Gabriel Kuhn - Vorwort zur Reshape

Seit Ende der 90er Jahre hat sich das CrimethInc. Ex-Workers‘ Collective nicht nur als einflussreichste, sondern auch als umstrittenste Gruppe innerhalb des US-Anarchismus etabliert. Der Einfluss ist jedoch seit langem nicht mehr auf die USA alleine beschränkt. CrimethInc.-Texte wurden mittlerweile in über zwanzig Sprachen übersetzt, darunter Hebräisch, Chinesisch und Esperanto. Die Emotionen schlagen dabei vielerorts genauso hoch wie in den USA, bei den Bewunderern ebenso wie bei den Widersachern. Während etwa im irischen Workers Solidarity Movement von CrimethInc. als einem „subkulturellen Kult von verwöhnten Mittelklasse-AmerikanerInnen“ die Rede ist, berichteten jüngst schwedische AktivistInnen in dem Buch Vi är misfits: queerfeministisk aktivism och anarkistiska visioner, dass sie in einer New Yorker Badewanne von CrimethInc.-Texten zu Tränen gerührt wurden. Die beiden Reaktionen fassen die unterschiedlichen Perspektiven auf das Kollektiv gut zusammen: einerseits gefeiert für Inspirationskraft, Kreativität und Poesie, andererseits angeklagt für jugendliche Naivität, bürgerlichen Individualismus und oberflächlichen Lifestyle-Fokus.

Hervorgegangen ist das CrimethInc.-Projekt aus Punk-Rock-Zusammenhängen. Bands wie Catharsis (1994-2002) zählen genauso zum frühen Umfeld wie das Hardcore-Punk-Zine Inside Front (1994-2003). Geläufig wurde der Name vor allem mit der Veröffentlichung des Buches Days of War, Nights of Love: CrimethInc. for Beginners (2001), einer Sammlung von Texten, die der Willens- und Befreiungskraft des Individuums huldigen und den revolutionären Akt vor allem im Zurückweisen bürgerlicher Normen sehen. Ein Jahr später erschien die Broschüre Fighting for Our Lives, in der die Idee der CrimethInc.-Anarchie (von einem ideologischen Anarchismus abgegrenzt) zusammengefasst wird. Die Broschüre wurde bisher fast eine Million Mal kostenlos verteilt, was den Text zu dem am meisten verbreiteten und gelesenen anarchistischen Text des letzten Jahrzehnts macht. Eine deutsche Übersetzung findet sich in dem Buch ‚Neuer Anarchismus‘ in den USA: Seattle und die Folgen (Unrast 2008).

Weitere populäre CrimethInc.-Veröffentlichungen sind Evasion (2001), das kontroverse Reisetagebuch eines jungen veganen Straight Edgers, der mit Güterzügen und per Anhalter durch die USA reist und sich mit Cointainern, Ladendiebstahl und Trickbetrügereien über Wasser hält, sowie Recipes For Disaster: An Anarchist Cookbook (2004), eine Art Handbuch für revolutionäre Alltagsaktivität, mit Einträgen von „How to Make a Bicylce into a Record Player“ bis zu „Blockades and Lockdowns“. Ende 2007 erschien Expect Resistance: A Field Manual, eine Kombination von älteren und neueren Texten des Kollektivs. In engem Kontakt mit CrimethInc. steht auch die Curious George Brigade, deren Buch Anarchy in the Age of Dinosaurs von der More Than Just Music Brigade als Die Anarchie im Zeitalter der Dinosaurier ins Deutsche übersetzt und 2006 im Unrast-Verlag herausgegeben wurde.

Als die wichtigsten von CrimethInc. veröffentlichten Zeitschriften sind Harbinger (seit 1997) und Rolling Thunder (seit 2005) zu nennen. Dazu kommen eine Reihe von Zines, Tausende von verteilten Postern und Aufklebern, sowie die Website www.crimethinc.com. Zudem sind CrimethInc.-AktivistInnen in lokalen Initiativen wie Food Not Bombs-Gruppen oder Really Really Free Markets (einem Art Gratis-Flohmarkt) ebenso aktiv wie in überregionalen Organisationszusammenhängen gegen Partei- oder Weltwirtschaftsgipfel. Jedes Jahr wird zudem eine CrimethInc.-Convergence veranstaltet, ein einwöchiges Treffen mit Workshops, Performances, direkten Aktionen usw.

Trotz der starken Aufmerksamkeit, die das CrimethInc.-Kollektiv seit vielen Jahren auf sich zieht, bleiben seine Zusammensetzung und interne Struktur undurchsichtig. Die „CrimethInc.-AgentInnen“, wie sich die Angehörigen des Kollektivs gerne nennen, scheinen das Rätselraten zu genießen, das sich um ihre Identität genauso dreht wie um die Frage, wie sich die zahlreichen Initiativen des Kollektivs finanzieren lassen. Die Offenheit des Projekts wird seit jeher stolz betont. Letztlich können alle, egal wann, wie und wo, den Namen CrimethInc. für sich beanspruchen. CrimethInc. wird von den Beteiligten selbst als „soziales Phänomen, keine Bewegung oder (um Himmels Willen!) eine Vereinigung mit Mitgliedern“ beschrieben. Noch 2006 betonte der „Ten Year Report“ der Gruppe, dass „alle ihre eigenen Crimethinc.-Gruppen starten können“. Die Frage nach der Anzahl der Aktiven wird im selben Text so beantwortet: „Im Laufe der letzten zehn Jahre war CrimethInc. manchmal buchstäblich nur eine Person … und dann wieder ein Netzwerk von Tausenden.“

Die Absicht der GenossInnen von Black Mosquito, mit dem vorliegenden Heft in CrimethInc.-Manier eine kostenlose Leseunterlage für anarchistisch Interessierte zur Verfügung zu stellen, ist erfreulich. Da sich die Textsammlung wesentlich auf bereits vor einigen Jahren vom „Flatline Imperium“ übersetzte und unter dem Titel Interface – Schnittstelle zum neuen Jahrtausend als Zeitung und im Internet veröffentlichte Texte stützt, kommt dabei vor allem die frühe CrimethInc.-Phase zur Geltung, die heute von CrimethInc.-AgentInnen selbst gerne als „romantische Phase“ bezeichnet wird. Was in diesem Rahmen nicht zum Ausdruck kommen kann, ist die Entwicklung von CrimethInc. im letzten Jahrzehnt. Diese ist insofern von Bedeutung, als dass sie vieles an der Kritik, schwärmerisch, naiv, privilegiert und arrogant durch die Welt zu stolpern, relativiert. Texten wie „Demonstrating Resistance“ (zu radikalen Aktionsformen), „Green Scared?“ (zur Repression von Tierrechts- und UmweltaktivistInnen in den USA) oder „Going It Alone“ (zum Widerstand gegen die US-Parteitage 2008) kann weder analytische Schärfe noch gesamtgesellschaftliches Engagement abgesprochen werden.

Das vorliegende Heft ist als Einstieg und Anstoß zu begreifen. Als eine Sammlung von Texten, die einen Eindruck von den Grundlagen und revolutionären Hoffnungen des CrimethInc.-Projekts vermitteln. Das Projekt darf jedoch nicht auf die hier präsentierten Texte reduziert werden. Denjenigen, die sich für einen analytischeren Zugang zu politischen und ökonomischen Verhältnissen und für selbstkritische Reflexion interessieren, sei empfohlen, die „Online Library“ auf der CrimethInc.-Website zu durchstöbern, in Ausgaben von Rolling Thunder zu blättern oder das Interview „Was sind Ex-ArbeiterInnen?“ im Unrast-Band Bewegung – Vielfalt – Widerstand. Texte zum Anarchismus (2009) zu studieren.

Wie auch immer diese Einstiegstexte gelesen werden, sie werden bestimmt eines nicht verfehlen: Gemüter werden erhitzt und Diskussionen angeregt werden. Diese Wirkung haben CrimethInc.-Texte noch nie verfehlt, egal ob sie Begeisterung oder Empörung auslösen. Darin mag ihr größtes Verdienst liegen.

Gabriel Kuhn

Originaltext: http://crimethinc.blogsport.de/2010/05/26/vorwort-zur-reshape/


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