Macht - Herrschaft - Emanzipation. Aspekte anarchistischer Staatskritik (Buchbesprechung)

Das Buch von Michael Wilk thematisiert "Aspekte anarchistischer Staatskritik" keineswegs ausschließlich auf theoretischer Ebene. Begriffe wie Macht, Herrschaft, Emanzipation bleiben keine abstrakten Formeln, sondern werden vom Autor zu realpolitischen Ereignissen in Verbindung gesetzt. Am deutlichsten zeigt sich das wohl an der "Fallstudie" über die Startbahn-West-Bewegung der frühen 80er Jahre: eine einst mächtige soziale Bewegung mit einem weiten Spektrum an Emanzipationsprozessen, zugleich aber auch ein Fallbeispiel für das Abwürgen eines Massenprotestes durch die Staatsmacht.

Wilk setzt sich jedoch ebenso kritisch mit zahlreichen Konflikten und Schwierigkeiten im "Innern der Bewegung" auseinander. Feststellbar sei zunächst, "daß die gewonnene Vielfalt des damaligen Widerstands, bezogen auf die Unterschiede der beteiligten Personen (Alter, soziale Herkunft...), als auch die Vielfalt der Aktivitäten (Hüttendorf, Volksbegehren, Initiativen allerorten) anwuchs - nicht zuletzt deshalb, weil immer wieder unter großen Mühen und vielen Auseinandersetzungen von allen beteiligten Fraktionen, Spaltungen vermieden werden konnten" (S. 106). Trotz des massiven und breitorganisierten BürgerInnenprotestes wurde die Startbahn-West 1984 in Betrieb genommen. Der Staat und die Flughafen-Aktiengesellschaft (FAG) hatten sich durchgesetzt. "Mit der Inbetriebnahme der Startbahn-West klinkten sich viele resigniert aus der Protestbewegung aus..."(S. 107).

Die Bevölkerung im Rhein-Main-Gebiet ist jedoch inzwischen hochsensibilisiert gegenüber der drastisch zunehmenden Verschlechterung der ökologischen Ressourcen in ihrer Region: "Was zur Zeit die Gemüter erregt, sind zu erwartende weitere massive Einschnitte in einer sowieso schwer gebeutelten Region, sind die Perspektiven auf noch schlechteren Schlaf, noch schlechtere Luft, noch mehr Lärm und noch weniger Wald" (S. 110). 1997 wurde bekannt, dass die Betreiber des Frankfurter Flughafens eine neue Offensive zur Durchsetzung einer oder mehrerer Flugbahnen planen. Im März 1998 schlossen sich 14 BürgerInnen-Initiativen zu einem tragfähigen Bündnis gegen die Flughafenerweiterung zusammen, "um mit vereinten Kräften an der Koordination des Widerstandes zu arbeiten" (S. 109). Die Hessische Landesregierung und die FAG fürchten die Wirksamkeit dieser neuen Protestbewegung. Offensichtlich dient das von der Landesregierung 1999 eingeleitete "Mediationsverfahren" - als eine Form angeblich "kooperativer Konfliktbewältigung" - letztlich zur Durchsetzung bestimmter ökonomisch-politischer Interessen (S. 116ff.). Soll auf diese Weise organisierter BürgerInnen-Protest "integrativ" und mit subtilen Methoden unter sichere staatliche Kontrolle gebracht werden?

Staatssysteme wie das der BRD gründen ihre Herrschaft "nicht nur auf offene Kontrolle und Gewalt", vielmehr sind die sie bestrebt, "die Menschen mit Befugnissen und Kompetenzen" auszustatten und damit zu integrieren (S. 14). Dieses Ziel der Systemintegration lässt "die Unterscheidung zwischen Macht und Gegenmacht immer schwieriger werden" (S. 14). Bei der "modernen Form staatlicher Herrschaft" haben wir es "mit einem System von Machtzirkulation zu tun, die sich der Wahrnehmung eher entzieht, indem sie Konfrontation meidet und nicht auf, sondern durch die Menschen hindurchwirkt" (S. 25). Bedeutet das nun das Ende jeglicher Emanzipations- und Befreiungsprozesse der in das System integrierten Menschen?

Ziel des Autors ist es, Mechanismen der Machtzirkulation aufzuzeigen, um aus libertärer Sicht die Diskussion um individuelle und kollektive Befreiung neu zu beleben. Wenn es um "die Qualität der emanzipativen Potenz" geht, " ist ein Umgang mit 'Macht' gemeint, der die Entwicklung eigener Stärke und von Selbstvertrauen fördert, ohne das Ziel zu verfolgen, über andere herrschen zu wollen" (S. 11). Wir leben jedoch in einem System, das den Menschen über die Einbindung in den sozialen Mainstream "Halt, Sicherheit und soziale Gemeinschaft schafft und das im Umkehrschluß Angst und Unsicherheit erzeugt, sobald die staatlichen Sicherungen zu versagen drohen" (S. 59). Der Glaube an den Versorgungsstaat ist tief verwurzelt. Repressive Bedrohungen, wie der Verlust von Arbeitsplätzen, Sozialkürzungen, rassistische Flüchtlingspolitik usw., fördern keineswegs das Entstehen einer sozialkritischen Bewegung. Im Gegenteil: Ängste werden individuell verarbeitet, die Schuld am Versagen wird weniger "beim System, als vielmehr bei sich selbst gesucht" (S. 59). Aufgestaute Angst und Wut erzeugen oft üble Abwehrreaktionen gegen Minderheiten, Fremde, Sozialhilfeempfangende, Obdachlose, Behinderte... Menschen, die nicht gelernt haben, sich emanzipativ gegen die eigentlichen Ursachen der Misere zu stellen, suchen in der Regel nicht nach kooperativ-verändernden Lösungen.

Schwimmen die "libertär-Bewegten" nun im "sozialen Mainstream" mit oder steht die libertäre Bewegung für radikal- emanzipatorische Veränderungsprozesse? Jedenfalls kommt es für ein "libertäres gesellschaftliches Agieren, das das Ziel verfolgt, emanzipative Wirkung zu erzielen", mehr denn je darauf an, sich den Auswüchsen der schleichenden Herrschaftsmechanismen zu stellen. Letztendlich kann es nicht nur darum gehen, in den eigenen Kreisen, "eine 'authentische' Form libertärer Organisierung zu etablieren" (S. 24). Vielmehr muss im verstärkten Maße bewusst die Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Konflikten gesucht werden. Das Beispiel eines sozialökologischen Konfliktes - Flughafen Rhein-Main -, ist gerade auch für libertär-orientierte Menschen eine Herausforderung.

Johanna

Originaltext: www.graswurzel.net, erschienen in der Graswurzelrevolution Nr. 242 Oktober 1999 (Änderung: neue Rechtschreibung - Zitate in der alten)


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