Theory of Organisation)

Anarchistische Organisationsweisen stellen sich als Inseln im Meer dar, wenn sie als hierarchiefreie und selbstverantwortliche Prozesse verstanden werden. Das liegt zum Ersten daran, dass der Begriff des Anarchismus im Alltagsverständnis, vor allem in den Medien, nur für Situationen des Kontrollverlusts angewendet wird. Nur wenn hierarchische oder gar absolutistische Systeme zusammengebrochen sind oder aktiv zerstört wurden, wird dieses Wort von den Chefredaktionen geduldet. Ein Machtvakuum ist aber nie ein stabiler Zustand. Anarchismus als Gesellschaftstheorie kann daher gar nicht in grösserem Gegensatz zu diesem Alltagsverständnis stehen.

Das zweite Problem liegt in der Annahme begründet, dass hierarchiefreie und selbstverantwortliche Systeme nur Angesicht zu Angesicht, also in kleinen Organisationseinheiten und Gesellschaften funktionieren. Daher ist diese Organisationsweise nur insular, in ein hierarchisches Ganzes eingegliedert, anzutreffen.

Ausgehend von Vorurteilen

Genau nach diesen Inseln sucht Colin Ward. Wenn wir Anarchismus als Organisationsweise der Gesellschaft anwenden wollen, müssen wir Vorurteilen und Systemgrenzen begegnen. Dazu will Ward theoretisch weiter denken und im Alltag nach Beispielen und Erfahrungen suchen.

Zuerst stellt er die allgegenwärtige Frage: Kann eine soziale Organisation ohne Autorität und ohne Regierung überhaupt sein? Die Antwort ist klar eine politische – AnarchistInnen sagen es könne und solle sein.

Den Staat als grundlegendes Übel anzusehen mag nahe liegen, ihn für Krieg und Lohnkämpfe verantwortlich zu machen, würde aber heissen den Mensch, seine alltäglichen Interaktionen und seine Abhängigkeit von Erziehung zu negieren. Es würde auch heissen ein politisches System als natürlich Gegeben darzustellen. Zumindest politisch gilt: Was die Menschen wollen, können sie erreichen, auch eine anarchistische Organisationsweise - es stellt sich nur die Frage wie.

Der nächste Punkt betrifft die moralische Grundhaltung, welche dem System zugrunde liegen soll. Finden wir uns mit einer von oben befohlenen Struktur ab, welche Menschen aufgrund von Druck und Zwang in eine Gesellschaft presst? Gibt es eine von unten aufbauende, auf Freiwilligkeit basierende Gesellschaft? Anarchistische Ideale lassen sich nur dem zweiten Prinzip zuordnen. Wenn Menschen nicht mehr wollen, sind sie frei das System zu verlassen und ein eigenes, ein anderes aufzubauen. Eine Möglichkeit, die wir in den heutigen, nationalstaatlichen Demokratien nicht haben.

Prinzipien und Ansätze

Mit vier Prinzipien verdeutlicht Ward den anarchistischen Ansatz: freiwillig (voluntary), zweckmässig (functional), befristet (temporary) und klein (small). Vor allem die letzten beiden sind problematisch, wenn eine grosse Gesellschaft so organisiert werden soll. Wir leben auf einem einzigen Planeten. Auch wenn es darauf viel Platz für verschiedene Modelle gibt, so sind doch globale Aspekte und Probleme vorhanden, die weltumspannende und kooperative Systeme erfordern.

Colin Ward führt zwei Grundmodelle an, ein territoriales und ein arbeitsbezogenes. Das räumliche Modell besteht aus Kommunen, Räten oder Gemeinden, die in einem föderalen System verbunden werden.

Ein uns bekanntes System. Ward bezieht sich denn auch auf die Schweiz als dasjenige Beispiel, welches diesem Prinzip am nächsten kommt. Nicht ganz zu unrecht, wenn wir die lokale Ebene, also die Gemeinden, im Fokus haben. Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Föderalismus über das dezentralisierte Abstimmen hinausgeht, und auch einen lokal abgestützten Aushandlungsprozess für überregionale Anliegen beinhalten kann. Ward zitiert den schweizer Historiker und Publizisten Herbert Lüthy. Dieser vertritt die These, dass die kleinräumige Machtverteilung Grund für das dezentrale und sehr dichte Eisenbahnnetz ist. Die Gemeinden konnten nicht von einem Zentralstaat ausgehebelt werden, sondern hatten ein hohes Mitspracherecht bei der Linienführung.

Ward betont mehrfach, dass er nicht das schweizerische System hoch loben, sondern aufzeigen will, dass Föderalismus ein wichtiger, bzw. zu bedenkender Ansatz ist. So kann auch die These hinterfragt werden. Zum Beispiel ist die Reihenfolge nicht eindeutig, ob die dezentrale Wirtschaftsansiedlung aufgrund der Eisenbahn, des politischen Systems oder wegen dem lokalen Vorkommen von Wasserkraft zustande kam.

Eine weitere Skepsis sollte die politische Lage der schweizer Frauen im Erscheinungsjahr des Artikels auslösen. Das Frauenstimmrecht hatte 1966 gerade mal in drei welschen Kantonen bestand und wurde mit Basel-Stadt zum ersten Mal in der Deutschschweiz eingeführt. Es sollte noch ein weiteres Vierteljahrhundert vergehen, bis zur Einführung in Appenzell-Innerrhoden. Das Beispiel der langsamsten Umsetzung eines Grundrechtes verdeutlicht die Problematik der Diffusion von Regeln und von Themen zwischen den einzelnen Gemeinden und über verschiedene Ebenen hinweg.

Die spontane Ordnung - eine Frage der Zeit

Ein weiterer Ansatz zur Beobachtung von Ordnungssystemen sieht Colin Ward in der spontanen Ordnung. Damit meint er Ad-hoc-Organisationsweisen, wie sie oft bei Revolutionen, Besetzungen und nach Naturkatastrophen auftauchen: Angesichts eines gemeinsamen Bedürfnisses wird eine zufällige Ansammlung von Menschen durch Versuche und Irrtümer, durch Improvisation und Experiment aus dem Chaos heraus Ordnung entwickeln, - und diese Ordnung wird dauerhafter sein und in einem engeren Verhältnis zu ihren Bedürfnissen stehen als irgendeine von außen aufgezwungene Ordnung.

Mit zwei Ansätzen erläutert Ward diese Vorstellung. Der erste sind die Besetzungen von Militäranlagen im England von 1946. Daran zeigt er auf, wie diejenigen, welche sich freiwillig dorthin begeben haben, als Kollektiv arbeiteten, um die Lebensumstände zu verbessern. Andere, welche vom Staat angesiedelt wurden, verharrten jedoch in einer passiven Haltung. Der zweite Ansatz sind Beispiele von Kindererziehung, bzw. von Situationen, in denen Kinder Raum gelassen wurde, sich selber zu Organisieren. In einem Gesundheitszentrum wurde beobachtet, wie die Kinder sich von einem „chaotischen und destruktiven Haufen“ zu gezielt Spielenden entwickelt haben.

Bei allen Beispielen stellt sich die Frage der Zeit. Ward sieht in der spontanen Ordnung den Vorteil, dass sie nicht von aussen aufgezwungen wurde. Das mag sein, doch reproduziert sich eine soziale Ordnung nicht isoliert. Und auch wenn sie das würde: Die Probleme der politischen Entwicklung entstehen auch aus dem Inneren heraus. Einerseits sind die Interessen der Beteiligten schwer unter einen Hut zu bringen. In einer Ausnahmesituation, wie sie alle Beispiele darstellen, gerät dies nur für kurze Zeit in den Hintergrund. Andererseits entwickeln sich schnell Dynamiken, welche aktiv überwunden werden müssen. Spontane Ordnung hat nichts mit einer Natürlichkeit zu tun, so was gibt es im Sozialen gar nicht. Das Politische zeichnet sich durch einen stetigen Aushandlungsprozess aus. Wir wollen in politischen Kämpfen über unsere Lebensvorstellungen verhandeln. Die Beispiele der Kindererziehung behaupten zwar den Einfluss der Erwachsenenwelt ausgeschlossen zu haben, da sich die Erziehenden gemäss Ward dieser Situation bewusst waren und gezielt auf die Selbstorganisation hinarbeiteten. Trotz allem sind die Verhaltensmuster der Kinder doch stark von den Vorstellungen übers Erwachsen sein und Verantwortungsbewusstsein geprägt. Die Umstände sind ähnlich, wie sie im Folgenden bei der Organisation von Arbeit beobachtet wurden. Die Kinder leben auf einer Insel, die umgeben ist von Autorität und Kontrolle, von Selbstverantwortung und Leistung. Freiheit wird soweit gewährt, wie die Ergebnisse vorhersehbar sind.

Die Organisation von Arbeitsgruppen

Um zur Arbeitswelt überzugehen widmet sich Ward zuerst der Frage der Autorität. Führungsrollen müssen nicht als festgeschriebene Stelle Teil der Arbeitsteilung sein. Den Mechanismen der Macht, wie sie in den folgenden Jahren sowohl in den Sozialwissenschaften als auch im Betriebsmanagement beschrieben wurden, entspricht ein situativer Rollenwechsel eher. Erfahrung und Spezialwissen soll sich temporär, in einem steten Wechselspiel zwischen Autorität und Unterordnung, an die Spitze der Gruppen setzen. Wenn die Aufgabe erfüllt ist, tritt die Person ab ohne weiteren Anspruch auf Belohnung und Ehre.

Im Folgenden zeigt Ward einige Modelle auf, die diese Prinzipien verinnerlichen. In allen Modellen gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Arbeitsteilung wird entlang von Produktionsschritten vorgenommen, welche im Team an einem Ort vorgenommen werden können. Nach innen kommen unterschiedliche Freiheitsgrade zur Arbeitsorganisation zum Zuge, nach aussen kann die Gruppe aber klar abgegrenzt werden. Leider sind die gruppeninternen Prozesse in Wards Artikel kaum Gegenstand seiner Erläuterungen. Sich auf die Analysen anderer Autoren beziehend, fasst er deren Aussagen zu Produktivität und Kontrolle zusammen.

Eine Möglichkeit ist die Ausrichtung auf das zu produzierende Gut. Ward führt zwei Modelle an. Zum Einen das Arbeitsgruppensystem (gang-system), welches das produzierte Gut, nicht die Arbeit der einzelnen Angestellten in den Fokus nimmt. Als Zweites nennt er das Kollektivvereinbarungssystem (collective-contract-system). Durch einen Vertrag wird die Gruppe konstituiert und die internen Abläufe von den Unterzeichnenden selber bestimmt. So wird auch die Verantwortlichkeit an die Gruppe übertragen. Die zweite Möglichkeit kommt aus dem Bergbau. Schichtgruppen werden die Verantwortung, die Arbeitsorganisation und die Vorgehensweise übertragen (composite-working). Die Entlöhnung wird nach Fördermenge an die ganze Gruppe entrichtet. Anstelle der Kontrolle und Autorität von aussen, gilt das Prinzip der Selbstorganisation und Selbstentwicklung. Externe Vorgaben gibt es nur noch als Sicherheitsstandards und technische Rahmenbedingungen.

All diese Arbeitsprozesse basieren auf Kleingruppen. Diese Einheiten werden wiederum in einem föderalen System zu einem grossen Ganzen zusammengefügt. Die Funktionalität sieht er in länderübergreifenden oder weltumspannenden Systemen, die föderalistisch organisiert sind, wie die Eisenbahn (UIC, RIC und RIV) oder die Post (Weltpostverein). Beide Beispiele haben die globale Koordination als Verbund organisiert.

Laut Colin Ward verbreiten sich diese Modelle und Ideen stetig in der Praxis. Aus heutiger Sicht bestätigt sich diese Prognose im Grossen und Ganzen eindeutig. Dies hat aber oft eine einseitige Wirkung in Richtung Selbstkontrolle und individuelle Effizienzsteigerung, ohne dass dabei den Arbeitnehmenden wirklich ein grösseres Selbstbestimmungsrecht oder eine Beteilung an den Gewinnen zugestanden wird. Die autoritären Systeme und Besitzstrukturen haben diese Prinzipien längst für sich entdeckt und nutzen sie in ihrem Sinne. Diese ganze Frage der Organisationsweise zeigt einerseits die Praxistauglichkeit der hierarchiefreien Prozesse auf, zeigt aber auch, dass ohne eine Veränderung der Eigentumsrechte eine Veränderung des politischen Systems nicht erreicht werden kann.

Ein Thema fehlt komplett: Verbindlichkeit. In allen Produktionsprozessen und in der Organisation sind verbindliche Abkommen unerlässlich. Wenn aber aus den föderalen Absprachen Gesetze entstehen müssen, um diesem Anspruch zu genügen, gibt es keine Freiwilligkeit mehr. Überhaupt sind längere Kooperationsprozesse schnell mal der Verschriftlichung und Verfestigung ausgesetzt, somit einer Regularisierung. Die stetige Veränderbarkeit muss in die organisatorischen Prinzipien aufgenommen werden können. An der stetig wachsenden Gesetzesfülle ist zu erkennen, dass Transformationen im bestehenden System schlecht integriert werden.

Fazit

Das Bestechende am rezensierten Aufsatz ist der Ansatzpunkt in der Gegenwart. Ohne Phänomene, wie eine weltweite Wirtschaftsverknüpfung oder Arbeitsteilung, einer speziellen politischen Strömung zuzuordnen, geht Ward davon aus, dass eine Theorie der sozialen Organisationsweise in der Öffentlichkeit nur aufgenommen und diskutiert werden kann, wenn sie am Bestehenden anknüpft.

Die Absicht von Ward, mit seinem Artikel auf die Praktikabilität der anarchistischen Ideale zu verweisen, scheint mir gelungen. Mit offenen Augen und der Bereitschaft zu diskutieren, lässt sich in der heutigen Gesellschaft eine noch grössere Fülle an Beispielen erkennen, denen Modelle für eine neue Gesellschaftsorganisation entnommen werden können. Damit lassen sich auch Überlegungen zum Übergang in eine weniger kontrollierte und zementierte Gesellschaft anstellen.

Meine häufige Kritik an den einzelnen Punkten will nicht Wards Ansatz in Frage stellen, sondern zeigt, wie anregend eine Orientierung an der Gegenwart und damit an einer erfahrbaren Praxis sein kann. Anstatt Beispiele aus längst vergangenen Tagen anzuführen, die zwar als Beispiele für Anarchie in der gesellschaftlichen Praxis dienen, aber immer auf Interpretationen anderer Autoren basieren, kann ich die Beispiele Wards immer mit meinem eigenen Alltag in Verbindung bringen.

s. deo

Aus: di schwarzi chatz Nr. 9, Nov./Dez. 2010 (FAU Bern)


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