Der Spiegel - Anarchismus: Aufstand der Basis (1973)

Alles Chaoten, alles Anarchisten ;-). Der Spiegel hat einen großen Teil seiner alten Ausgaben inzwischen online verfügbar - ein Besuch seines Archivs ist durchaus interessant.

Sie agitieren bei wilden Streiks, besetzen Wohnungen, stürmen Rathäuser, und einige berauben Banken. Ihr Ziel ist eine brüderliche Gesellschaft, eine idyllische Welt. Sie nennen sich Maoisten, Trotzkisten oder Kommunisten. Man nennt sie Chaoten. Sie sind Anarchisten. Aber sie faszinieren die Jugend und infizieren Parteien.

Die Richter sind "Schweine" (Horst Mahler) oder "fette Ratten" (Andreas Baader). Des Richters böse Pflicht ist, laut Gudrun Ensslin, Menschen "zu vernichten" oder, laut Manfred Grashof, sie "fertigzumachen". Mit dem Gesetz sollen die Richter sich "den Arsch wischen". Der Anblick von Polizisten ist für Heinrich Jansen nicht zu ertragen. weil er "sonst kotzen müßte". Das am häufigsten von Baader verwendete Wort ist "Scheiße". Mit seiner zweiten Lieblingsvokabel. "ungeheuer", ergibt sich eine Art von anarchistischer General-Formel für die "Gesellschaft von heute: "ungeheure Scheiße". Die Schmutz-Sprache der Anarchisten beschreibt die Gesellschaft als durch und durch böse und entfremdet - eben als beschissen. Sie bezieht ihre Rechtfertigung aus der Vorstellung, es gäbe eine andere, entweder vergangene oder zukünftige Gesellschaftsordnung, die durch und durch gut ist - eine Welt des völligen Friedens, der völligen Freiheit, der völligen Gerechtigkeit und des gleichen Glücks für alle.

Alle anarchistischen Denker - angefangen von William Godwin (1756 bis 1836), dem ersten unter ihnen, bis hin zu Ernest Mandel (geboren 1923), einem der jüngsten - haben sich bemüht, das Goldene Zeitalter zu beschreiben. Gelungen ist es keinem. Für alle ihre Versuche gilt, was Rudi Dutschke auf dem Höhepunkt der studentischen Rebellion aussprach: "Die ganze Emanzipationsbewegung krankt zur Zeit daran, daß sie eine konkrete Utopie noch nicht ausgemalt hat."

Gleichwohl haben diese Versuche - zumal die von Pierre Joseph Proudhon, Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin und Gustav Landauer - bis auf den heutigen Tag eine inspirierende Wirkung gehabt. In den sechziger Jahren entzündeten sie, wie der Journalist Kai Hermann beschrieb, an den Universitäten "eine Religion der Negation", die im Mai 1968 in Paris sogar einen Aufstand inspirierte. Von den "Chaoten" von heute ist sie wieder entflammt worden. Moralische Empörung ist den Hausbesetzern, den Rathausstürmern, den KPD Agitatoren der wilden Streiks bei Ford und Opel nicht abzustreiten. Sogar der CDU-Abgeordnete Hans Dichgans gesteht dem "Trotzkisten" Ernest Mandel, der in Wirklichkeit eher ein Anarchist ist, "ehrliche Leidenschaft" zu.

Unbestreitbar ist auch, daß der Gesellschaftsprotest der Erzväter des Anarchismus durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Bestätigung erfahren hat. Die Verbrechen Hitlers und Stalins haben Recht und Ordnung in Zwielicht getaucht. Die Sachzwänge der modernen Gesellschaft überziehen den Bürger mit einem immer enger werdenden Netz bürokratischer und technologischer Regulationen.

Wissenschaft und Publizistik beschäftigten sich in den Sechzigern vorwiegend mit den Gewalt-Thesen der Anarchisten (SPIEGEL 47/1969). Erst neuerdings richtet sich das Interesse auch auf deren Friedensvorstellungen. Der Fackelträger-Verlag in Hannover gibt eine Geschichte des "Anarchismus in Deutschland" heraus, von der Ende September der zweite Band erscheint. Der Freiburger Politikwissenschaftler Professor Erwin Oberländer veröffentlichte im vorigen Jahr eine sachkundig kommentierte Sammlung von anarchistischen Texten: "Der Anarchismus" (Walter-Verlag. Olten; 480 Seiten; 32 Mark.

Ausgangspunkt aller anarchistischen Gesellschaftsvorstellungen ist die These, daß der Mensch von Natur aus gut ist, oder, wie die spanischen Anarchisten 1936 am Vorabend des Bürgerkrieges sagten: "nicht von Natur aus schlecht ist".

Das Verbrechen ist mithin für fast alle Anarchisten eine "Krankheit" oder die "logische Folge der sozialen Ungerechtigkeit", wie es die anarchistische Confederación National del Trabajo (CNT) 1936 ausdrückte.

Polizisten, Richter und Gesetze werden in der vollendeten Anarchie überflüssig sein. Pjotr Kropotkin (1842 bis 1921) hoffte, als er 1917 nach Rußland zurückkehrte, daß Lenin "den ganzen alten Schlamassel von Beamten, Polizisten et cetera" abschaffen werde, wurde allerdings bitter enttäuscht. John Olday, ein inzwischen verschollener deutscher Anarchist, lehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gar ab, Nazi-Verbrechen anzuzeigen. "Achtgroschenjungen", die mit der Polizei zusammenarbeiteten, rechtfertigten in jedem Fall das "System" der Unterdrückung, meinte er.

Freilich waren nicht alle Anarchisten so optimistisch wie die CNT, die hoffte, das Verbrechen zugleich mit der Armut abschaffen zu können. Der bekannteste amerikanische Anarchist des vorigen Jahrhunderts, Benjamin R. Tucker (geboren 1854), wollte den Schutz von Person und Eigentum, "solange er notwendig sein mag", durch kommunale Selbstschutzverbände bewirken, also nach der Art der Cowboys.

Im übrigen meinte Tucker, daß "alle Versuche, das Laster zu unterdrücken, als an und für sich verbrecherisch" anzusehen seien. Es sei "das Recht des Trunkenbolds, des Spielers, des Wüstlings und der Dirne, ihr eigenes Leben zu führen". Ob auch des Mörders, ließ er offen.

Freiheit auch für Korruption und Ausbeutung

Noch weiter ging Michail Bakunin (1814 bis 1876), der schrieb, daß alle Menschen das Recht hätten, sich zu welchem Zweck auch immer zu "assoziieren" -- "selbst mit dem Ziel der gegenseitigen Korruption und der Ausbeutung der Harmlosen und Dummen, vorausgesetzt, daß diese nicht minderjährig sind". Er wollte also sogar Verbrecher-Assoziationen zulassen. Jedermann habe die Freiheit, entweder "ehrlich zu leben" oder durch "schimpfliche Ausbeutung".

Nicht ganz logisch. Hoffte er, daß "schmarotzende, bösartige und schädliche Personen" durch die "heilbringende natürliche Macht der öffentlichen Meinung" gezügelt werden würden - eine Idee die noch 1949 Willy Huppertz in der Zeitschrift "Befreiung" vertrat: Auch in einer freien Gesellschaft könne sich niemand seinen Pflichten entziehen, "ohne aufzufallen".

Dabei schloß Bakunin - noch unlogischer - keineswegs die Notwendigkeit von Richtern und Gesetzen aus, allerdings mit äußerst grausamen Konsequenzen. Wer, so schrieb er, nach dem Gesetz verurteilt worden sei, habe zwar das Recht, die Annahme der Strafe zu verweigern und aus der Gesellschaft auszutreten. Doch könne er dann "ausgeraubt, mißhandelt, selbst getötet werden, ohne daß die Gesellschaft sich darum kümmern würde".

Bakunin propagierte also einerseits die totale Freiheit - auch die des Verbrechens -, drohte aber andererseits dem Verbrecher die totale Brutalität an, wie sie kein institutionalisiertes Recht kennt: die straflose Ermordung.

Der anarchistische Abscheu vor staatlicher, kirchlicher, rechtlicher und polizeilicher Autorität hatte von Anfang an eine antiintellektuelle Tendenz. Proudhon, Bakunin, Georges Sorel und last alle deutschen Nachkriegs-Anarchisten glaubten, in den Gelehrten und Intellektuellen, vor allem den marxistischen, die Tyrannen der Moderne zu erkennen.

Bakunin sah voraus, daß der marxistisch-sozialistische "Volksstaat" die Leitung von Produktion und gerechter Verteilung, die Organisation des Handels und vor allem das Kapital in den Händen weniger Fachleute konzentrieren werde. So werde die "Herrschaft der wissenschaftlichen Intelligenz" entstehen, "des aristokratischsten, despotischsten, arrogantesten und verächtlichsten aller Regime". Die Herrschaft dieser "neuen Klasse" werde bei den Massen Unzufriedenheit hervorrufen, und so werde "Marxens aufgeklärte und befreiende Regierung einer nicht weniger beträchtlichen bewaffneten Gewalt bedürfen."

Ganz im Sinne Bakunins stellte 1969 ein pragmatischer Anarchist, der amerikanische Professor William 0. Reichert, fest: "Der Sozialismus hat die Schwierigkeiten, der Staatsmacht Grenzen zu setzen, noch vermehrt."

Auch der deutsche Nachkriegs-Anarchismus trug, wie dessen Historiker Günter Bartsch schreibt, das "traditionelle anti-intellektuelle Ressentiment wie eine Fußkette mit sich herum". Heute lebt es an den Universitäten weiter in dem Protest gegen "repressive" Examen, Leistungszwang und industriellen Fortschritt.

Der entscheidende Grund für den anti-intellektuellen Affekt des Anarchismus ist in dessen (von dem Franzosen Pierre Joseph Proudhon formulierten) Hauptgrundsatz zu suchen, wonach die freie Gesellschaft "von unten nach oben" aufzubauen sei.

Dadurch erhält im anarchistischen Denken alles, was "unten" oder "Basis", "Volksgefühl" oder "spontan" ist, Vorrang: der "Instinkt" des Volkes (Proudhon), die "instinktiven Aspirationen der Volksmassen" (Bakunin) und die "Spontaneität" (Sorel), die Lenin so verhaßt war.

Die Vorliebe für Basis-Gruppen und Basis-Gefühle erklärt den Hang vieler anarchistischer Denker zum Konventikelwesen und zum ländlichen oder handwerklichen Idyll - so bei Proudhon und Gustav Landauer, dessen Münchner Räteregierung 1919 plante, die städtischen Arbeitermassen zurück auf die Dörfer zu verpflanzen. Hand in Hand mit dem "Von unten"-Denken gingen oft - nicht immer - biologische und nationalistische Gedanken oder gar "Blut und Boden"- Parolen. Landauer: "Nation als natürlicher Zwang der geborenen (also ethnischen) Gemeinschaft ist ein urschöner und unausrottbarer Geist."

Die Familie - ein Herd für Brutalität und Grausamkeit

Alle Anarchisten lehnen neben institutionellem Zwang auch intellektuelle Lenkung ab: Gesinnungs-"Impfung" (Proudhon), "Gesinnungs-Manipulation" (Herbert Marcuse), "Herrschaft der Eierköpfe" (Bakunin) oder die "Überbetonung von Leitung und Direktion", wie sie, laut Dutschke, Lenin von Marx übernommen hatte.

Zu dem Bereich des natürlichen und deswegen gesunden "Instinkts" rechnen viele, wenngleich nicht alle Anarchisten auch die Sexualität. Proudhon war eine Ausnahme. Er hielt die Frau für "von Natur unzüchtig und provozierend" und meinte, sie werde erst durch die Ehe "heilig und unverletzlich". In seinen Kommunen sollte patriarchalische Autorität zum jugendlichen Freiheitswillen konkurrieren.

Doch Proudhons Sittenstrenge ist unter Anarchisten ein Sonderfall. William Godwin, der Anarchist der ersten Stunde, hielt den Geschlechtsverkehr für "eine individuelle Angelegenheit". Benjamin R. Tucker propagierte "das Recht irgendeines Mannes und irgendeiner Frau, oder irgendeiner Anzahl von Männern und Frauen, sich auf so lange oder so kurze Zeitdauer zu lieben, wie sie können, wollen oder mögen".

Dutschke meinte, die Frau könne sich für einen Mann oder zwei entscheiden. Cohn-Bendit schrieb: "Sage nein zur Familie." Peter Brückner, der hannoversche Psychologie-Professor, hält die moderne Familie für neurotisiert, Herbert Marcuse sieht in ihr einen Herd von "Brutalität, Grausamkeit und Aggression".

Willy Huppertz, der Ruhrpott-Anarchist der Nachkriegsjahre, nahm den später aufkommenden Gedanken der Trieb-Befreiung vorweg: "Ist sexuell freiheitliche Entwicklung nicht genußvoll?" Der sexuelle Genuß als Basis-Gefühl bekam politisch-revolutionäre Akzente.

Etwas vorsichtiger waren die spanischen Anarchisten, als sie 1936 die Regeln ihres Regimes entwarfen. Sie wollten die gesetzliche Ehe beibehalten und empfahlen: "Für die Krankheit der Liebe, die blind und widerspenstig machen kann, ist ein Wechsel der Kommune anzuraten", wie für den körperlich Leidenden der "Wasser- und Luft-Wechsel".

Die Idee einer Demokratie "von unten nach oben" wurde 1870 erstmals von der "Pariser Kommune" und 35 Jahre später - 1905 - im damaligen Petersburg verwirklicht. Trotzki und Parvus Hephand (während des Ersten Weltkrieges deutscher Geheim-Agent) waren Führer des Petersburger Sowjet, des Urmodells der Rätedemokratie.

Ratedemokratie gegen entfremdete Macht?

Lenin lehnte die Rätedemokratie ab und funktionierte 1917 die Sowjets zu Führungsmitteln der Partei um. Trotzki selber ließ nach der Oktober-Revolution rätedemokratische Bewegungen, wie den Kronstädter Matrosen-Aufstand oder die ukrainische Machno-Bewegung, niederkartätschen - eine zweifellos beunruhigende historische Tatsache für moderne "Trotzkisten" wie etwa Ernest Mandel.

Die Rätedemokratie soll die ununterbrochene schöpferische Teilnahme aller Gesellschaftsmitglieder an allen Angelegenheiten der Gesellschaft ermöglichen. Stichworte sind: "Permanente Partizipation", "totale Demokratisierung", "Herrschaftslosigkeit".

Die Rätedemokratie will das Entstehen "entfremdeter" Macht verhindern und die bloß "formale Demokratie" des repräsentativen Parlamentarismus durch die "direkte" Demokratie ablösen, indem sie die "Basis" ermächtigt, den von ihr gewählten Beamten, Richter, Abgeordneten und Rat ständig abzuberufen. Der Funktionär soll unter der Kontrolle eines permanenten Plebiszits stehen. Stichwort: "Imperatives Mandat".

"Direkte Demokratie" und "imperatives Mandat" waren und sind nicht Bestandteil des Moskauer Marxismus-Leninismus, gehören wohl aber zum Gedankengut der Neuen Linken und der Jusos. Peter von Oertzen, der heutige Kultusminister von Niedersachsen, schrieb 1963 ein apologetisches Werk über die "Betriebsräte in der Novemberrevolution" und erläuterte 1972: "Durch das Prinzip des imperativen Mandats soll eine wirkungsvolle Kontrolle der Herrschenden und ein möglichst hoher Grad von Selbstbestimmung für das Volk erreicht werden." Allerdings gestand er auch ein, daß er die Räteverfassung für "höchst problematisch" halte.

Tatsächlich gelang auch den Anti-Autoritären von heute nicht, eine konkrete Vorstellung von Rätedemokratie zu entwickeln. Wilfried Gottschalch, jetzt Professor in Bremen, empfahl denn auch 1969 lieber "über Möglichkeiten, Strategie und Taktik revolutionärer Durchbrüche unter den restriktiven Bedingungen der Gegenwart nachzudenken als über Modelle der Rätedemokratie".

Schon 1968 hatte eine vom SDS einberufene "Projektgruppe Räte" befürchtet, daß sich die Links-Intellektuellen, angesichts der Schwierigkeiten rätedemokratischer Theorie und Praxis, zu "hingebungsvollen Stalinisten" wandeln könnten.

Brot, Milch und Salz kostenlos für alle

Der noch von Dutschke beklagte Mangel einer "konkreten Utopie" gehört zu den Geburtsfehlern des Anarchismus, trotz bemerkenswerter Anstrengungen vieler anarchistischer Denker, Pläne einer freiheitlichen Gesellschaft zu entwickeln.

Die Kommunen sollten sich nach den Vorstellungen fast aller Anarchisten freiwillig und unter Wahrung ihrer Autonomie zu Provinzialverbänden, diese wiederum zu Nationalverbänden und diese schließlich zu einem internationalen Verband zusammenschließen, immer jeweils freiwillig, immer mit dem Recht, jederzeit austreten zu dürfen. "Gesellschaft", schrieb Landauer, "ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften"

Neben der regionalen Gliederung der anarchistischen Gesellschaft soll es eine professionelle geben - nach "Assoziationen". Das sollten, laut Proudhon, Berufsorganisationen unter dem Dach der jeweiligen Kommune sein, laut Bakunin jedoch regional übergreifende Berufsverbände oder Zweck-Organisationen oder auch Interessen-Bünde (neben oder auch oberhalb der Kommunen), darunter auch solche mit verbrecherischem Zweck und übernationaler Erstreckung.

Freilich, wie die regionale, die professionelle und die Interessen-Gliederung der Gesellschaft ineinandergreifen sollen, ist von der anarchistischen Lehre nie bis zu Ende durchdacht worden, obwohl die Frage für eine ganze Reihe von Problemen bedeutsam ist - zum Beispiel für die Eigentumsverhältnisse. Fragen wie: Wer besitzt die Fabriken und die Schreibtische: die Kommunen oder die Assoziationen?, oder: Was geschieht mit dem Besitz der Assoziationen, die sich ständig im Fluß befinden, wenn sie sich auflösen? sind von den Anarchisten nie geregelt worden.

Proudhon prägte zwar das Schlagwort "Eigentum ist Diebstahl", war aber keineswegs gegen das Eigentum von Bauern und Handwerkern. Bakunin meinte, im Gegensatz zu Proudhon, der Boden sei Eigentum aller, aber Besitz der Bebauenden, und die Produktionsmittel Kollektiv-Besitz der Assoziationen. Der Schweizer Anarchist Guillaume aber wollte die Produktionsmittel den Kommunen oder den regionalen Föderationen überlassen.

Landauer propagierte sogar eine permanente Boden-Neuverteilung. Er forderte, "daß in allen Landstrichen von Zeit zu Zeit eine Neuaufteilung des Bodens erfolgt", meinte allerdings auch, daß das nur möglich sei, "wenn ein neuer Geist des Ausgleichs, der Erneuerung aller Lebensbedingungen über uns kommt". Der "neue Geist", auch in der Gestalt eines "neuen (also natürlich friedfertigen) Menschen", ist eine zentrale Figur anarchistischen Denkens.

Lieblingsideen fast aller Anarchisten sind das "statistische Büro" und das "Informations-Büro" als institutionelle Lösungen großräumiger Handels- und Organisationsprobleme. Es bedürfe, meinen sie, eigentlich nur der statistischen Feststellung und informativen Weitergabe örtlicher Mängel- oder Überfluß-Lagen, um einen natürlichen, gewinnlosen und gütlichen Ausgleich der Versorgungsunterschiede zwischen ungleich erfolgreichen Kommunen zu bewirken. Statistiker und Informanten können, so hofft man, keine "entfremdete" Macht ausüben.

Das Problem der Verteilung des Sozialprodukts hat die Anarchisten immer beschäftigt. Bakunin meinte, daß die Kommunen und Assoziationen ihre Mitglieder je nach Leistung am Sozialprodukt beteiligen sollten. Die Kommunen Rotspaniens wollten je nach Leistung "Produzentenbescheinigungen" ausgeben: "Wechsel", die nicht übertragbar sein sollten und nicht mehr als ein Jahr gespart werden konnten - letzteres, um das Entstehen von "Kapital" zu unterbinden.

Aber schon Kropotkin hatte erkannt, daß in der modernen Industriegesellschaft Leistung kaum noch nach Arbeitsstunden zu bewerten ist - und daß deshalb eine Bewertungsbehörde sich schnell zu einer Zitadelle gesellschaftlicher Macht entwickeln könne. Er schlug deshalb das "Bedürfnis-System" vor, also ein System, wonach alle berechtigt sein sollten, "von allem, was sie brauchen, frei zu nehmen".

Ernest Mandel empfahl vor einigen Jahren, mit dem "Bedürfnis-Prinzip", also dem Prinzip des "freien Nehmens", einen Anfang zu machen. Milch, Brot und Salz sollten unentgeltlich und in unbeschränkter Menge an jedermann ausgegeben werden, wie Bücher in der Volksbücherei. Hans Dichgans, der CDU-Abgeordnete, wandte in der "Deutschen Zeitung / Christ und Welt" ein, daß eine solche Regelung dazu führen werde, daß einige Leute das Brot horten, an Schweine verfüttern und so Kapital ansammeln würden - eine Konsequenz, die wohl nur durch ein Bezugsschein-System, mithin nur durch eine daraus entstehende Bürokratie mit Amts-Macht verhindert werden könne: das Gegenteil also dessen, was Anarchisten und freiheitliche Sozialisten wollen.

Daß die Rätedemokratie eine Tendenz zur Bürokratisierung habe und in Wirklichkeit eine "neue Herrschaftsideologie" enthalte, hatte schon Huppertz zu erkennen gemeint.

Der Anarchismus ist, wie einer seiner Anhänger. Colin Ward, vor einigen Jahren in der englischen Zeitschrift "Anarchy" schrieb, "eine Theorie der spontanen Ordnung".

Diese Theorie entstand - historisch gesehen - als feindliche Zwillingsschwester der modernen kapitalistischen oder sozialistischen Industriegesellschaft und deren Tendenz, menschliche Spontaneität unter technologischen, politischen und bürokratischen Zwängen zu begraben.

Mehr moralische Lebensqualität durch Verarmung?

Dieser historische Zusammenhang erklärt auch die aktuelle Bedeutung des Anarchismus - als impulsiver Reflex auf den Ordnungszwang der modernen Gesellschaft. George Orwell sprach begeistert von der "Mystik" des anarchistischen Sozialismus. Tatsächlich ist der Anarchismus eine moralische, gefühlvolle und irrationale Bewegung. Seine Absicht ist, wie der Historiker des deutschen Nachkriegs-Anarchismus, Günter Bartsch, schreibt, "Antipolitik", also die entschiedene Leugnung von politischer Realität - von "Macht". Er ist Protest gegen die Realität überhaupt.

Englische und amerikanische, sogenannte "pragmatische" Anarchisten sehen denn auch nur dort Chancen für ihre Lehre, wo sich unterhalb der nationalen, regionalen und manchmal erdballumgreifenden ökonomischen und politischen Machtstrukturen kleine Zelten der Spontaneität, Subkulturen der Freiheit, bilden können, zum Beispiel "betriebsnahe Gewerkschaften" als Vorformen betrieblicher Arbeiterselbstverwaltungen - eine Forderung, die von KPD/ML-Agitatoren während der jüngsten wilden Streiks erhoben wurde.

Spontane Organisationen müssen, meint Colin Ward, freiwillig, funktionsgerecht, zeitlich begrenzt und klein sein, also eben diejenigen Eigenschaften besitzen, die dem Charakter der industriellen (kapitalistischen oder sozialistischen) Gesellschaft widersprechen.

Nur als ferne Hoffnung ziehen diese Anarchisten in Erwägung, daß die Wissenschaft langsam die zur Zeit vorhandene Groß-Technologie durch handlichere technische Systeme ablösen könnte, also zum Beispiel Kleinst-Kraftwerke, leicht zu bedienende Maschinen, einfache Organisationsformen. Nur so, meinen sie, lasse sich im technischen Zeitalter das Ideal kleiner, autonomer Sozialgruppen verwirklichen.

Sie nehmen dabei in Kauf, daß die dadurch mögliche moralische Lebensqualität durch eine begrenzte Verarmung abgegolten werden muß, denn nur so werde, meint der amerikanische Anarchist Robert Paul Wolff, "eine solche Gesellschaft es allen Menschen ermöglichen, autonom Handelnde zu sein".

Aus: DER SPIEGEL 37/1973

Originaltext: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41911270.html


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