Anarchismus in Afrika - Ein Nachruf auf Wilstar Choongo
Notiz vorab: Den Nachruf auf einen Genossen mehr als zwei Jahre nach seinem Tod zu präsentieren, das mag überraschen und bedarf zweifelsohne einer Erklärung. Auf die elektronischen Diskussionsliste "organise", die einige hundert organisierte AnarchistInnen der ganzen Welt verbindet, gelangte eines Tages auch Wilstar Choongo, ein Bibliotheksassistent und autodidaktischer Anarchist aus Sambia, der über seinen Beruf Zugang zum Usenet hatte. Wilstar war mehrere Monate lang ein begeisterter Gesprächspaertner auf der Liste, schrieb und antwortete dann aber nicht mehr. Es war nicht schwer, tausend Erklärungen dafür zu finden, aber fast unmöglich davon im voraus zu wissen: das Risiko des Engagements, besonders des anarchistischen, in einem Land ohne jegliche Tradition dieser Art, erklärt sich von selbst. Unsere GenossInnen aus Südafrika haben erst kürzlich erfahren, dass Wistar tot ist. Dieser Artikel erinnert uns daran, dass sich die anarchistische Idee in allen Breitengraden findet bzw. entwickelt. Wilstar wird das Aufblühen der afrikanischen libertären Bewegung, das er sich so sehr wünschte, nicht mehr erleben. Aber andere arbeiten dort jetzt an seiner statt. Auf dass sie sich an diesen Bibliotheksassistenten erinnern, der die erste anarchistische Bewegung in Zentralafrika begründet hat!
Nachruf: Hamba kahle Wilstar Choongo!
Die internationale anarchistische Bewegung bedauert den Tod von Wilstar Choongo, Gründer des Anarchist and Workers' Solidarity Movement (AWSM) in Sambia. Wilstar, der autodidaktische Anarchist, zog erstmals 1996 die Aufmerksamkeit der [libertären] Bewegung auf sich, und zwar durch seinen einsamen Kampf für die Erhöhung der Angestelltengehälter in der Universität von Sambia (UNZA). Er arbeitete dort als Bibliotheksassistent und richtete - zum Besten der StudentInnen - eine hervorragende Sammlung anarchistischer Werke ein.
Die ehemalige britische Kolonie Sambia erhielt 1964 ohne nennenswerten Kampf ihre Unabhängigkeit. Die dreissig Jahre "afrikanischen Sozialismus" unter dem Regime von Kenneth Kaunda erwiesen sich als verheerend. Die Wirtschaft blieb im wesentlichen auf den Bergbau beschränkt und die Landwirtschaft blieb so lang fragil als die Bauern sich in den Städten drängten, weil es dort Subventionen für Lebensmittel gab. Der Einbruch des Kupferpreises Mitte der 1970er Jahre hat dann alle Hoffnungen auf Entwicklung zunichte gemacht. Als Kaunda im Zuge der ersten demokratischen Wahlen 1991 vom ehemaligen Generalsekretär des Sambischen Gewerkschaftskongresses, Frédéric Chiluba, geschlagen wurde, war der Rahmen für den neo-liberalen Abbau eines bereits drastisch geschwächten Landes schon gesteckt.
Während sich Chiluba auf dem Rücken einer pro- demokratischen ArbeiterInnenklasse zur Macht emporgeschwungen hatte, offenbarte seine "Bewegung für eine Mehrparteiendemokratie" bald ihr wahres Gesicht. Jede organisierte Gruppe von BürgerInnen muss alljährlich von der Polizei registriert werden, und nach sieben Jahren der Unterbrechung finden auch wieder Hinrichtungen und Folterungen statt. Obwohl Sambia unter Kaunda Rückzugsgebiet für zahlreiche Kämpfer der nationalen Befreiungskämpfe in Afrika und verschiedener Guerillagruppen (darunter auch der südafrikanische ANC) gewesen war, hat doch der Fakt, niemals für die eigene Unabhängigkeit gekämpft zu haben, zur Folge, dass jegliche Tradition einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung fehlt. Die sehr kleine Linke des Landes wird vom Socialist Caucus gestellt, einer marxistisch- leninistischen Diskussionsgruppe an der UNZA.
Die EinwohnerInnen der Elendsviertel essen buchstäblich die Erde, wegen der Mineralien, die sie enthält. Während der zwei Wochen, die ich dort war, wurden fünf Angestellte der UNZA begraben, nachdem sie an Mangelernährung gestorben waren - und das, während die grossen und fetten Angestellten der neoliberalen Nichtregierungsorganisationen die strukturelle Anpassung Sambias dirigieren und sich in Toyota Landcruisers mit High- Tech-Amaturen zu Schau stellen.
Gegen diese Situation und für eine Gehaltserhöhung für das Personal kämpfte Wilstar, und war damit im gesamten Verwaltungsapparat der Universität ganz allein. Wilstar wurde in einen Prozess verwickelt, verlor aber nicht den Kopf und erreichte schließlich die Gehaltserhöhung; und das ermutigte die ausgehungerten ArbeiterInnen, für ihre eigenen Angelegenheiten zu kämpfen. Es war dieser Kampf, der ihn auf die anarchistische Diskussionsliste "organise" gebracht hatte, wo er Kontakt mit unserer Worker's Solidarity Federation (WSF) in Südafrika aufnahm.
Wilstar wurde in Kalomo, einer Stadt im ländlichen Süden des Landes, in einer kleinbäuerlichen Familie geboren. An die UNZA kam er als Bibliothekar. In den Jahren 1995 und 1996 schrieb er in dem Oppositionsblatt "The Post" einige kritische Artikel über die neue Verfassung Sambias, die derzeit gerade erarbeitet wurde. Er argumentierte darin für eine Dezentralisierung der Macht. 1996/97 unterstützte er eine Gruppe von StudentInnen, die der UNZA verwiesen worden waren, weil sie zu einer Versammlung "jenseits der Parteien" aufgerufen hatten.
Zum ersten Mal traf ich Wilstar, als er mich (Delegierter der WSF) im August 1998 nach Sambia eingeladen hatte, um eine öffentliche Konferenz über den gemeinsamen Feind der sambischen und südafrikanischen ArbeiterInnen zu veranstalten. Er war ein freundlicher und flegmatischer Mann, immer nah am Lächeln. Ich will auch unsere leidenschaftlichen Diskussionen über die anarchistischen Strategien nicht vergessen, als wir auf dem Bett in seinem winzigen Appartement saßen, Eier, Brot und Orangen aßen. Kurz nach meinem Besuch gründeten er und der Großteil der Jugendlichen von der "Vereinigung zur Freundschaft zwischen der UNZA und Kuba" (Socialist Caucus), die nun vom Anarchismus überzeugt waren, den AWSM (auch bekannt unter dem Namen Anarchist Worker's Group Zambia). Der AWSM ist die erste anarchistische Organisation in Zentralafrika, die sowohl StudentInnen als auch Angestellte und ArbeiterInnen vereinigt.
Wilstar sprach sich dafür aus, dass der AWSM keine Sektion der WSF werden solle, da die Entfernung zwischen Sambia und Südafrika zu groß ist. Aber er hoffte, die regelmässigen Kontakte wie auch die materielle und ideologische Unterstützung aufrecht zu erhalten. Anfang 1999 schlug die WSF dem AWSM vor, eine Sektion der WSF zu werden, in der sich beide Sektionen horizontal organisieren. Es kam aber so, dass sich die WSF im September 1999 auflöste, weil ihre organisatorischen Methoden ineffizient gewesen waren, und durch die viel produktiveren Gruppen Bikisha Media Collective, Zabalaza Books und Anarchist Union ersetzt wurde. Unser letzter Kontakt zu Wilstar geht auf den 15. Juli 1999 zurück. Wir wurden über seinen Tod kurze Zeit später nicht in Kenntnis gesetzt - er starb mit 35 Jahren an den Folgen von Malaria und Meningitis.
Stoisch bis zum Schluss, hatte er die Krankheit nicht einmal gegenüber seinen GenossInnen erwähnt. Er hinterließ eine Frau und drei junge Kinder. Dieser Nachruf erscheint so spät, weil es in der Kommunikation zwischen den ArbeiterInnen in Afrika noch enorme Probleme gibt. Der AWSM scheint Wilstar nicht überdauert zu haben. Aber selbst wenn sein Tod seine Anstrengungen für eine anarchistische Bewegung in Zentralafrika unterbrochen hat - so bleibt doch das von Wilstar gegebene Beispiel eines praktischen Anarchismus der direkten Aktion bestehen, als ein großer Beitrag zur Ethik der in dieser Region entstehenden Linken. Ein Aktivist des Socialist Caucus beschreibt ihn so: "Er war keiner, der nur seine eigenen Interessen verfolgte. Sein Tod ist ein Verlust, der für die zerbrechliche Linke besonders schwer wiegt." Wie wir hier in Südafrika sagen, wenn einE GenossIn stirbt: "Hamba kahle (Gute Reise), Genosse Wilstar!"
Text von Michael Schmidt, Bikisha Media Collective, Südafrika; Übersetzung ins französische von Relations internationales de la Fédération Anarchiste Frankreich und Belgien, 11. April 2002, Übersetzung ins deutsche von André; 20.04.2002
Originaltext: http://www.anarchie.de/main-15122.html (überarbeitet)