Arthur Müller Lehning - Der Wahnsinn des Nationalismus und die Stellung des revolutionären Syndikalismus
Keine grössere Gefahr für die Arbeiterklasse als der Nationalismus, er ist die wahre Ideologie des Staates und der Diktatur. Wenn der Staat ein Volk in den Krieg getrieben hat, in die Niederlage und in das Elend - dann ist es der Nationalismus, der ablenkt: nicht die eigene Regierung, nicht der eigene Staat, nicht der eigene Kapitalismus ist schuld - sondern der ausländische Kapitalismus, der andere Staat, die andere Regierung. Aber niemals ist der Nationalismus etwas anderes gewesen als der Schrittmacher für die Interessen, für die Profite der herrschenden Klasse. Denn die herrschende Klasse versteht den Patriotismus auf ihre Art. Sie organisiert ihre "blutige Internationale" und macht auf Kosten der Völker ihre patriotischen Geschäfte mit Freunden und Feinden. Sie kennt keine Parteien und keine Nationen. Wenn es sich um Profite handelt und um Unterdrückung der Arbeiterklasse, dann ist der Kapitalismus international, und dann wird sogar der Erbfeind zum Verbündeten. Zur selben Zeit, während des Ruhrkrieges, als die nationalen Parteien im Reichstag den Abbruch aller Beziehungen mit Frankreich forderten, verhandelte Stinnes mit dem Oberbefehlshaber der französischen Besatzung, dem General Degoutte, um die Aufhebung des 8-Stundentags zu erwirken! Man vergesse das nie!
Die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, die eine Selbstverständlichkeit für jeden Sozialismus ist, setzt die Verneinung des nationalen Staates voraus; diese Solidarität ist der Todfeind jedes Nationalismus.
Es Bedarf keiner weiteren Überlegung, dass der Klassenkampf durch die "Arbeitsgemeinschaft" und durch die Versöhnung von Kapital und Arbeit ersetzt ist, wo die "wertvolle Gegenwart der Republik" an die Stelle der staatenlosen Gesellschaft getreten ist, die auch Marx als die wahre und einzig mögliche Form des Sozialismus ansah - da ist natürlich auch freie Bahn für den Nationalsozialismus. Und Jahrzehnte hat die deutsche Arbeiterschaft die nationalistische (und militaristische) Propaganda einer nationalen Sozialdemokratie über sich ergehen lassen müssen. Dass die revolutionären Sozialdemokraten, die Kommunisten immer wieder in dasselbe Horn blasen und auf die nationalistischen Instinkte des deutschen Proletariats - und Kleinbürgertums! - spekulieren, beweist den charakterlosen und gefährlichen Opportunismus dieser Partei, der zur Erreichung ihrer Ziele alle Mittel recht sind. Das ist ja bekanntlich die höchste politische Weisheit in Moskau. Diese Politik wird ausserdem bestimmt durch die Interessen der Auslandspolitik des staatskapitalistischen Russlands, denen immer wieder die elementarsten Interessen des Proletariats der anderen Länder geopfert werden.
Und so war es möglich, dass 1923 die deutsche Kommunistische Partei in inniger Zusammenarbeit mit der deutschen Reaktion das deutsche Proletariat zum Kriege gegen Frankreich hetzte. Diese Politik wurde eingeleitet durch die Rede Karl Radeks in der Exekutive der Kommunistische Internationale am 28. Juni 1923 über Leo Schlageter, "den Wanderer ins Nichts", den "mutigen Soldaten der Konterrevolution", der einen Monat vorher wegen Sabotageakten im Ruhrgebiet von den Franzosen erschossen worden war. Dann begann die Propaganda für die "nationale Revolution". Die KPD erklärte plötzlich dem deutschen Proletariat, nicht mehr die Weltrevolution, sondern die "nationale Befreiung" sei die Vorbedingung für die wirtschaftliche Befreiung. Die konservativen Ideologen der Reaktion bestätigten es der "Roten Fahne". Es war die glorreiche Zeit, da der Graf Reventlov als Mitarbeiter der "Roten Fahne" bereit war ein "Stück des Wegs" mit der Revolution zu gehen. Trotz allem "Trennenden" fand die KPD den Schnittpunkt von Bolschewismus und Faschismus, die nationale Befreiung Deutschlands. "Wir Kommunisten" - so schreibt die "Rote Fahne" - "sagen diesen Offizieren: alle jenen ehrlichen Elemente, die Deutschland vom französischen Imperialismus befreien wollen, müssen an der Seite der Proletarier kämpfen". Und einer von ihnen - der ehemalige Offizier Hans von Hentig - bestätigte den KPD-Mitgliedern: "Zur Nation zu stehen, die sich in der Arbeiterschaft verkörpert, wird für den deutschen Offizier nichts Neues, nur Pflichterfüllung sein."
Als der deutsche Kapitalismus nicht geneigt schien, den passiven Ruhrkampf in einen aktiven umzuändern, schrieb Radek: "Wenn die deutsche Bourgeoisie kapituliert, wird die Arbeiterklasse die Interessen des ganzen Volkes verteidigen, sie wird siegen, indem sie ihren Klassenkampf mit dem nationalen Freiheitskampf verbindet." Und der Kommunist Paul Fröhlich ergänzte: "Wer vom Klassenkampf ausgeht wie wir, dem erwächst die Aufgabe der Errettung der Nation!"
In unverfälscht nationalistischer Terminologie wandte die Zentrale der KPD sich gegen "die Regierung der nationalen Schmach", und am 25. Juli wandte sie sich an die "Volksgenossen" und erklärte: "Der Kampf an der Ruhr muss geführt werden, und wir lehnen prinzipiell kein Mittel dieses Kampfes ab." Die Kriegsparole hiess: "Für das Bündnis mit Sowjetrussland zum Kampf gegen die Entente". Während in dieser Weise die KPD die nationalistischen Instinkte der Arbeiterschaft aufzupeitschen versuchte während sie mit den reaktionärsten Mächten in Deutschland paktierte und öffentlich den Krieg propagierte, arbeiteten nationalistische Kreise zusammen mit der Reichswehr daran - wie die Enthüllungen des Hochmeisters des Jungdeutschen Ordens, Mahraun, es später bewiesen - den Krieg zu organisieren. Aber so weit kam es nicht, da die Politik der Schwerindustrie weitsichtig genug war, um von solch einem abenteuerlichen Unternehmen keinen Erfolg zu erwarten.
In den nächsten Jahren kam dann die offizielle "Verständigungspolitik", Locarno, Thoiry und der "Eisenpakt"! Für die nationalistische Parole vom "Kampf gegen die Entente" war es eine schlechte Konjunktur. Auch für die KPD waren es also schlechte Zeiten. Die nationale Politik hiess jetzt: Völkerbund, Abrüstung, Verständigung. Es kamen herrliche Zeiten für die SPD, ohne dass allerdings Breitscheid Aussenminister wurde! Man war ja auch mit Stresemann zufrieden: er vertrat genau die kapitalistische Aussenpolitik wie die SPD sie verstand. Die Regierung Hermann Müller baute dann den ersten Panzerkreuzer. (Doch der zweite folgte sogleich.) Trotz Völkerbund, Abrüstung und Verständigung. Trotz des Plakats - es war leider nur ein Wahlplakat, also nur Schwindel, - der hungernden Kinder: "Wählt SPD!". Mit dem grössten Erfolg dieser Politik, der Befreiung des Rheinlands, war ihr Höhepunkt bereits überschritten. Der Abmarsch der Franzosen war das Signal zu einer ungeheuren nationalistischen und militaristischen Orgie. Wie die Verständigung aussah, zeigte der Aufmarsch der Stahlhelm-Armee in Coblenz. Er wurde jenseits der Grenze verstanden! Dieser Aufstieg des Nationalismus ging wie in einer kommunizierenden Röhre - zusammen mit dem Niedergang der Wirtschaft. Die Rationalisierung seit dem Ende der Inflation auf Kosten der Arbeiterschaft hatte nur eine Scheinprosperität gebracht. Die Rationalisierung der technischen Methoden, die Zusammenlegung und Aufhebung von Unternehmungen, die Bildung von Kartellen und Konzernen, national und international, hat die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft nicht aus der Welt schaffen können. Von Hunderttausenden wuchs die Arbeitslosigkeit zu Millionen. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion war zu einem unlösbaren Widersinn geworden. 1928 begann bereits die "Krise". Seit dem "Krach" der New-Yorker Börse im Herbst 1929, dem Beginn der "Weltwirtschaftskrise", wuchs sie zu einem in der Geschichte des Kapitalismus ungekannten und drohenden Massstabe an. Die kapitalistische Krise, diese ganze Entwicklung des Kapitalismus zur Ausschaltung der freien Konkurrenz und die Bildung eines Monopolkapitalismus und der Preisdiktatur wirkte sich jetzt nicht nur in einer Verschlechterung der Lage der Arbeitnehmer aus, der gesamtproletarischen Klasse, sondern wirkte sich geradezu katastrophal auf die ganze Mittelschicht des Kleinbürgertums aus. Die ökonomische und soziale Basis zu einem Aufstieg einer faschistischen Bewegung in grossem Umfange war damit gegeben.
Und eine neue Hochkonjunktur des Nationalismus begann. Zwischen sozialistischen Phrasen und kapitalistischen Geldgebern bahnte der National-Sozialismus sich mit einer Anhängerschaft von Millionen den Weg zur Staatsmacht. Je unklarer sein Programm, um so deutlicher seine Demagogie. Die Parolen : gegen die Novemberverbrechen, Brechung der Zinsknechtschaft, gegen Marxismus und gegen Juden und sonstige demagogische Phrasen - sie hatten Anziehungskraft, weil sie für Millionen auf einem zweifach realen Boden blühten: dem der wirtschaftlichen Entwurzelung und des Bankrotts der Demokratie. Und deshalb konnte das Ziel des National-Sozialismus: die nationale Diktatur zur Befreiung Deutschlands, das Ziel und die Hoffnung eines grossen Teiles des Volkes werden, da es die Rettung verhiess aus diesem zweifachen Sumpf: der parlamentarischen Parteiwirtschaft und der wirtschaftlichen Verelendung.
Die "Befreiung Deutschlands", der "Kampf gegen Versailles" stand mal wieder auf der Tagesordnung. Die neue Parole hiess jetzt: gegen die "Young-Versklavung". Also war auch wieder die Zeit für den National-Bolschewismus gekommen. Die Phrasen des kommunistischen Wahlmanifestes zur Reichstagswahl im September waren dem Programm des National-Sozialismus entnommen - oder hätten es sein können. Die KPD machte wieder in Nationalismus. Statt "internationaler Klassenkampf" hiess es: Kampf gegen die Youngversklavung. Die kommunistischen Arbeiter mussten wieder einmal die Befreiung der Arbeiterklasse von der nationalen Befreiung erwarten. Weshalb sollten die Faschisten sich nicht der KPD anschliessen? Sie erstrebte ja die beiden selben Ziele: Diktatur und Kampf gegen den Young Kapitalismus. Leutnant Scheringer war dieser Ansicht: er ging von den Faschisten zu den Kommunisten. Er wurde als Repräsentant einer Avantgarde - und ausserdem als militärischer Sachverständiger und "begabter Gasoffizier" - begrüsst. Ist die deutsche Arbeiterklasse denn nicht durch die Young-Ketten versklavt? Wird nicht insbesondere die deutsche Arbeiterklasse von dem internationalen Kapital ausgebeutet? Gewiss. Aber dies ist doch nur dadurch möglich, dass die Arbeiterklasse in erster Linie dem eigenen, dem deutschen Kapitalismus "versklavt" ist. Er wälzt die Lasten auf die Arbeiterklasse ab. Ohne den deutschen Kapitalismus und seine Ausbeutung gäbe es auch keine internationale Ausbeutung.
Die Befreiung vom deutschen Kapitalismus bedeutet auch die Befreiung vom Young Kapitalismus. Wenn die deutsche Arbeiterschaft sich von dem eigenen Kapitalismus befreit haben wird, wird kein anderer Kapitalismus imstande sein, sie aufs neue zu versklaven. Der Kapitalismus ist international, aber das Proletariat ist national an die Versklavungsketten der Ausbeutung geschmiedet. Und hier - und auch nur auf dem ökonomischen Gebiet des Kapitalismus, auf dem Gebiet der Arbeit - können die Ketten gebrochen werden. Die Befreiung der Arbeiterklasse erfordert nicht den nationalen Kampf gegen den ausländischen Feind - sondern den internationalen Kampf gegen den inneren Feind. Eine solche Befreiung vom eigenen, nationalen Kapitalismus wird ausserdem eine wahre internationale, eine Welt-Befreiung sein.
Arthur Müller Lehning
Einige weitere Texte dieses Autors zu den Themen Gewalt und Antimilitarismus findet ihr unter http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a31.html#gewalt
Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a31.html#gewalt