Ferdinand Groß - Auch dieser Staat muß überwunden werden!
In der Geschichte des menschlichen Gedankenlebens sind der fruchtbaren, konstruktiven Ideen nur wenige. Und auch sie werden nur erkämpft nach Überwindung einer Unmenge von Irrtümern, Vorurteilen und falschen Begriffen. Dadurch wird der Kampf um jeden neuen Fortschritt immer vorerst zu einem Kampf gegen die Mächte des Rückschritts. Sind diese geschlagen, so ringt sich die Wahrheit, der Wert des Neuen, schon von selbst durch, siegt dank eigener Vorzüglichkeit und Vortrefflichkeit. So verhält es sich auch mit unserer Kritik an der heutigen Staatsgesellschaft, die, wir verhehlen es nicht, das Zeitliche zu segnen hat. [...]
Uns kommt es vor allem auf eine intellektuelle Überwindung und geistige Erledigung des Staatsprinzips an, das gegenwärtig seinen Triumph und zugleich Bankrott als Idee des Sozialismus erlebt. Aus dem Elend des zweiten Weltkrieges und der scheußlichen Irreführung des Bewußtseins der breiten Massen des arbeitenden Volkes durch den rassistischen Nationalsozialismus in Deutschland und Österreich, ragt dieser als der wahre Schuldige empor, der den verbrecherischen Völkermord möglich machte, daß die Arbeiterbewegung in ihm zusammenbrach, daß sie dank ihrer nationalistischen Fossilierung (Versteinerung) nur eine Scheinbewegung, eine Karikatur auf ihr wahres Sein und Wollen war, und nach Beendigung des Weltkrieges zum Übergang zu wahrem Sozialismus sich als unfähig erwies. [...]
Daß eine völlige Verblendung, Vernunftverfinsterung des Intellekts wie der breiteren Volksschichten, wie sie der Staat verkörpert, nicht leicht zu beseitigen ist, wird klar, wenn man sich all die Massen von Irrtümern, Vorurteilen, philosophischen Hirngespinsten und sophistischer Kasuistik (Wortverdreherei, Haarspalterei) vergegenwärtigt, gegen die wir in unserer Arbeit anzukämpfen haben, ehe wir sie zum Abschluß bringen können. [...] Unsere Untersuchung soll jedem Suchenden den Weg erleichtern und beim Studium des geistigen Unrats des Staates behilflich sein. Wir sind dabei zuversichtlich, daß im schließlichen Endresultat einer selbständigen Betrachtung der Leser und die Leserin sich eins mit uns finden und fühlen wird, denn nur Unwissenden und Kenntnislosen kann von verlogenen, politischen Strebern, die für ihre Niedertracht und Volksverführung des heiligen Mäntelchens einer angeblichen "Wissenschaftlichkeit" so bedürfen, wie die Theologen für ihre Vernunftbetörung die Offenbarungsanmaßung - nur Unwissenden und Kenntnislosen kann gesagt werden, daß der Staat überhaupt etwas gemein habe mit Sozialismus. Mit demjenigen Sozialismus, der die Befreiung der Menschheit aus den Banden aller sozialen, ökonomischen und staatlichen Bevorrechtung anstrebt, gewiß nicht. [...] Es ist also höchst notwendig aufzuklären, den Staat zur Gänze zu zergliedern, ihn zu untersuchen, um ein vollständiges Resümee geben zu können:
1. Philosophisch sind seine Bestandteile reaktionär. Er hat niemals den Klassenunterschied überwunden, nicht einmal kritisiert. Was der Staat kritisiert und bekämpft, sind freiheitliche Tendenzen im Volk, das ihn für unfähig hält, zu wirklichen sozialen Lebenswahrheiten und Lebensaufgaben zu gelangen.
2. Jeder Versuch des Staates, sein Herrschafts-, Gewalt- und Autoritätsprinzip zu überwinden, zu verknüpfen mit der klarsten Freiheits- und Befreiungsidee der Menschheit, führt zur Diskrepanz und zu einer neuen Bastardisierung aller Logik und Vernunft, welche als nichtig zu durchschauende Begriffe, als unfreie Sozialzustände zu verwerfen sind.
3. Infolge seiner unlösbaren Verbindung und auch Durchdringung mit Gewalttendenzen (Polizei, Justiz und Militär) gelangt der Staat dazu, das despotische Gewaltprinzip zu übernehmen. Nur durch demokratische Worttiraden umkleidet er seinen absolutistischen Gewaltcharakter, um als autoritärer Idealbegriff für den Bestand der Gesellschaft daseinsberechtigt und anerkannt zu sein. Somit enthält der Staat von wirklicher Menschen- und Gesellschaftsfreiheit nicht ein einziges wertvolles Element.
4. Im Gegenteil: Der Staat als autoritäre, absolute, zentralistische Allmacht ist der Gegensatz von gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Er ist das Fundament, der Garant für das Profitstreben der reaktionären Bourgeoisie, der Kapitalisten, die mittels ihres Reichtums an Geld, materiellen Besitztums, ihres Lohnsklavensystems, ihrem eigensten Strebensziel gemäß arbeitende Massen ausbeuten und unterdrückt gegenüber deren wahrer Befreiungsinteressen.
5. Beim Bewußtwerden solchen Sachverhaltes ist es bei den modernen Lohnsklaven, ihrem erbärmlichen Abhängigkeitsverhältnis von ihren Peinigern und Geldgebern, nur zu begreiflich, wenn sie aufbegehren, initiativ werden und zu Maßnahmen greifen, um sich ihres menschenunwürdigen Zustandes zu entledigen. Aber da lernen wir den Staat in seiner ganzen Gewalt- und Machtfülle kennen, wenn er eines seiner Bollwerke (Institutionen) in Gefahr sieht, zum Sturz gebracht zu werden. Seine Exekutivgewalt (Polizei und Militär) zwingt die um ein besseres Dasein Kämpfenden mit brutalen Mitteln zur Staatsräson zurück.
6. Diese Feststellung ist durchaus Realität: Der Staat vertritt also weder menschliche, soziale und kulturelle Prinzipien, noch betreibt er sinnvolle Kommunal- und Sozialpolitik, sondern verkörpert durch demokratische, republikanische Repräsentanten das Autoritäts-, Monopol- und Ausbeutungsprinzip der Staatsdiktatur, den Staatszäsarismus.
7. Ein solcher Gesellschaftszustand ist daher das Fundament der herrschenden Macht und Gewalt, ist die Mauer und der Wall der bestehenden Gewaltordnung des Staates, des Kapitalismus, des Militarismus, der Gesetzgebung, der Lohnsklaverei und nicht zuletzt des Monopolismus. Dies alles ist zu verwerfen und zu bekämpfen, weil es wert- und belanglos nicht zur Klarheit, geschweige zum wahren Befreiungsgedanken der Menschheit führt, noch zur Aufklärung über den Sozialismus dienen kann, vielmehr zur weiteren Verballhornisierung auf eine der Nationalökonomie übliche Weise geleitet. Daher sind Versuche, den Hervorgang des Sozialismus aus dem bestehenden kapitalistischen System zu erweisen, eine geradezu klägliche staatliche "Negation" und haben nichts mit wissenschaftlicher Beweisführung zu tun.
8. Gerade durch die Ausdehnung, Entwicklung, Steigerung und Zentralisierung des Kapitalismus und des Staatssystems selbst mit der Förderung und Begünstigung solcher Tendenzen wird der Staat zu einem Vorspann nicht des Sozialismus, sondern der bestehenden Gewaltordnung und ihres monopolkapitalistischen Wirtschaftssystems. Unmittelbare, sofortige und direkte Förderung durch den Staat erhalten nur jene Institutionen, deren Herrschafts- und Ausbeutungstendenzen als allgemein von den führenden Staatsvertretern anerkannt und befürwortet werden.
9. Auch das Parlament, das für die Rechte und den sozialen Fortschritt der arbeitenden Massen eintreten sollte, erfüllt als Institution des Staates nur quasi als Linderungsmission seine Aufgabe unter dem Druck und der Willkürherrschaft der Unternehmer und Kapitalisten, deren Ausbeutungs- und Unterdrückungstendenzen. Und statt diesen durch Arbeitszeitverkürzungen, Arbeiterschutzgesetze, Lohnsteigerungsaktionen und sonstige notwendige Forderungen mehr zu begegnen, gewähren der Staat und das Parlament den Werktätigen keinerlei solche Forderungen, denn die Sozialausgaben des Staates beschränken sich immer auf das Geringste, um sein Budget, das durch immense Schul-den belastet ist, für seine unproduktiven Institutionen - Militär, Polizei, Justiz, Bürokratie - denen er sein besonderes Hauptaugenmerk zuwendet, bereit zu halten.
Ist es da nicht verständlich, wenn der Staat immer mehr den Glauben bei den Staatsbürgern einbüßt, letztendlich bei ihnen der Zweifel aufkommt, daß es sich um einen Sozialstaat handle? Im Gegenteil: Er hat das Unsoziale in ein System gebracht, das weder menschheits- noch wirtschaftsbefreiend sein kann, geschweige denn sozialen Fortschritt im Sinne von Wohlstand für alle in irgendeiner Weise imstande zu erfüllen vermag.
Das Gesamtsystem des Staates entbehrt also aller wesentlicher Bestandteile einer sozialistischen Kritik, einer sozialistischen Neugestaltung, es ist leer davon und überläßt die letztere vollständig der grauen, kalt berechnenden Produktionsweise der ökonomischen, industriellen, kapitalistischen Entwicklung zwecks grenzenloser Profiterraffung - als ob diese je im Stande sein könnte, die Grundlage einer harmonischen, rationellen und freien Produktionsweise zu legen. Der Staat erklärt diese Entwicklung als eine "notwendige", "heilsame" und "glückbringende", er stützt, fördert und verteidigt sie, die in der Realität zum großen Nachteil der arbeitenden Bevölkerung beherrschend, unterdrückend und ausbeutend zugleich wirkt! Dadurch hat er alle Warmherzigkeit, jedes menschliche Mitgefühl und jede Güteempfindung eingebüßt. Aber auch durch die Einseitigkeit seiner Geistesrichtung bringt der Staat das Unsoziale fühlbar und deutlich zum Ausdruck. Es ist empörend, daß er überhaupt kein Verständnis für die immens große Masse all derer hat, die durch das bestehende System furchtbar leiden, und darum ist seine Daseinsberechtigung abzusprechen. Jeder Staat ist die Versinnbildlichung eines Götzen, dem die gesamte Gewalt Menschheit im Banne seiner unendlichen und Macht stets alles zu opfern bereit ist - im Frieden wie im Krieg! Es gilt daher, den Koloß Staat für den wahren Befreiungsgedanken der Menschheit als wert- und belanglos zu erkennen. Umso mehr, weil er das Fundament des Kapitalismus, des Militarismus, der Gesetzgebung, der Lohnsklaverei, des Monopolismus uvm. ist, die alle seine Mauern und Wälle sind, aus denen niemals der Sozialismus hervorgehen kann.
Die Befreiung der Gesellschaft von Staat, Kapitalismus und Militarismus ist ausschließlich von der zunehmenden Intelligenz, dem reifenden Gerechtigkeitsgefühl, dem wachsenden Menschheitsgefühl des Individuums in den breiten Volksschichten und starken Minoritätsgruppierungen zu erhoffen, die dem Staat und Kapitalismus sich, ihren Geist und ihr Arbeitsschaffen nach Möglichkeit zunehmend entziehen und eine neue Gesellschaftsorganisation begründen werden, die sich von jenen energisch und mit allen Mitteln loslöst. Erst nach völliger Überwindung des Staats wird der Sozialismus zu neuem Leben erwachen. Aus den Ruinen jenes allein kann sich echtes sozialistisches Wissen und Erkennen erheben, das sich paaren wird und soll mit Wollen sozialistischer Aktionstat und Verwirklichung.
Ferdinand Groß
Ferdinand Groß war ein Grazer Anarchist - mehr zu ihm gibt es unter "Anarchistische Geschichte"
Aus: "Friedolins Befreiung" Nr. 2/1998
Originaltext: http://oeh.tu-graz.ac.at/~arge-kdv/f298_a2.htm