„Neuer Anarchismus“ in den USA (Buchbesprechung)

Neuer Anarchismus in der USA, Seattle und seine Folgen Seit der Schlacht von Seattle erfreut sich die anarchistische Bewegung in den Vereinigten Staaten erstaunlicher Aufmerksamkeit. Die Diskussion scheint recht bunt und kontrovers geführt zu werden. In dem Buch „Neuer Anarchismus“ in den USA, erschienen im Unrast Verlag, setzt sich Gabriel Kuhn mit den Texten und Impulsen dieser Bewegung auseinander. Er führt in einem Vorwort in die Geschichte des Anarchismus vor und nach Seattle ein, um in den weiteren fünfzehn Kapiteln relevante Texte für einzelne Strömungen und Phänomene vorzustellen und diese als Übersetzung dem deutschsprachigen Diskurs zu öffnen.

Der Autor befindet sich im Mai und Juni auf Lesereise durch Deutschland. Am letzten Mittwoch war er im Berliner Mehringhof und am Freitag in der Bibliothek der Freien. Seine Kompetenz die amerikanische, anarchistische Szene betreffend resultiert aus zwei mehrjährigen aktiven Aufenthalten in den Vereinigten Staaten. Nach eigenen Angaben war er vor Seattle in der anarchistischen Szene Mitte der 90iger aktiv und kehrte nach 2001 dorthin zurück. Als Teil der Bewegung kann er die Veränderungen und Diskussionen nach der Renaissance des Anarchismus in den USA nachvollziehen. Das Buch versucht eine Dokumentation zu liefern und so in wichtige Linien des modernen, anarchistischen Diskurse in den Vereinigten Staaten zu kritischen Auseinandersetzung einzuführen. Eine Bewertung der übersetzten Texte wird vermieden. Die einführenden Texte zu den Kapiteln versuchen lediglich Argumentationsmuster zu erkennen und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die folgenden Kritzeleien dokumentieren die Präsentation des Autors im Mehringhof. Zur weiteren Diskussion sei die Lektüre des vorgestellten Buches dringend empfohlen.

stone Die übersetzten Texte breiten ein enorm weites und offenes Spektrum auf. Sie setzen sich sowohl mit Taktiken und Methoden auseinander, geben Einblicke in Selbsterklärungen, beschreiben eine Subkultur oder versuchen theoretische Impulse zu setzen. Einen großen Teil der Bewegung nimmt der Primitivismus ein. Bis zu 20 Prozent der anarchistischen Gruppen in den USA aktzeptieren diese Störmung als für ihre Arbeit einschlägig. Ein weiteres Phänomen ist der um den small a anarchism oder den Lifestyle Anarchism. Hierzu gehören Formen der extrem individualistischen Postleft Anarchism, die situationistischen crimethInc Kollektiven und weitere popanarchistischen Ansätze. Die Diskussion um die Notwendigkeit anarchistischer Organisationen wird hierbei ebenfalls berührt. Weitere Diskurse drehen sich um den Black Bloc, um die Genderproblematik und die People of Color. Aber auch der Medienaktivismus und seine Einbindung in die anarchistische Szene ist Teil der Dokumentation. Wichtig für das Verständnis der anarchistischen Bewegung in den USA ist, immer im Auge zu behalten, dass diese von einer weißen oberen Mittelklasseschicht dominiert wird. Die soziale Problematik wird deshalb oft zu Gunsten extrem individualistischer Perspektiven aufgeben. Auf der anderen Seite stehen dogmatisch primitivistische Ansätze, die für einigen Unfrieden gesorgt haben. Erstaunlich ist, dass von dieser Seite die Militanz-Diskussion am Laufen gehalten wird.

crimeThinc Im ersten Kapitel des Buches geht es um den namengebenden Begriff des new anarchism. Übersetzt sind die grundlegenden Texte New Anarchists von David Graeber, der im Frühjahr 2002 im New Left Review erschienen ist, und das Programm fighting for our lifes von crimethInc, das schon tausendfach kostenlos verteilt wurde. Im ersten Text geht es um die Zusammenhänge der neuen Antiglobalisiationsbewegung seit Seattle und den Wechselwirkungen zum Boom des Anarchismus. Ein Schwerpunkt ist, die positive Selbstbezeichnung der Globalisationskritiker als Anarchisten. Graeber stellt hier einen Zusammenhang mit den individuellen Symphatien im Gegensatz zu den abzulehnenden, weil untergegangenen, sozialistischen und kommunistischen Utopien heraus. Ein Anarchist zu sein ist cool, weniger dogmatisch und fast jeder darf sich so nennen.

Einflüsse von Nichtanarchisten

So kann es dann schon mal passieren, dass Akteure in anarchistische Zusammenhänge geraten, die sich selbst als solche nie bezeichnet haben. So erging es der esoterischen Feministin Miriam starhawk Samos, die seit den 90igern in anarchistischen Zirkeln auftritt und eine fruchtbare Diskussion anregte. Zum Beispiel bezieht sich der sogenannte Pagan Anarchism positiv auf sie. Im Kapitel vier ist ihr Text zum spirituellen Aktivismus übersetzt. (Weitere Texte in deutscher Übersetzung von ihr gibts hier.) Michael Albert und seine Partizipatorische Ökonomie ist ebenfalls ein Beispiel für die Übernahme globalisationskritischer Standpunkte in anarchistische Diskurse. Der Gründer des ZNet und ZMag hat mit PareCon ein Modell für eine nachkapitalistische Ökonomie vorgelegt, die, obwohl der Autor sich selbst nie als Anarchist bezeichnet hat, von Anarchisten durchaus kritisch aufgenommen wurde. Zentraler Punkt ist die Ablösung der zwangsweisen, ausbeuterischen Lohnarbeit in eine Entlohnung nach Bemühen.

Sehr kontrovers, aber auch sehr befruchtend, ist der dritte Nichtanarchist mit antiimperialistischem Hintergrund. Im Kapitel 15 geht es um Ward Churchill und die militante Native American Bewegung, der aktivistischen Bewegung für die Rechte indigener Amerikaner. Zu besonderer Berühmtheit gelangte sein Essay Some People Push Back, den er kurz nach den Anschlägen auf das WTC am 11. September schrieb und in dem er die Meinung vertritt, die USA hätten mit ihrer expansiven Außenpolitik und ihrem aggressiven Imperialismus den Angriff provoziert. Der Skandal blieb zwar vorerst aus, eskalierte aber im Frühjahr 2005 dennoch. Eine Kampagne rechtskonservativer Republikaner und fundamentalistischer Christen zielte darauf ab die persönliche und akademische Reputation von Churchill zu diskreditieren und zwang die Universität von Colorado ihn zu suspendieren und schließlich zu entlassen. Der alte Essay wurde herausgekramt und musste für eine Schmutzkampagne herhalten. Höchstwahrscheinlich um die geplanten Proteste indigener Initiativen gegen den Columbusday zu verhindern. Namhafte Persönlichkeiten unterstützen das Ward Churchill Solidarity Network um die Freiheit der Lehre wieder herzustellen.

Doch diese Person ist durchaus kritisch zu betrachten. Er gehörte eine zeitlang dem American Indian Movement (AIM) an, das in den 70iger Jahren militante Aktionen zum Schutz indigener Reservate machte und zusammen mit den Black Panthern zivilen Ungehorsam leistete. Die Kriminalisierung und die extreme staatliche Repression verbindet diese marginalisierten amerikanischen Gruppen. Seit den 80igern verabschiedete sich das AIM von militianten Taktiken und ging einen zivilgesellschaftlichen Weg. Im Verlauf der Diskussion spaltet sich die Bewegung. Ward Churchill ist hierbei ebenfalls ein Symbol. Ihm wird von Seiten des AIM vorgeworfen in den 70iger Jahren in FBI Observationen und eine Verschwörung involviert zu sein, die Anfang der 90iger Jahre von AIM-Ermittlern aufgedeckt worden sein soll. Seine akademischen Qualitäten und sogar sein indianischer Hintergrund wird von dieser Seite angezweifelt.

Die Frage der Organisation

Dass diese drei trotz ihres nichtanarchistischen Hintergrunds in ebendieser Bewegung rezepiert werden, hat wohl mit der schon angesprochenen Entwicklung zu einem antitraditionellen und undogmatischen Anarchismus zu tun. Ausschlaggebend war wohl vor allem der mediale Fokus auf den Schwarzen Block während der Seattle Proteste. Dieser dominierte die Berichterstattung und verdrängte andere Aktionen, was für den Gesamteindruck und das Klima zwischen den Gruppen nicht unbedingt hilfreich war. Für die anarchistische Bewegung dagegen war dieser Umstand umso wichtiger. Denn die am Black Bloc Beteiligten definierten ihren politischen Hintergrund zumeist als anarchistisch. Und sie taten, was Anarchisten so gern vorgeworfen wird und der Black Bloc veranstaltet. Dieser hatte eine Größe von circa 200-300 Personen. Sie zerschmissen Fensterscheiben, sprühten Graffitis, zündeten das obligatorische Auto an, prügelten sich mit der Polizei, ließen sich jagen und jagten auch mal selbst. Sie taten eben all das, was der gut bürgerlichen, oberen Mittelklasse und sogenannten linken Journalisten überhaupt nicht gefällt; sie spiegelten ihren Hass gegen die Herrschaft und gaben ihn militant an die staatlichen Organe weiter. Die Kritik blieb, ebenfalls obligatorisch, nicht aus.

Dagegen wehrten sich einige Beteiligte, die als ACME Collective mit dem Text Anarchist N30 Black Bloc Communiqué auf ihre Kritiker antworteten. Dieses grundlegende Pamphlet wird im zweiten Kapitel dokumentiert. Es zeichnet dieselben Diskussions- und Kritikpunkte nach, die auch in Europa ausschlaggebend sind. In den USA wurde durch diesen Text und seine breite Rezeption, insbesondere als Erzeugnis von Anarchisten, die Idee des Black Bloc umfassender bekannt und mit der anarchistischen Bewegung verknüpft. Bis dahin konnten in den USA lediglich zwei Schwarze Blöcke von der Love & Rage Revolutionary Anarchist Federation organisiert werden, die sich jedoch im Jahre 1998 selbst auflöste.

Und wo wir grade bei Organisationen und Ansammlungen sind, denn auch dieses Thema ist durchaus kontrovers seit Seattle diskutiert worden: Im Kapitel zwölf beschäftigt sich Gabriel Kuhn deshalb mit der Northeastern Federation of Anarchist-Communists (NEFAC), die im Jahr 2002 ihre Position zur Frage revolutionärer anarchistischer Organisationen darlegt und deren Notwendigkeit vertritt. Diese Position ist jedoch unter amerikanischen Anarchisten äußerst umstritten. Die zum großen Teil individualistisch geprägte Bewegung hält sich auffallend stark von festeren Organisationsformen zurück und bevorzugt wohl Kleinstkollektive, die sich jedoch untereinander vernetzten.

Ein weiterer Angriff gegen jede anarchistische Struktur kommt von postlinken Anarchisten. Im Magazin Anarchy heizte Jason McQuinn die alten Grabenkämpfe mit seinem Text Post-Left Anarchy: Leaving the Left Behind erneut an. Die Argumentation richtet sich hierbei zuallerst darauf, dass linke Taktiken, wie Demonstrationen, Arbeits-, Klassenkampf und die Fokusierung auf Traditionen unbrauchbar und deshalb abzulehnen sind. Eine weitere Stoßrichtung soll die radikale Theorie selbst treffen. Es wird angenommen, dass diese grundlegend einen unterdrückenden Charakter hat und deshalb nicht für den Aufbau einer freien Gesellschaft taugt. Seine Polemik wird im Kapitel acht dokumentiert.

Auch in Deutschland züngelte die Diskussion, von der FAU Bremen entfacht, ein wenig, ohne jedoch aufzulodern. In Nordamerika war dem ganz anders. Linke Anarchisten antworteten McQuinn. Peter Staudenmaiers Essay Anarchists in wonderland wurde stellvertretend für diese Positionen aufgenommen und wird im Kaptel neun besprochen.

Sehr nah an diesen postleft anarchistischen Positionen ist der sogenannte Postanarchismus. Ihre Theorie geht davon aus, dass der klassische Anarchismus überholt ist und sich deshalb weiterentwickeln muss. Hierbei wird auf nichtanarchistische Poststrukturalisten und andere Perspektiven zurückgegriffen um anarchistische Standpunkte zu aktualisieren. Dieser Strömung geht es im Grunde um die Ablösung anarchistischer Diskurse von sozialen und politischen Bewegungen. Anarchismus soll zum Werkzeug werden, zur Theory & Critique of Ideology ohne jegliche Revolution oder andere, ähnliche gesellschaftliche Transformationen. Das Kapitel elf behandelt diese Strömung am Beispiel des Textes The Politics of Postanarchism von Saul Newman, der am Institute for Anarchist Studies erschienen ist.

Containern Diesem Versuch theoretisch und wissenschaftlich die Weiterentwicklung anarchistischer Ansätze zu ermöglichen, steht der von Kritikern als lifestyle anarchism bezeichnete antitraditionelle und ahistorische Ansatz um die neosituationistischen Gruppen wie crimethInc und Aussteigertaktiken des Wetlands Activism Collective. Diese Art der apolitischen Annäherung an Gesellschaft wird von Murray Bookchin im Text Social Anarchism or Lifestyle Anarchism aufs schärfste angegriffen. Er bescheinigt dieser Aussteigermentalität Oberflächlichkeit und Zynismus, da er weder an der Veränderung der gesamten Gesellschaft interessiert, noch an der Entwicklung politisch wirksamer Taktiken beteiligt ist. Insbesondere der Klappentext zum Buch Evasion von crimethInc, der davon faselt, dass Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit Spaß macht und wenn nicht, dann der Betroffene einfach etwas falsch mache, erregte enorme Ablehnung. Anarchistische Buchhandlungen weigerten sich zum Teil dieses Buch zu vertreiben. Weltweit und auch in Deutschland überschlugen sich die Kritiken, die emotional aber auch konstruktiv formuliert wurden. Deshalb hatte der Text also trotzdem, zumindest abgrenzend, eine gewisse Bedeutung für die Entwicklung des anarchistischen Diskurses. Ein Auszug ist deshalb im Kapitel sechs zusammen mit dem Positionspapier des Wetlands Activism Kollektivs mit dem Titel What is Freeganism übersetzt worden. Letztere sind die Urväter und -mütter der freeganism-Bewegung, die sich der Konsumgesellschaft verweigern, freiwillig vegan leben (dh. auch mal nicht vegan essen), also ein herrschaftskritischer Gegenentwurf zum dogmatischen Veganismus sind, sich von Resten und Abfällen ernähren, die sie containern und so ohne zwangsläufig einhergehende eigene materielle Not möglichst weitgehend kostenlos leben. Die angeführte Kritik von Bookchin und anderen ist auch hier einschlägig.

Primitivistische und ähnliche Ansätze

Doch all diese Strömungen sind marginal zur vorherrschenden Schule des Primitivismus und seiner verschiedenen Ansätze. Ihm angehörig fühlen sich, laut Gabriel Kuhn, circa 20 Prozent der nordamerikanischen Anarchisten. Die freeganism-Bewegung könnte womöglich auch zum Primitivismus gezählt werden, würde jedoch von diesen abgelehnt werden. Ihre undogmatische Perspektive würden wahrscheinlich sogar sie als lifestyle anarchism diskreditiert werden. Der führende Kopf dieser Schule ist John Zerzan. Er ist Herausgeber der anarchistischen Zeitschrift Green Anarchy und betreibt in Eugene das Anarchy Radio an der University of Oregon. Einige interessante Texte von ihm bei Insurgent Desire dem Online Green Anarchy Archive zu finden. Weitere primitivistische Texte gibts im greenanarchy infoshop.

Im Kapitel sieben werden zwei Texte besprochen. Der eine ist von John Zerzan und heißt im Orginal Why Primitivism. Der zweite übersetzte Text ist vom Green Anarchy Collective und firmiert als Grundlage des Primitivismus. What is Green Anarchy (pdf) gibt anhand von Gegensatzpaaren eine Einführung.

Die Theorie gilt als teils situationistische Fundamenatalkritik an der kapitalistschen Produktionsweise. Die sogenannten industriellen Errungenschaften werden als reaktionär und zerstörerrisch abgelehnt. Der Ansatz und die Kritik an Machtverhältnissen wird auf die Ansicht heruntergebrochen, dass Arbeitsteilung zwangsläufig zu Herrschaftsverhältnissen führt, denn sie benötigen Mittler. Bei Konflikten sind in arbeitsteiligen Gesellschaften nach primitivistischer Ansicht Experten von Nöten, die durch intellektuelle Voraussetzungen oder Erfahrungen herausgelöst und hervorgehoben werden. Dies führt zur Entfremdung in patriachalen Kulturen. Zur Zivilisationskritik kommt bei Primitivisten noch eine antilinke Kritik, die verknüpft wurde mit Antiorganisationskritik und anderen Antis. Manche Strömungen gehen sogar soweit Sprache genauso, wie Zivilisation, Technologie und Klasse strikt abzulehnen. Denn auch hier sind vermittelnde Strukturen grundlegend, die notwendigerweise zu Herrschaftshierarchie, abzulehnenden Machtverhältnissen und zur Entfremdung führen. Eine gut zusammengefasste Kritik gibt es bei anarkismo.

Ansonsten ist natürlich zu jeder Strömung das einführende Kapitel von Gabriel Kuhn zu empfehlen. Er ordnet den Text in die historische Zusammenhänge und bewertet die Strömung sehr zurückhaltend und informativ. Die Übersetzungen sind sehr fundiert und treffsicher.

Aber kommen wir zum Thema zurück. Im Kapitel sieben von Kuhns Neuem Anarchismus in Amerika ging es diskursgeschichtlich folgerichtig nach dem Kapitel über Lifestyle Anarchism um die (fast schon herrschende) anarchistische Strömung des Primitivismus. Mit ihm verbunden sind die antizivilisatorisch militanten, manche sagen terroristischen Aktionen von Theodor Kaczynski, auch Una Bomber genannt, der in seinem Manifest Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft auf die Zerstörung der Welt durch Wissenschaft aufmerksam macht, die in der Dreieinigkeit mit dem Staatsapparat und dem Kapital alles verschlingt und zerkonsumiert. Ihm geht es aber nicht nur um den Diskurs der gesellschaftlichen Loslösung menschlichen Verhaltens von der Natur, sondern auch um eine soziale und politische Auseinandersetzung. Den Abdruck seines Manifests, unter anderem in der Washington Post und der New Yorck Times, erzwang er durch Attentate auf namhafte Wissenschaftler, Politiker und Manager. Er glaubte, dass der einzige Ausweg ist, das gesamte industrielle-technologische System abzuschaffen. Das bedeutet Revolution, nicht unbedingt ein bewaffneter Aufstand, aber auf jeden Fall eine radikalen und fundamentale Veränderung der gesamten Gesellschaft.

Mit dieser Radikalität steht er den militanten Natur- und Tierschützern in nichts nach. Um diese geht es im Kapitel dreizehn. Zur Einführung und Auseinandersetzung nutzt Kuhn eine Text von Randall Amster, der die zahlreichen Festnahmen von Earth Liberation Front (EFL) und Animal Liberation Front (AFL) Aktivisten durch das FBI aufarbeitet. Die konspirativ operierenden Gruppen wurden als Terroristen verfolgt. Ende 2005 konnte das FBI mit ihrer Operation Backfire mehrere Zellen komplett zerstören und ihre Mitglieder verhaften. Beide Ökogruppen – die EFL und AFL – sind nicht explizit Teil der anarchistischen Bewegung, jedoch gibt es, laut Kuhn, soziokulturelle Überlappungen. So sind die meisten der Festgenommenen Teil der anarchistschen Szene gewesen. Mit dem antizivilisatorischen und ökologischen Diskurs im Primitivismus und Freeganism gibt es durchaus auch theoretische Überlappungen. Der Beitrag zur Diskussion um Organisation und Militanz ist ebenfalls erheblich und fruchtbar. Insbesondere die Bezeichnung der Aktionen als Ökoterrorismus, der sich nicht gegen Lebewesen, sondern gegen Dinge wendet. Bei den oft spektakulären Anschlägen starb niemals jemand, jedoch kam es destöfterene zu erheblichem Sachschaden. Deshalb sind auch diese beiden Gruppen für die Auseinandersetzung um neue Anarchismen wichtig und könnten nun für europäische Diskussionen fruchtbar gemacht werden.

Weitere Diskurse

Weitere wichtige Texte, die durch Kuhn vorgestellt werden sind die Diskurse um Anarchismus und Gender Politics im fünften Kapitel und die Auseinandersetzung in und um die verschiedenen anarchistischen Initiativen der People of Color im dritten Kapitel. Die Diskussion um Emanzipation und die maskuline Dominanz auch in der amerikanischen anarchistischen Bewegung wird vor allem durch den Text manarchy oder stic it to the manarchy (der Text als pdf), der erstmals circa 2003 auf dem New Yorker Indymedia Portal veröffentlicht wurde, angestoßen. Das rock bloc collective thematisiert das Fehlen von feministischen Gender-Aspekten in der anarchistischen Diskussion. Sie brachten sich und ihre Perspektive konfrontativ ein und verwandelten ihre durchaus erwünschte Präsenz in der Bewegung in kritische, diskursive Teilhabe. Dies führte zu einigen Kontroversen.

Das Thema um Anarchismus und die People of Color ist, laut Kuhn, schwieriger. Die Trennung zur weißen oberen Mittelschicht und ihren Luxusproblemen in ihren anarchistischen Diskursen deckte sich so gar nicht mit den existenziellen Nackenhieben der colored Communities. Um so wichtiger war es ihre Standpunkte klar und deutlich zu formulieren. Insbesondere die Kritik, dass die people of color in Seattle nicht oder marginal anwesend waren, zog harsche Kritik nach sich. Kuhn übersetzt, um diese Kontroverse und die Perspektive der People of Color zu dokumentieren, den Text Where Was the Color in Seattle geschrieben von Elizabeth Betita Martinez, das im Frühjahr 2000 im Magazin colorlines erschien. Sie argumentiert darin, dass die weiße und colored Bewegung auf vielen Ebenen separiert ist. Es gab zwar Sammlungen und Unterstützung für Auswärtige, doch wird in den colored communities überregionales, politisches Engegement mißtrauisch betrachtet. Es gibt genügend Probleme in den eigenen Stadtteilen, so dass politisches Teilhabe und Aktionen dort konzentriert werden sollten, anstatt die Kraft weit weg zu vergeuden. Eine weitere Trennung gibt es auf der kulturellen Ebene, die keine Gemeinsamkeiten kennt. Kuhn fasst zusammen, dass es die Aspekte um Kultur, Finanzen / Existenz und regionale Besonderheiten sind, die eine Separation generieren.

Aber auch auf der theoretischen Ebene gibt es Differenzen. Viele der heute prominenten colored Anarchisten kommen aus einem Black Panther Hintergrund, der eher marxistisch und organistorisch geprägt war. Ansätze der Primitivisten und der anderer lifestyle-Anarchisten werden kritisch betrachtet. Ein wichtiger Protagonist aus diesem Spektrum ist Lorenzo Komboa Ervin. Kuhn dokumentiert im Kapitel drei seinen Text Why am I an Anarchist. Er setzt sich darin mit seiner eigener Geschichte als Black Panther und der seiner weiteren Entwicklung in der black community auseinander. Diese historische Einordnung erlaubt die Argumentationsstränge der People of Color zu beleuchten und einen Weg der Annäherung zu finden.

Das letzte Kapitel bildet einen gewissen Kontrast zu den anderen Kapiteln. Es sticht heraus, weil die Verknüpfung zur anarchistischen Bewegung in Nordamerika sehr weit scheint. Es geht hier um Medienaktivismus am Beispiel von indymedia, das in Nordamerika nach der Schlacht von Seattle entwickelt wurde um Gegenöffentlichkeit zu schaffen und internationale Vernetzung untereinander zu ermöglichen. Der besprochene Text beschäftigt sich mit Brad Will, der am 27. Oktober 2006 während Angriffen mexikanischer Paramilitärs und Polizei gegen Aufständische in Oaxaca erschossen wurde. Will war ein New Yorker Medienaktivist, der die Tage der Anarchie in Südmexiko dokumentieren wollte und bei der Arbeit mit seinem Leben bezahlte. Die Besonderheit an diesem Tod ist, dass die Kamera von Will seinen Todeskampf aufzeichnete. Er wurde so zu einem Märtyrer der Medienaktivisten.

Sascha Scatter vom Icarus Project widmete ihm einen Nachruf in dem er seinen Weg nachzeichnet. Für Kuhn, dem bewußt ist, dass die Auswahl des weißen Märtyrers durchaus problematisch ist, weil am selben Tag mindestens zwei mexikanische Aktivisten starben, wählte diesen Text aufgrund der Beschreibung wichtiger Örtlichkeiten, gemeinsamer Erlebnisse und Diskussionen, weil der Weg, den Brad Will ging, wohl durchaus exemplarisch für eine ganze Generation von Medienaktivisten steht. Die persönliche Komponente wird aber ebenfalls ausschlagenbend gewesen sein.

Fazit

Das Buch „Neuer Anarchismus“ in den USA bietet einen breiten Einblick in die zeitgenössischen Spektren der anarchistischen Bewegugn in Nordamerika. Die einzelnen Kapitel werden sowohl kompetent als auch fachlich sensibel eingeführt. Die Übersetzungsarbeit der relevanten Texte kann nicht oft genug hervorgehoben und gelobt werden. So können die durchaus interessanten Diskurse eventuell auch in Europa rezipiert werden. Zwar ähneln sich die Kontroversen und Spektren, doch stellt Kuhn sie hilfreich objektiv vor und ermöglicht so eine kritische unvoreingenommen Auseinandersetzung mit den Texten aus ihrer historischen und theoretischen Perspektive. Bleibt zu hoffen, dass die Rezeption Früchte tragen wird!

Originaltext: http://aka.blogsport.de/2008/05/23/neuer-anarchismus-in-den-usa/


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