Abaleta - Was ist Deutschland? Zur Geschichte und Ideologie eines folgenreichen politischen Konzeptes

Einleitung

Die Anfang der 80er Jahre eingeleitete "konservative Wende" zeigt heute ihre politischen und strukturellen Auswirkungen. Nicht nur die Verschärfung der innenpolitischen "Sicherheitslage" (= "Großer Lauschangriff', paramilitärischer Ausbau der Polizei und weiterer staatlicher Überwachungs- und Kontrollgesetze) oder der massive Sozialabbau (von Diskussionen wie der über die Zwangsarbeit von Sozial- und ArbeitslosenhilfeempfängerInnen begleitet) haben das Gesicht der BRD-Gesellschaft verändert. Eigentlich sollte die verKOHLte Republik so etwas wie ein großes miefiges, gut-deutsches Wohnzimmer werden. Nur, daß dort die Biedermänner und -frauen nicht mit denen rechnen wollten, die mit dem Feuer spielten, die ihre behaglichen Wohlstandsinseln anzündeten.<br /> <br />Der neue Nationalismus machte es nicht nur "sicherer" und sozial kälter, junge Nazis eiferten ihren faschistischen Vorbildern nach, mordeten und brandschatzten in der "gut-deutschen" Wohnstube, die die Konservativen basteln wollten. Das gab im Ausland ein furchtbar negatives Image, das Bild des "neuen" Deutschland als Hort der (Wirtschafts-)Liberalität schien gefährdet. Ebenso schlimm erschien dem politischen Establishment die Abwanderung ihrer rechten Ränder zu faschistischen Parteien und Wählergemeinschaften wie den REPs, der DVU usw. Sie initiierten mit diversen JournalistInnen Betroffenheits- und Klagerituale, Werbekampagnen gegen die "Gewalt der Extremisten von rechts und links" oder setzten ihr Wahlvolk eindrucksvoll als "Open-Air Kerzenhalter" in Szene. Dies beeindruckte die nationalistische Welle, die durch die Annektion der ehemaligen DDR noch weiteren Aufschwung bekam, wenig. Der neue nationalistische Konsens des "Deutschland den Deutschen", weil "wir sind ein Volk", reicht von Rechtsaußen quer durch alle Parteien bis hin zur SPD für die Rechtfertigung politischen Handelns. Den einen, um das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen, als "Ausländer" bezeichnete Menschen in Gefängnisse, Folter, Krieg usw. abzuschieben, den anderen für ihre rassistische Hetze und ihre Mord- und Brandanschläge.

Die unsägliche Diskussion um die Änderung des Art. 16GG (Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland Anfang der 90er-Jahre, Anm.) brachte neben ihren mörderischen Folgen in Mölln, Solingen, Berlin etc., neben dem Aufschwung verschiedener faschistischer Parteien, Gruppen und Ideologien, auch die Behauptung deutscher Politiker mit sich, daß Deutschland eine Jahrhunderte alte Kultur und Identität besitze. (E. Stoiber, CSU; nach: L.Hoffmann 1990, S.ll ;E.Röper, CDU, in: FR 16.6.1993) In den markigen Worten des Ex-SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, der 1990 behauptete, es wachse zusammen, was zusammengehöre, schwingt das unerschütterliche Bekenntnis zum deutschen Nationalstaat mit.

Bei o.g.. Politikern klingt es an, als ob der Nationalstaat die letzte und höchste Konsequenz sozio-politischer Ordnungen wäre, eine quasi natürliche, statische und ewig währende. Ein deutscher Nationalstaat wäre demzufolge nicht das Ergebnis historischer Prozesse, sowie politischer und ökonomischer Entscheidungen. Gerade bei der "Deutschen Frage" wird deutlich, wie sich geschichtliche und aktuelle Fragen mischen, wie die Geschichte die Gegenwart legitimieren soll. (...)

Die Nation und ihre Ideologie scheint auch in linken Gruppen Hochkonjunktur zu haben und ist als EIN mögliches politisches Ordnungskonzept von Gesellschaft nicht hinterfragbar. Es erscheint quasi als natürliche, unveränderbare Größe, als hätte es Deutschland, die Nation, schon immer gegeben. Als politisch handelnde und historisch informierte und denkende Menschen melden wir Zweifel an den Befreiungsgehalten dieses Konzeptes an, und wir haben ein Menge Fragen, die wir im folgenden diskutieren wollen: Was steckt hinter den Begriffen 'Volk / Völker' und 'Nationalismus/Nationalgefühl', auf die auch linke Gruppen, seien sie anarchistisch, autonom oder anti-imperialistisch orientiert, immer wieder positiv Bezug nehmen? Was sind die angenommenen 'gemeinsamen Traditionen', die 'gemeinsame Kultur und Sprache'? (...) Wie konnte es dazu kommen, und welche Rolle spielte die Ideologie des Nationalismus dabei? Und kann, darf, soll es einen positiven linken Bezug auf die Nation, eine Art "linksnationale Befreiungsideologie" geben? Oder widersprechen sich nicht vielmehr die politischen Konzepte von Nation und sozialer Revolution?

"Ein Mann ohne Nation ist wie ein Mann ohne Schatten", zur Ideologie des Nationalen

In der Ideologie der Nationalisten gibt es vorgeblich objektive Kriterien zur Bestimmung dessen, was Nation ist bzw. wie diese entstand. Zunächst sollen Gruppen von Menschen zusammengelebt haben, die eine gemeinsame Sprache und Kultur entwickelten. Werden sich die Menschen dessen bewußt und entwickeln sie ein über Generationen andauerndes Zusammengehörigkeitsgefühl, das zudem in ihrer "kollektiven" Erinnerung verbleibt, wird diese Gruppe zum VOLK. Ergreift diese Volk gewordene Gruppe mittels ihrer Führer und am besten qualifizierten Männer die Macht oder wird von diesen ein Staat gegründet, wird das Volk zur NATION, (vgl. exemplarisch: M.H. Boehm 1932; kritisch: P.Alter 1985, B. Anderson 1988, A.F. Reiterer 1988). Am Anfang steht hier die KULTUR, ein Begriff der in den Zirkeln der Neuen Rechten (NR) extrem nationalistisch gewendet und seit Mitte der 70er Jahre ideologisch besetzt wurde. Alain de Benoist, ein französischer Theoretiker der NR, wirft der "Linken" vor, sie sei rassistisch, da sie die verschiedenen Kulturen, die Identität der Völker (!) einebnen und zerstören wolle (vgl. Wolfgang Haug 1991, S.15). Die CSU bläst in dasselbe Horn: "Linke nährt Ausländerhaß" (FR 19.2.92). Die NR wendet Vorwürfe auf die "Linke" zurück, die diese dem Kolonialismus und Imperialismus gemacht hat. Begriffe wie Nation, Volk, Rasse oder Kultur spielen in der Diskussion der NR eine sehr wesentliche Rolle.

"Gemeinsame Traditionen" - Sprache, Kultur, Geschichte

Vorherrschendes Thema der NR ist die Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen. So wurde in verschiedenen französischen Zeitungen ("Mots", "Espaces´89" und "L´identite francaise") behauptet, daß es für eine Kultur schädlich sei, Grenzen zu verwischen. Lebensweisen und Traditionen seien unvereinbar. (E. Balibar 1991, S.28) G.Frey (DVU) begründet seine rassistische Parole "Ausländer raus!" "ethno-pluralistisch" mit dem Nebeneinander der Kulturen (W.Haug 1991, S.16) E.Stoiber versucht sich als Geschichtsumschreiber: Durch das Gerede von der "multikulturellen Gesellschaft" werde "... die Axt an die Wurzeln unserer in Jahrhunderten entwickelten nationalen und kulturellen Identität..." (zit. n. L. Hoffmann 1990, S.ll) gelegt. Der Herr verzapft nicht etwa unbewußt Blödsinn, sondern lügt aus politischem Interesse, ein Berufslügner also.

Was also ist eine Nation, die Kultur, und wie entwickelten sie sich und ihr Verhältnis zueinander?

"Ein Mann ohne Nation ist wie ein Mann ohne Schatten". (E. Gellner 1991, S.15) gab ein gewisser Adalbert de Chamisso (um 1800) von sich. Daraus entstand die landläufige Meinung, ein Mensch brauche eine Nationalität, wie er eine Nase und zwei Ohren haben muß, sie wurde zum inneren Merkmal des Menschseins. Die Nation wurde zur universellen, alle anderen überragenden sowie einzig möglichen und denkbaren gesellschaftlichen Organisationsform. Ihr wurde ein Charakter, ein Bewußtsein und Identität angedichtet, um sie zum Subjekt werden zu lassen: "Jede Nation hat ihre historischen Traditionen, und diese spielen in ihrem Bewußtsein eine wichtige Rolle". (W. Sulzbach 1959, S.l) Das Nationalbewußtsein sei eine Folge der geschichtlichen Überlieferung, dessen Ursachen J.S.Mill im Besitz einer Nationalgeschichte und einer konsequenten Gemeinschaftserinnerung sah. (ebd.) Nicht die Geschichte, zum Subjekt geworden mittels "welthistorischer Volkgeister" (Hegel) in Gestalt "großer Männer" wie Napoleon, Bismarck und weiß der Kuckuck wer, schufen die Nationen, sondern Nationalisten begannen im 19.Jahrhundert Geschichte umzuschreiben und ausschließlich auf die Nation zu beziehen. Die "freien Germanen" werden noch heute in den Schulen als "unsere Vorfahren" - ein Begriff, der nur eine biologische Tatsache und sonst rein gar nichts bedeuten kann - verkauft, ebenso die Römischen Kaiser des Mittelalters, die sich nicht als deutsche verstanden. Das Römische Kaiserreich deckte sich selbst geographisch nicht mit dem heutigen Deutschland. Wir haben mit den Menschen, die vor 1800 in dem geographischen Gebiet lebten, das heute mit Deutschland bezeichnet wird, genauso viel oder wenig gemeinsam wie mit den Menschen im bolivianischen Hochland oder der sibirischen Tundra. Träfen wir auf eineN von ihnen, könnten wir uns weder sprachlich noch gedanklich verständigen, aber dazu später mehr. Der Begriff "Gemeinschaftserinnerung" ist genauso abstrus und falsch. Menschen können sich nicht an das erinnern, was frühere Generationen erlebt haben, "Erinnern" meint etwas völlig anderes. Der Begriff wird von Historikern und Medien, vgl. die ARD-Reihe "Wir Deutschen", mißbraucht. Er bedeutet Aneignung und Umdeutung historischer Ereignisse und Prozesse im nationalistischen Sinne, "... und das deutsche Volk betrachtet den Vorgang als zu seiner Geschichte gehörig, weil die Deutschen der Gegenwart so erzogen worden sind, daß sie sich mit den Deutschen der Vergangenheit verbunden fühlen." (ebd., S.52)

Die "Deutschen der Vergangenheit" sind eine moderne Erfindung und nicht geschichtliche Tatsache. Duhamel, ein Bretone, stellte fest, "... daß die Geschichte, die in den französischen Schulen gelehrt wird, eine gefälschte Geschichte der Einheit Frankreichs ist." (ebd., S.53) Das Gleiche läßt sich für die BRD feststellen. Geschichte, Traditionen und Kultur sind keine Fragen von Fortpflanzung, sie sind nichts Organisches, Wachsendes oder Naturhaftes, sondern von Menschen gemachte Erziehung, vermittelte Werte, Verhaltensnormen und Weltanschauungen.

Eine gemeinsame Sprache und Kultur seien die Voraussetzungen und "objektiven" Kriterien zur Bestimmung einer Nation.

Die nationalistischen Pioniere forderten zu Beginn des 19.Jahrhunderts, daß jede Gruppe von Menschen mit der gleichen Sprache einen eigenen Staat haben müsse. 300 "deutsche" Staaten wären dann noch zu wenig, so viele verschiedene Sprachen und Dialekte wurden damals noch gesprochen. Das Hochdeutsche war eine reine Schriftsprache, ein "protestantischer Dialekt" (J.Grimm), der seit dem 16. Jahrhundert in den kaiserlichen und fürstlichen Schreibstuben von Beamten geschrieben wurde. Die Niederlande weigerten sich ab 1648, der Entwicklung zu folgen und kreierten aus politischen Gründen, um sich abzugrenzen, eine eigene Amtssprache, das Holländische. Demgegenüber behauptete Ernst Moritz Arndt Anfang des 19. Jahrhunderts: "Das deutsche Vaterland" reiche so weit,"... wie die deutsche Zunge klingt, daß holländisch tatsächlich Deutsch sei und deswegen eigentlich zu "Deutschland gehöre." (ebd., S.90) Hier wird sichtbar, daß die Nationalisierung der Sprache sich direkt aus Herrschaftsansprüchen ableitete. Nicht die gemeinsame Sprache schafft die Nation, sondern die nach Herrschaft strebenden Monarchien machten bestimmte Dialekte zu Amtssprachen: Das Herzogtum zwischen Oise und Seine begann seine Herrschaft über die Gebiete auszudehnen, die wir heute als Frankreich kennen, Paris wurde Residenzstadt. Dort wurde das "francien" gesprochen, das zunächst die (Schrift-)Sprache der Beamten war, damit das herrschaftliche Verwaltungs- und Unterdrückungsnetz funktionierte. Seit der französischen Revolution wurden alle anderen Sprachen in Frankreich verdrängt, das "francien" zur "Sprache der Revolution" erhoben. Spanisch ist ursprünglich ein kastillischer Dialekt, italienisch ist ein Dialekt der Toskana, russisch der Dialekt der moskauer Region, japanisch der der tokyoter Region, englisch der der londoner Region (seitdem London Residenzstadt wurde). "Unsere Sprachen sind keineswegs (...) ausschließlich organisch erwachsen. Sie sind zum Teil das Ergebnis obrigkeitsstaatlicher Entschließungen und der Wertmaßstäbe der gebildeten Stände. Der sprachliche Nationalismus nimmt davon keine Kenntnis und besteht mit großem politischen Erfolg darauf, daß die Gruppierung der Menschen nach Sprachen ihre "natürliche" Gruppierung "ist und daß jede menschliche Gruppe ihren eigene Staat haben sollte." (ebd., S.88-90) Sprache ist keine unabhängige, objektive Variable. Nationalisten schufen erst (Kunst-)Sprachen, um der Sprache eine ideelle Funktion zuzuweisen. Hochdeutsch begann erst, sich mit der Nationalisierung des Schulsystems und der Einführung der Schulpflicht durchzusetzen (H.O. Ziegler 1931, S.5-7). Bestimmte Regionen sind aber immer noch resistent und die Menschen sprechen im Alltag ihre lokalen Dialekte, z.B. die verschiedenen platt- oder niederdeutschen, die rheinischen Dialekte, Schwäbisch usw.

Volk und Nation

In der geschichtlichen Abfolge stehen eine gemeinsame Sprache und Kultur am Anfang der Entwicklung zum "geeinten Volk", das dann erwacht, wie der Frühling, um dann zur Nation zu werden. Solch romantische Vorstellungen entwickelten Nationalisten im 19.Jahrhundert. Da es eine gemeinsame Sprache, Kultur und Identität der "Deutschen" in diesem Jahrhundert noch nicht gab, konnte objektiv auch kein "deutsches Volk erwachen". Der Begriff "Volk" ist also ein ideologischer, keiner, der etwas wirklich existierendes beschreibt. Völkische Theoretiker (wie z.B. M.H. Boehm 1932) erklären den Begriff mythenbeladen aus der Natur, der Baum wurde das Symbol der völkischen Theorie: Tief in der heimatlichen Erde verwurzelt, strecke er die Krone dem Kosmos entgegen.

Das "Volk" bilde eine organische Einheit, wie ein Ameisenhaufen. Hierarchisch aufgebaut, dem Herrscher untergeordnet, hat jede ihren und jeder seinen Platz und Aufgabe. Das "Volk" war demnach immer da, auch wenn die Menschen sich dessen nicht bewußt waren, es sei nicht gemacht und veränderbar, es sei zeitlos. Deine Geburt bestimmt damit dein Leben und dein Schicksal durch deine "Volkszugehörigkeit". Hieraus wurde das "typische Deutsche" entwickelt und in den Köpfen und Gefühlen der Menschen in diesem Jahrhundert durchgesetzt. Dies sind die Sekundärtugenden wie Ordnung, Disziplin, Fleiß, Sauberkeit und Gehorsam, die die bestialischen Nazi-KZ's und ihren mörderischen Krieg erst möglich machten. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts beklagten "National- und Volkstheoretiker", wie E.M. Arndt, daß sie kein "deutsches Volk" vorfanden. Im 18. Jahrhundert konnte (fast) niemand angetroffen werden, der /die sich als "DeutscheR" bezeichnete. Diese sind eine Erfindung nationalistischer und völkischer Politiker und Intellektueller des 19Jahrhunderts. Letztere sahen sich aufgefordert, den Namen "Deutsch" zu einem großen Gefühl (!) zu machen. "Richtig deutsch-sein" hieß dann auch, Arbeit als "Dienst an der Gemeinschaft" zu verstehen und nicht im klassen-kämpferischen Sinne alsUnterdrückung, Raub und Ausbeutung. "Der Einzelne ist nichts, das Volk ist alles, immer und ewig" begannen Politiker, Pfaffen, Militärs und Pädagogen um die Jahrhundertwende zu predigen. Im geschichtlichen Zusammenhang bekam der Begriff "Volk" eine eindeutig militärische Aufgabe mit religiösem Charakter. Das "deutsche Volk" entstand durch das Bekenntnis und den Glauben daran, durch das Gefühl zusammenzugehören, den Feind erkannt zu haben, dessen Leben brutal und rücksichtslos ausgelöscht werden durfte. Es entstand der Mythos vom "Volk", das wie ein Mann hinter dem Kaiser steht und freudig und opferbereit in die Kriege (1870/71 und 1914-18) zog, um sich und andere zu massakrieren. So vorbereitet, zogen Männer begeistert auf die Schlachtfelder von Verdun, usw., im Glauben für "ihr Volk" zu kämpfen, zu morden und zu sterben. Dieses "deutsche Denken" ersetzte geschichtliches und eigenes Denken durch den Mythos von der "organischen Einheit aller deutschen StaatsbürgerInnen", die zum "deutschen Volk" gemacht wurden. Dies war nicht mehr hinterfragbar, anzweifelbar, da irrational auf einem WIR-Gefühl basierend. Wer nicht dazu gehörte, wurde für vogelfrei erklärt und zum Abschuß freigegeben, durfte im Krieg oder den Nazi-KZ's ermordet werden.

Die Nationalisierung der Kultur

Heute identifizieren sich die Menschen in den westlichen Industriestaaten häufig bereitwillig und glühend mit ihrer Nation und bekennen sich zu ihr. Der Nationalismus bringt erst die Nation hervor, nicht umgekehrt. Er erfindet und modifiziert Kultur(en), obwohl er vorgibt sie zu bewahren oder wiederzubeleben. "Die kulturellen Fetzen und Flicken, derer sich der Nationalismus bedient, sind häufig willkürliche historische Erfindungen." (E. Gellner 1991, S.87) Die Gesellschaften können beginnen, sich selbst zum Gegenstand quasi religiöser Verehrung zu machen. "In Nürnberg verehrte sich Nazi-Deutschland nicht etwa selbst in der Maske Gottes oder auch nur Wotans, offen betete es sich selbst an." (ebd., S.88) Diese gesellschaftliche Selbstverehrung findet auch heute noch als öffentlich bekannte kollektive Selbstanbetung statt, deren Zeremonien uns allen bekannt sind: Der Nationalfeiertag (3.10.), Ansprachen der politischen "Größen" im nationalen TV, das Hissen der Nationalflagge, die Fußballnationalmannschaft, die Wahlen und ihr Abfeiern im TV u.v.a.m. Der Nationalismus zerstörte lokale Kulturen und behauptet, Vertreter einer "Volkskultur" zu sein, die sich selber erst aus Teilen vergangener Kulturen schaffte, z.B. in der Übernahme von bestimmten Liedern , Tendenzen, Eßgewohnheiten usw. Es entstand eine anonyme, unpersönliche "...Gesellschaft aus austauschbaren atomisierten Individuen, die vor allem anderen durch eine solche gemeinsame Kultur zusammengehalten wird..." (ebd., S.89f.), die nationale Kultur, zum Mythos verklärt. Der Nationalismus ist die Ideologie, die vergessen machen läßt "... daß im Staat immer auch Herrschaft ausgeübt wird, und damit diese Ausübung von Herrschaft ins Grenzenlose wachsen lassen. Völkischer Nationalismus war und ist ein Herrschaftsinstrument." (L. Hoffmann 1991, S.12)

Heute wird die "nationale Kultur " insbesondere über Schulen und Medien immer wieder hergestellt. Schule vermittelt nicht nur Sprache, sie vermittelt Kultur, verstanden als "die Art und Weise, in der die Menschen ihr (Zusammen-)Leben gestalten und ausschmücken" (laut Lexikon). Oder anders: Kultur ist Ausdruck unserer Gedanken und Gefühle, unseres Verhaltens und miteinander Kommunizierens. Im nationalen Staat soll diese Kultur total sein und für alle gelten. Kultur sei kein Beiwerk, kein Schmuck usw. mehr, sie "... ist heute das notwendige gemeinsame Medium, das Lebensblut oder vielleicht besser die minimale gemeinsame Atmosphäre, innerhalb derer allein die Mitglieder der Gesellschaft atmen und überleben und produzieren können." (E. Gellner 1991, S.61) E.Gellner beschreibt weiterhin die allgemeinen und zentralen Kennzeichen einer industriellen Kultur:

  • universelle Schriftkunde und ein hohes Niveau rechnerischer, technischer und allgemeiner Grundausbildung (großes Allgemeinwissen)
  • horizontale Mobilität, d.h. die Fähigkeit, Berufe schnell wechseln zu können und sich nicht zu früh zu spezialisieren
  • mit anderen Menschen kontextfrei kommunizieren zu können, da sie sich oft untereinander nicht kennen

Die Medien sind mitverantwortlich für die politische Kultur, da sie mit ihren Bildern und Texten auch Weltbilder transportieren. Medien hofieren junge Nazis, halten ihnen Mikros unter die Nase, werten sie auf. "Neue Mythen sollen das Bewußtsein der Menschen bestimmen, die "Asylantenschwemme" und das "Ausländerproblem" werden kreiert, nicht das viel realere Faschistenproblem." (W. Haug 1991, S.18)

Die Begriffe Nation und Kultur wachsen in der "nationalen Kultur" zusammen, die alle anderen Kulturen in einem abgegrenzten Gebiet zerstört, aufsaugt, funktionalisiert oder übersteigert. In der Diskussion der NR spielt dieser Begriff eine zentrale Rolle, er löst den alten biologisch/genetisch bestimmten Rassismusbegriff ab. Kulturelle Einheiten seien mit nationalen identisch, behaupten sie, die gemeinsame Kultur stifte geradezu erst die Nation. Die Menschen seien in ihrem Verhalten, Denken, Kommunizieren usw. durch ihre kulturellen Grenzen vorbestimmt und umschlossen. Die verschiedenen Kulturen (oder Nationen) besäßen eine natürliche Distanz. Eine Vermischung, eine Beseitigung "kultureller Distanzen" entspräche dem geistigen Tod der Menschheit und würde unter Umständen sogar ihr biologisches Überleben gefährden (E. Balibar 1991, S.29) Diese Gedanken transportieren ein völlig statisches, ein zementiertes und ungeschichtliches Bild vom Menschen, von sozialen Gruppen und der Organisation ihres Zusammenlebens. Es gab nie isolierte menschliche Gemeinschaften, in denen sich eine eigenständige Kultur entwickeln konnte und es wird sie auch hoffentlich nie geben. Gerade der Austausch und die Vielfalt sind die entscheidenden Kennzeichen menschlicher Entwicklung. Es gibt nach Meinung der NR („Neue Rechte“, Anm.) nicht nur verschiedene Kulturen, es gibt wertvollere und nicht so wertvolle, überlegene und unterlegene.

Französische Theoretiker hierarchisieren die Kulturen beispielsweise nach ihrer Nähe zur "Grand Nation", d.h. daß sich manche Kulturen besser, andere schlechter oder gar nicht an die weiße französische, institutionell etablierte Kultur anpassen können. Frankreich habe als "Land der Menschenrechte" einen universellen Erziehungsauftrag und sei daher der Maßstab aller Dinge (ebd., S.32) Politiker a la Dregger oder Geissler stehen dem in nichts nach, wenn sie behaupten, Türken könnten nicht in die Gesellschaft integriert werden, wohl aber sogenannte Wolga"Deutsche", deren Vorfahren - wieder ein biologischer Begriff! - vor über 300 Jahren aus einem Territorium auswanderten, das nicht Deutschland war, weil es Deutschland nicht gab, weder als politische Tatsache noch im Bewußtsein der damals lebenden Menschen. Also können diese Leute auch keine "Deutsche Kultur" bewahrt oder sonst etwas damit gemacht haben. Die herrschenden Klassen definieren und konstruieren erst die Kultur eines Staates.

Den "nationalen Massen" wurde mittels der Medien ihre Lebens- und Denkweise für legitim erklärt. Die kulturelle Assimilation ist die Voraussetzung, sich in die Gesellschaft integrieren zu dürfen. Dies betrifft Schwarze in den USA und in Großbritannien, die dann "weiß gewaschen" sind, AraberInnen und NordafrikanerInnen in Frankreich oder OsteuropäerInnen in der BRD. Dieses Integrationsmodell wird von der NR („Neue Rechte“, Anm.) als fortschrittlich verkauft, obwohl es auf die völlige Zerstörung der mitgebrachten Kultur, Denk- und Lebensgewohnheiten hinausläuft (ebd., S.33) (...)

Die Realisierung des nationalstaatlichen Prinzips zeigt zwei Grundbedingungen als historische Prozesse:

  • Erstens die Entstehung eines geschlossenen Territoriums als Herrschaftsgebiet mit einer Zentralgewalt, d.i. die Realisierung zentraler politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher, apersonaler Herrschaft. Durch seine Entwicklung legte der absolutistische preußische Staat seit dem 17.Jahrhundert die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen für die Gründung eines deutschen Staates, die 1871 erstmalig erfolgte. Erst seitdem sind die ersten beiden Kriterien erfüllt, die die Frage beantworten, seit wann von einem deutschen Staat gesprochen werden kann. Die Behauptung, die Gründung eines deutschen Staates sei quasi die natürliche Entwicklung einer nationalistischen Politisierung eines Volkes, ist pure Ideologie oder vielmehr eine Lüge, um die historischen Prozesse zu verdrehen, die zeitgeschichtliche Realität zu legitimieren und konkurrierende sozio-politische Ordnungsvorstellungen auszuschalten.
  • Zweitens die Entwicklung einer nationalen Identität, eines Nationalbewußtseins, als alleiniges Vergesellschaftungsprinzip, das den Nationalstaat legitimiert und seinen inneren Zusammenhalt festigt. Eine deutsche Nation konnte sich erst über die Herstellung einer kollektiven Identität als Deutsche/r in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen. Dies geschah überwiegend im Kontext des 1. und 2.Weltkrieges. Diese kollektive Identität wurde durch Erziehung vermittelt, wurde zum normativen Wert im Kaiserreich und im Nationalsozialismus. Endgültig setzte er sich mit den Versprechungen und dem Terror des NS-Staates durch, wurde die fiktive Volksgemeinschaft zur nationalen Realität. Eine neue, säkularisierte QuasiReligion hatte sich zum vorherrschenden Vergesellschaftungsprinzip durchgesetzt. Hier wird deutlich, daß die soziale Organisationsform des Nationalstaates nur eine denkbare Möglichkeit war und ist, sowie, als Ausdruck eines bestimmten politisch-ökonomischen Herrschaftssystems, eine politische Konstruktion sozio-historischer Realitäten ist. (vgl. grundlegend zu dieser Begrifflichkeit: P. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Stuttgart 1969)

Die Nation ist nicht eine gesellschaftlich verwirklichte Möglichkeit, weil "Völker" begannen, sich als Nation zu sehen, sondern weil Männer aus Politik, (Geschichts-)Wissenschaft, Wirtschaft und Militär die Kultur, Geschichte etc. auf die Nation bezogen. Die Geschichte und Kultur der Menschen, die in einem bestimmten Gebiet lebten, wurde nationalisiert, d.h. umgeschrieben, entstellt, verdichtet oder zerstört. Die Nation ist erst seit der französischen Revolution ein Begriff, und zwar ein politischer. Er wurde zum Symbol und Mythos, der Massen mobilisiert und Grenzen zieht. Das erste deutsche Reich verdankt seine Existenz Kanonen und Gewehrläufen. H. Baumgarten, ein Historiker, Politiker und Schriftsteller des 19.Jahrhunderts, schrieb dem Krieg (1870/71) die zentrale Rolle bei der Entstehung der deutschen Nation zu: ''Das Volk wird durch den Donner der Schlachten geweckt (...), damit die Menschen nicht ihren eigenen Interessen nachgehen.'' Der Nationalismus, die Begeisterung für die Nation, entstand erst mit dem Krieg. Die nationalistische Stimmung verschwand allerdings zum Leidwesen ihrer Befürworter in den 1870er Jahren u.a. aufgrund sozialer Kämpfe wieder. Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts begannen sich die Menschen, die im deutschen Reich lebten, auch mit ihrer Nationalität zu identifizieren, sich als Deutsche zu fühlen. Ein Krieg mit Millionen von Toten (1914-18) und die deutsche Sozialdemokratie, die ab 1918 eine neue zentrale nationale Herrschaft und staatliche Souveränität begründete, verhalf dem zur Durchsetzung. Die bürgerlichen Revolutionen und die Industrialisierungen schafften nicht die individuelle Freiheit, sondern stattdessen die Nation als politischen Faktor, als politisches Subjekt und "nationalen Kollektivismus". (H.O. Ziegler 1931, S.5-7)

Begriffe wie Nation, Volk oder Kultur werden in "Deutschland" von rechten Politikern aller Couleur verwendet, um den Leuten den Kopf zu verdrehen, Gedanken zu verbiegen, neue Mythen und Legenden zu schaffen bzw. alte wiederzubeleben, um Gefühle wie fremde Länder zu besetzen. Sie sind keine Gedankenspielerei. In vielen Ländern der "Dritten Welt" spiegeln sie historische, politische und soziale Entwicklungen und Wirklichkeiten wieder. Verschiedene soziale und politische Gruppen in der "Dritten Welt" versuchten, europäische Entwicklungsgeschichte zu kopieren und fordern eigene Staaten oder bauen auf eine "nationale Befreiung". Sei es in Vietnam, Nord-Korea, Angola, Mozambique, Cuba, Nicaragua usw. Dort wurden aus anti-kolonialistischen Befreiungsbewegungen neue Staatsapparate, neue bürokratische Machtzentren, die Herrschaft ausüben, politische und soziale Opposition unterdrücken, die die ArbeiterInnen ausbeuten und entmündigen, die sexistische und rassistische Ideologien verwirklichen, die foltern, morden und vertreiben. Wirkliche Befreiungstendenzen von kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Herrschaftsverhältnissen, hin zu einem selbstbestimmmten Leben in selbstverwalteten Gesellschaften oder sozialen Gemeinschaften hat es bisher nicht gegeben.

Literaturliste:

  • Alter, Peter, Nationalismus, Frankfurt a.M. 1985
  • Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. ZurKarriere eines folgenreichen Konzeptes,
  • Frankfurt a.M./New York 1988
  • Balibar, Etienne, Gibt es einen "NeoRassismus"?, S.28, in: Etienne Balibar / Immanuel Wallerstein, Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1991
  • Berger, P. / Luckmann, T., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Stuttgart 1969
  • Boehm, Max H., Das eigenständige Volk, Göttingen 1932
  • Fischer, Fritz, Der Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961
  • Gellner, Ernest, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991
  • Haug, Wolfgang, "Pogrome beginnen im Kopf", in: SF 4/91, S.14-18
  • Hoffmann, Lutz, Volksgeist oder Menschenwürde. Über das Unzeitgemäße des deutschen Nationalstaatsdenkens, in: IZA 3/90, S. 11-14
  • Reiterer, Albert F., Die unvermeidbare Nation, Frankfurt a.M./New York 1988
  • Röper Erich, Nicht einmal die deutsche Sprache war ein Muß im Kaiserreich, in: FR 16.6.93, S.12
  • Sulzbach, Walter, Imperialismus und Nationalbewußtsein, Frankfurt a.M. 1959
  • Ziegler, Heinz O., Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931

(*Abaleta = frz. v. a bas l'etat = Nieder mit dem Staat).

Aus: „Schwarzer Faden” Nr. 51, 4/1994

Gescannt von anarchismus.at


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