Würden Wahlen was ändern, so wären sie verboten!
Im OSTEN... gingen Millionen für ihre Freiheit auf die Strasse
Im WESTEN... haben Hunderttausende diese Freiheit gesucht - und scheinbar auch gefunden.
Im Westen ist´s am besten... oder?
Hier gibt es nach einer Untersuchung im Juli 1990 82 Milliardäre, die 195 Milliarden Deutschmark ihr eigen nennen. Das entspricht ungefähr dem Lebens-Arbeitsverdienst von 200.000 Normalverdienern (bei 2.000 Mark im Monat). Bei einer sechsprozentigen Verzinsung dieser 195 Milliarden werden diese 82 Milliardäre tagtäglich um 32 Millionen Mark reicher, ohne einen Handschlag dafür tun zu müssen - erarbeitet wird diese Kapitalrendite von 1,3 Millionen Menschen, die dazu je 3 Stunden täglich schuften müssen.
So sieht`s ganz oben aus. Unten gibt es ca. 3 Millionen SozialhilfeempfängerInnen, denen ein Lebensbedarf von 468 DM im Monat (in Niedersachsen) zugebilligt wird. Das ist weniger als ein Außenspiegel eines mittleren Mercedes kostet. Ihr "Recht auf Wohnen" haben bereits 600.000 Menschen in der BRD verwirkt, Hunderttausende hausen in Notunterkünften, bei Bekannten, Verwandten etc. Ganz unten hungern ca. 700 Millionen Menschen weltweit, täglich sterben hunderttausende nur, weil es ihnen am Überlebensnotwendigen mangelt. Das Ganze nennt sich Kapitalismus, oder, da zur Zeit solche deutlichen und womöglich ideologisch geprägten Begriffe out sind, freie (gar noch: "soziale") Marktwirtschaft.
...da gibt es freie Wahlen...
Zur Aufrechterhaltung dieser modernen weltweiten Ausbeutung bedarf es keiner direkten Gewalt mehr. Die Sklaven des fortschrittlichen Industriezeitalters werden nicht mehr angebunden und gefangen gehalten - was allerdings nicht bedeutet, dass die staatlichen Überwachungs- und Unterdrückungsapparate (Polizei, Armee, Gefängnisse, Psychiatrie, Geheimdienste etc.) nicht weiter anwachsen und perfektioniert werden, im Gegenteil (computerlesbare Ausweise, Volkszählung, neue Sicherheitsgesetze usw.). Aber es hat sich als effektiver und erfolgreicher herausgestellt, die Menschen pro forma an Macht und Reichtum zu beteiligen, damit sie sich aus eigenen Kräften bemühen, ihr Bestes für Staat und Wirtschaft zu geben - bis hin zum eigenen Leben für "Volk und Vaterland". Subtiler zeigt sich dieser freiwillige Einsatz bis an die Grenzen der Belastbarkeit und das Druckmittel der Massenarbeitslosigkeit im Rücken, darüber hinaus daran, dass in vielen Arbeitsbereichen nur noch der geringste Teil das Rentenalter gesundheitlich fit erreicht.
Um den Menschen ihre Lebenszustände als frei gewählt vorzugaukeln, wurde das parlamentarische System geschaffen. Damit steht dieses System von Anfang an unter negativen Vorzeichen: Es ist eben ein Mittel, drohende Aufstände (gegen ein offen repressives Regime) möglichst von vornherein zu vermeiden, zumindest aber gesellschaftlich zu isolieren ("Ihr habt doch die Wahl...").
Der lächerliche Vorgang eines alle vier Jahre auf dem Stimmzettel abgegebenen Kreuzes bildet, zumal die erst einmal gewählten den WählerInnen die nächsten Jahre keinerlei Rechenschaft mehr schuldig sind, die Grundlage für jede staatliche Handlung, die dann mit dem angeblichen "Wählerwillen" gerechtfertigt wird. Mit der Wahl haben die WählerInnen aber auch das Recht verwirkt, Interessenkonflikte, die sie mit anderen Menschen oder Gruppen haben, selber auszutragen. Dafür ist jetzt das Parlament zuständig, die Menschen haben ihre Selbstbestimmung an ein paar hundert Abgeordnete abgegeben.
Mit jeder Wahl wird die Illusion erneuert, die WählerInnen könnten über ihre Geschicke mitbestimmen, mit jeder neuen Partei keimt die Hoffnung neu auf, "der kleine Mann" könne jetzt endlich mal was an der "großen Politik" ändern. Und ebenso sicher kehrt dann nach ein paar Wahlperioden die Einsicht zurück, dass "die da oben mit uns ja doch machen, was sie wollen". Und missgelaunt schreiten die StimmbürgerInnen dann bei der nächsten Wahl doch wieder an die Urne, um wenigstens "das kleinste Übel" zu wählen. Ihr Recht auf Selbstbestimmung haben die Menschen damit aber erst einmal wieder um Jahre verschoben.
...in Supermarktregalen
Bei diesem ganzen Theater wird dann übersehen, worüber die Menschen hier alles nicht entscheiden dürfen: z.B
- ob sie zur Schule gehen wollen oder nicht
- ob sie Steuern zahlen wollen oder nicht
- ob sie Steuern zahlen wollen oder nicht und wofür und wofür nicht
- ob sie überhaupt dieser staatlichen (Zwangs-)Gemeinschaft angehören wollen oder nicht
- undsoweiter...
Sie können jedenfalls nicht entscheiden, wer ihre Vorgesetzten im Betrieb sind und was sie wie und wann arbeiten – das entscheiden die Eigentümer des Betriebskapitals. Sie können nicht entscheiden, wo sie wie wohnen wollen, denn das entscheiden die Grundstückseigentümer. So gibt es auch noch jede Menge hoher Herren, die alles Mögliche entscheiden, ohne dass sie auch nur gewählt werden könnten.
Die allerwichtigsten Entscheidungen werden ja nicht von den Abgeordneten getroffen, sondern von allerlei Ministerialdirigenten, Verwaltungsbeamten, Konzern- und Kirchenbossen, Richtern, sogenannten Experten etc. Nicht einmal die Regierung wird gewählt. Wer Kanzler wird, das machen die Führungsgruppen der Parteien aus, und der Kanzler bestimmt selbstherrlich "seine" Minister, die wiederum ihre Staatssekretäre aussuchen, die... Schließlich: Obwohl jeder Mensch ein Bündel ganz verschiedener Interessen hat, darf er/sie nur alle vier Jahre eine Partei wählen, die obendrein auch keine Interessen vertritt, sondern bloß Meinungen. Doch dafür vertritt jede Partei gleich ein ganzes Meinungspaket (alle wollen ja gerne "Volkspartei" sein). Wenn die WählerInnen also eine Meinung gut finden und eine andere schlecht, dann könnten sie genauso gut zuhause bleiben. Die meisten wählen dann die Partei, die ihnen ein bisschen sympathischer ist als die anderen (ohnehin wird, wie Geißler [liberaler Politiker der CDU in Deutschland, Anm.] schon vor einigen Jahren bekannte, der Wahlkampf (werde) am Fernsehbildschirm entschieden - wichtiger als Worthülsen ist, wer die "bessere Figur" macht).
So vertreten die Parteien vielleicht ein wenig unterschiedliche Meinungen, aber sie betreiben alle die gleichen Interessen: An die Macht zu kommen und möglichst viel zu herrschen, sich hochdotierte Pöstchen zuzuschachern, die eigenen Taschen mit Steuergeldern zu füllen und alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche (Justiz, Medien, Bildungspolitik, Stiftungen und Institutionen etc.) diesen Privatinteressen nützlich zu machen.
Das Volk der besseren Menschen
Außer diesem soziale und demokratische Ungerechtigkeiten verschleiernden parlamentarischen Vertretungsmodell hat sich noch eine Idee als nützlich zur Herausbildung einer "Gemeinsam schaffen wir`s - Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen" - Identität erwiesen, die damit auch zur Unterordnung des Einzelnen unter ein vermeintlich höher zu bewertendes Allgemeinwohl hervorragend beiträgt: Der Nationalismus!
Menschen, die zu Gehorsam und Anpassung erzogen wurden, die täglich spüren, dass sie nicht zählen, sondern nur ab und zu gezählt werden, die ständig Angst um ihre Zukunft haben müssen, weil sie nicht über Eigentum an Boden, Maschinen und/oder Kapital verfügen, die sich aber einer Flut von Regeln, Gesetzen und Vorschriften unterwerfen müssen, solche Menschen haben es schwer, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Viele Jugendliche haben nur die Wahl zwischen meist öden Berufen und der Arbeitslosigkeit. Meistens ergreifen sie auf Druck von Eltern, LehrerInnen und Arbeitsamt irgend einen dieser Berufe, kaum aber den, den sie selber wollen. Die Zukunft wird damit von der Lage des Arbeits-Marktes (dieses demütigende Wort erinnert sicher nicht zufällig an Sklaven) diktiert - aus dieser Situation heraus kann natürlich kein positives Selbstwertgefühl entstehen.
Immerhin: Wenn ich schon selber nichts bin, bin ich doch wenigstens Teil eines guten Volkes. Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, die Deutschen (also wir, also auch ich) sind besser als andere Völker. Für die Reichen und Mächtigen hat diese Ideologie den Vorteil, dass nicht mehr die ungerechte Verteilung der Güter als Ursache der beschissenen Lage und Perspektive erkannt wird, sondern dass "die Ausländer und Asylantenflut" zum Sündenbock erklärt wird.
An diesem Prozess der nationalen Überheblichkeit wirken alle Parteien mit, die an diesen Wahlen teilnehmen. Denn wer hier wählt, wählt auch Großdeutschland, egal für welche Partei er/sie sich entscheidet. Alle kandidierenden Parteien haben sich schon für die Rechtfertigung des großdeutschen Reiches entschieden (so träumen die GRÜNEN in selten naiver Verklärung der Wirklichkeit von den Chancen einer "zivilen Weltmacht" Deutschlands, so z.B. Antje Vollmer). Dagegen wurde "versäumt", die Menschen nach ihren Überlegungen und Entscheidungen zur Wiedervereinigung wie auch nach deren konkreter Ausgestaltung, z.B. im Hinblick auf eine künftige Verfassung, zu fragen. Wo solche Vorschläge und Bedürfnisse denn doch einmal ungefragt formuliert wurden, wurden sie geflissentlich übergangen.
Es ist offensichtlich: Jede Partei, die bei diesen Wahlen kandidiert, setzt das Primat der Nation vor die Einzelbedürfnisse ihrer BewohnerInnen. Jede Partei ist staatstragend (sonst würde sie gar nicht erst zur Wahl zugelassen, sondern verboten) und damit nationalistisch.
Selbstbestimmung statt parlamentarische Augenauswischerei!
Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch am Besten selbst für seine/ihre Interessen eintreten kann. Das gilt grundsätzlich auch für "Kinder", "Alte", "Behinderte", "Kranke", "Straffällige". Menschen können aber ihre Interessen nicht kennen, wenn sie ihre Möglichkeiten nicht kennen. Diejenigen, die entscheiden, mit welchen Informationen ich gemacht werde, entscheiden zunächst auch, welche Interessen ich für die Meinigen halte. Das versucht wird, fremde Interessen in uns zu verwirklichen (über Eltern, LehrerInnen, Gesetzgebung), ist unvermeidlich und sicher auch ziemlich erfolgreich, wenn wir selber bei der Gestaltung des "Plans" ausgestaltet sind.
Das heißt: Allen Menschen müssen alle Informationen über ihre Möglichkeiten, über die zu ihrer Lage führenden Gesamtzusammenhänge etc. zur Verfügung stehen (auch "Kindern", Blinden, Analphabeten, "Ausländern"...). Natürlich muss und kann nicht jede/r wirklich alles über Gott und die Welt wissen. Im Gegenteil sind wohl die meisten (auch die PolitikerInnen) völlig überfordert, die Flut mehr oder weniger wichtiger Informationen aus den Medien zu filtern und zu verarbeiten. Aber jeder Mensch ist in der Lage, die für ihn/sie wirklich wichtigen Informationen zu suchen und zu erkennen (vorausgesetzt, dass diese Informationen in den Medien auch wirklich auftauchen und nicht unterschlagen werden, z.B. von der "Schere im Kopf", das heißt der freiwilligen Selbstzensur, oder weil bestimmte Inhalte kriminalisiert und verboten werden, oder weil bestimmte Inhalte vom Parteienproporz in "Öffentlich-Rechtlichen" Medien nicht zugelassen werden.).
Jeder/r Einzelne muss jederzeit die Möglichkeit haben, sich freiwillig mit anderen zusammentun, um ein gemeinsames Interesse zu verwirklichen, sich aber auch jederzeit wieder zu trennen. Eine solche auf freier Vereinbarung basierende Gesellschaft wird z.B. bei der deutschen Staatsbürgerschaft und der Ehe verhindert. Grundsätzlich sollten nur Leute über Sachen entscheiden, die sie auch selbst betreffen (die PolitikerInnen sind von den meisten Dingen, die sie beschließen, nicht betroffen!).
Wir sind also für weitestgehende Selbstbestimmung und Selbstorganisation der Einzelnen in allen Lebensbereichen. Das findet seine Grenzen zum einen in der Freiheit der Mitmenschen, zum anderen aber auch in der Größe der Zusammenhänge. Ich kann nur verantwortlich entscheiden, wenn ich die Folgen meines Handelns überblicken kann, und nur andere tolerieren, wenn ich ihnen auch vertrauen kann, weil ich sie kenne. Das ist in riesigen Staaten, multinationalen Konzernen, Großstädten ebenso unmöglich, wie in unpersönlichen Mietskasernen, Krankenhaus-, Schul-, Verwaltungskomplexen etc.
Selbstbestimmung kann nur in überschaubaren Kommunen, Betrieben und Interessengruppen verwirklicht werden. Gesetze für 60 Millionen ganz unterschiedliche Menschen zu machen ist unmenschlich, schlägt Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit unmittelbar kaputt.
Wenn ich mein Interesse nicht selbst verwirklichen kann oder will, kann ich eine vertraute Person mit der Vertretung meines bestimmten Interesses bei einer bestimmten Gelegenheit oder für einen bestimmten Zeitraum beauftragen, wenn ich diese Person kritisieren, kontrollieren und jederzeit zurückrufen kann. Solche Delegierten können dann auch Fragen beraten, die über mein direktes Umfeld hinausgehen. Sie müssen dann aber ihr Mehr an Informationen an mich weitergeben (föderatives Rätemodell).
Bei allen Entscheidungen müssen alle Betroffenen die Sache auch mittragen und verwirklichen können und wollen. Deshalb kann nicht eine Mehrheit über eine Minderheit entscheiden. Die Minderheit muss mindestens die Chance haben, den Zusammenhang ohne schwere Nachteile zu verlassen und ihr Interesse neben der Mehrheit zu verwirklichen. Besser ist es jedoch, eine von allen gleichermaßen akzeptierte Entscheidung (Konsens) zu treffen - auch wenn´s manchmal etwas länger dauert.
Wir wollen aber nicht warten, bis die Reichen und Mächtigen sich bequemen, uns von ihren Vorteilen etwas abzugeben.
"Alles, was bei der ganzen Wählerei herauskommen kann, ist da und dort ein Scheinerfolg. Man vertröstet sich dann immer auf `das nächste Mal´ , bis man die Geschichte endlich satt bekommt und unter die Pessimisten geht." (Johann Most, 1892).
Fast 100 Jahre später scheint die Geschichte Most recht zu geben, wenn wir uns allein schon die sinkenden Wahlbeteiligungen ansehen, über deren Ursache inzwischen auch unter PolitikerInnen - scheinheilig - gerätselt wird. Wollen wir den PolitikerInnen endgültig resigniert die ganze Macht überlassen? Nein!
Beginnen wir, unsere Interessen hier und jetzt zu verdeutlichen und direkt zu verwirklichen!
Schaffen wir uns die Zusammenhänge, die wir für unsere Selbstbestimmung brauchen!
Entziehen wir dem Staat den Gehorsam, den Gesetzen die Achtung und den Reichen unsere Kraft!
JEDE REGIERUNG BRAUCHT MENSCHEN - ABER KEIN MENSCH BRAUCHT REGIERUNGEN!
Das Original wurde leicht verändert und stammt aus: Razz - Zeitung für ein radikales Hannover # 19, Dezember 1990
Originaltext: www.anarchismus.de (überarbeitet und neue Rechtschreibung)