Jenseits des Marktes. Die Wirtschaftstheorien Karl Polanyis als Inspiration für eine libertäre Ökonomie
Vorwort
Die VertreterInnen libertärer Ideen werden oft als desinteressiert an ökonomischen Fragen beschrieben. Dem ist leider zu wenig entgegenzuhalten. Abgesehen von einigen Ausnahmen gibt es tatsächlich nur selten Beiträge zu Wirtschaftsfragen aus libertärer Perspektive, sieht man mal von den Anarchokapitalisten rund um die Zeitschrift eigentümlich frei ab, die freilich einen ganz eigenen Fokus auf diese Thematik legen. Gerade den SyndikalistInnen sollte daran gelegen sein, an diesem Punkt ein tiefgreifendes Gegenkonzept auf der Höhe der Zeit formulieren zu können. Schließlich sind wir in unserer alltäglichen gewerkschaftlichen Praxis ständig mit ökonomischen Fragen konfrontiert. Neben einigen vielversprechenden Ansätzen in Deutschland, haben sich auch im spanischsprachigen Raum in den letzten Jahren einige Initiativen gebildet, die an dieser Stelle Abhilfe schaffen wollen. Gemeinsam ist ihnen die Einsicht, dass die ökonomischen Analysen der letzten hundert Jahre an der libertär-sozialistischen Bewegung weitestgehend vorbeigegangen sind. Dieses Defizit soll zunächst aufgearbeitet werden, bevor ein Konzept für den libertären Kommunismus auf der Höhe der Zeit formulieren werden kann. Aus diesem Grund untersuchen sie unter anderem sozialistische und (neo-)marxistische Wirtschaftstheorien dieses Zeitraums, um aus ihnen für eine libertäre Theorie und Praxis nützliche Aspekte herauszuarbeiten. In diesem Sinne wurde auch dieser Text von Patrick Rossineri geschrieben, den wir in dieser und der nächsten Ausgabe der Direkten Aktion veröffentlichen.
Florian Wegner ("Direkte Aktion"-Ressort „Hintergrund“)
Jenseits des Marktes
Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2008, haben populistische PolitikerInnen immer wieder den Schwerpunkt ihrer Darstellungen auf die Gegenüberstellung einer scheinbar realen und produktiven mit einer vermeintlich irrealen, spekulativen Wirtschaft gelegt. Letztere habe die Blase der Finanzmarktspekulation hervorgebracht und sei die Ursache allen Übels.
Diese Gegenüberstellung verschleiert die sich ergänzende Beziehung zwischen dem Finanzsystem und dem industriellen Komplex. Der produktive Apparat wird uns als Symbol für Tugend und Fleiß verkauft. Nicht beleuchtet wird dabei die rohe Realität der Ausbeutung der ArbeiterInnen, der Einkommensungleichheit, des Zwangs zur Lohnarbeit als einzige zulässige Daseinsform, der Umweltzerstörung und der Produktion für eine Konsumgesellschaft, die nicht die Bedürfnisse der Menschen befriedigt.
Der Kapitalismus hat sich weiterentwickelt und sich den historischen Gegebenheiten immer wieder angepasst: Seit den Anfängen der liberalen Wirtschaft im England des 18. Jahrhunderts, der imperialistische Expansion auf die peripheren Märkte, der Finanzkrise der 1930er Jahre, über die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in seinen verschiedenen Formen, der Rückkehr des Neoliberalismus unter Reagan und Thatcher, bis hin zum Zusammenbruch der sowjetischen Welt, gefolgt von der kapitalistischen Globalisierung mit der Vorherrschaft der Finanzinstitute über den Produktivapparat. Es gibt im Rahmen all dieser Entwicklungen eine hervorstechende Bezeichnung, welche zu einem Synonym für den Kapitalismus geworden ist: die Marktwirtschaft.
Die Marktwirtschaft bedingt den Kapitalismus. Nach den klassischen Ökonomen, den Urvätern des Liberalismus, richten sich die Preise auf einem freien Markt, also ohne staatliche Intervention, nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage: Steigt die Nachfrage, steigen die Preise, und sinkt die Nachfrage, sinken auch die Preise. Gemäß dieser Theorie tendiere der Markt zur Selbstregulierung, die mit dem Bild der unsichtbaren Hand veranschaulicht wird. Im Gegensatz zu dieser liberalen Theorie, vertreten die Schüler John Maynard Keynes’ die Ansicht, dass der Markt durch staatliche Interventionen reguliert werden müsse. Dieses System eines Marktes mit staatlicher Planung und Intervention ist das am weitesten verbreitete, das auch im Lauf der Geschichte die meisten Varianten entwickelt hat. Die VertreterInnen dieser chamäleongleichen Variante des Kapitalismus, die sich auf den „sozialen Markt“ berufen, zeigen heute mit dem Finger auf den Neoliberalismus und beschuldigen ihn allein aller Übel des Kapitalismus.
Die Geschichte der libertären Ökonomie
Die libertäre Bewegung hat im historischen Rückblick keine einheitliche Position bezüglich des Marktes vertreten. Die AnarchokommunistInnen jeglicher Couleur und die SyndikalistInnen im allgemeinen, haben den Markt als Werkzeug im wirtschaftlichen System des libertären Kommunismus strikt abgelehnt. Vor allem die MutualistInnen und Pierre Joseph Proudhon haben den Markt hingegen als virtuellen Raum, in dem der ökonomische Austausch vonstatten geht, beibehalten wollen. Das was die MutualistInnen abschaffen wollten, ist das Ziel der Bereicherung, weil „das Recht eines jeden auf das Produkt seiner Arbeit“ respektiert werden soll. Sie sind der Ansicht, dass in einem wirklich freien Markt, ohne intervenierende Regierung, der Wettbewerb die Monopole vernichten werde. Deshalb schlagen sie ein System des freien Kredits vor, das jedem, der es zum Gebrauch in der Produktion benötigt, die Möglichkeit gibt, Geld ohne Zinsen zu leihen, was dazu führen würde, die Einkommen anzugleichen und die Gewinne auf ein Mindestmaß zu reduzieren, um so den Reichtum ebenso wie die Armut abzuschaffen. Freier Kredit und freier Wettbewerb auf einem offenen Markt, sagen sie, werde als Ergebnis die wirtschaftliche Freiheit haben, während die Abschaffung der Regierung die Freiheit unter Gleichen absichern werde (vergl. Berkman, „Das ABC des Anarchismus“).
Diese Ideen wurden durch den anarchokommunistischen Vordenker Pjotr Kropotkin abgelehnt, der die Idee einer Wirtschaft als ein auf solidarische Prinzipien gegründetes Netzwerk des freien Austausches von Gütern und Dienstleistungen verfocht. Das Prinzip der Bereicherung soll nach dieser Lehre durch einen solidarischen Austausch der Güter ersetzt werden. Der Wert der Arbeit könne, nach der Lehre Kropotkins, unmöglich berechnet werden, weil er von einer Vielzahl von Elementen beeinflusst wird, sodass er sich nicht in Zahlen ausdrücken lasse. Das unterscheidet den Anarchokommunismus vom Marxismus, der von „sozial notwendiger Arbeitszeit“ spricht. Berkman fasst in seinem klassischen Werk zusammen: „Der Austausch der Waren über Preise führt zur Erzeugung von Gewinnen, zur Bereicherung und zur Ausbeutung; in einem Wort, er führt zu irgendeiner Form von Kapitalismus. Wenn du die Gewinne abschaffen willst, kannst du weder ein System von Preisen, noch von Löhnen oder Bezahlung beibehalten. Das bedeutet, dass der Austausch gemäß dem Wert erfolgen muss. Da der Wert aber ungewiss oder nicht ermittelbar ist, sollte der Austausch folglich ebenso frei sein, ohne einen gleichen „Gegenwert“, weil so etwas nicht existiert. Mit anderen Worten, die Arbeit und ihre Produkte müssen ohne Preis ausgetauscht werden, ohne Gewinn, frei, gemäß der Bedürfnisse. Das führt logischerweise zum Gemeineigentum und zum kollektiven Gebrauch.“
Nachdem die Entwicklung der anarchistischen Theorie von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte, verursachte der weltweite Niedergang des libertären Flügel der sozialistischen Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch einen Bruch in der Kontinuität der dementsprechenden sozio-ökonomischen Analytik. Die Weltwirtschaft unterlag ebenso wie der Staat und die Gesellschaften dynamischen Veränderungen, die nicht immer angemessen von den anarchistischen DenkerInnen analysiert worden sind. Heutzutage werden Versuche unternommen, dieses Defizit zu überwinden, indem man sich wieder der sozialen und wirtschaftlichen Untersuchung widmet, mit dem Ziel, eine Analyse für die Bewegung zur Verfügung zu stellen, die auf die Errichtung einer in allen sozialen, ökonomischen und kulturellen Aspekten freien Gesellschaft abzielt. Diese vielfältigen Initiativen manifestieren sich beispielsweise in Arbeiten von Ökonomen wie Abraham Guillén, Michael Albert mit seinem Vorschlag des Parecon (vgl. DA Nr. 188) und der Gründung von Forschungszentren wie dem Instituto de Ciencias Económicas y de la Autogestión (ICEA) oder dem Centre d‘Estudis Llibertaris „Francesc Sàbat“, die beide in Barcelona beheimatet sind.
In diesem Sinne weiter voranschreitend, werde ich im folgenden in das Denken des ungarischen Ökonomen Karl Polanyi (1886-1964) einführen. Dieses Denken stand zwar sozialistischen und demokratischen Ideen, nicht aber dem Marxismus nahe. Auch wenn wir womöglich seine politischen Ideen, die in keinem Bezug zum libertären Denken stehen, nicht teilen, ist es trotzdem interessant, einige Aspekte seiner ökonomischen Theorie zu beachten, die mit dem Anarchismus kompatibel ist: Seine Kritik an der Marktgesellschaft (formuliert in The great transformation, 1944), seinen Vorschlag einer in der Gesellschaft „verankerten Wirtschaft“, die nicht, wie die kapitalistische Marktgesellschaft von der Gesellschaft getrennt ist und die Charakterisierung des wirtschaftlichen Prozessen auf der Grundlage des Prinzips der Gegenseitigkeit, der Umverteilung und des Austausches. Polanyi wird als der Gründer der ökonomischen Anthropologie betrachtet, die sich auf die Untersuchung von vormodernen Gesellschaften spezialisiert hat.
Karl Polanyi und die Marktwirtschaft
Der Markt darf nach den liberalen Ökonomen nicht von anderen Institutionen beeinflusst werden, die ohne zu intervenieren an seinem Rand verbleiben sollen. Diese klassischen Ökonomen haben in die Welt gesetzt, dass die Marktwirtschaft das Ergebnis einer natürlichen Tendenz des Menschen zum Austausch sei, den sie als homo oeconomicus bezeichnen und dessen höchster Grad an Rationalität die Marktwirtschaft sei. Die Individuen streben, entsprechend dieser Theorie, die Maximierung ihrer Profite innerhalb der Gesetze von Angebot und Nachfrage an. Das ökonomische Verhalten sei das Ergebnis eines universellen und natürlichen Triebes zum Handel.
Polanyi hält dieser Idee in seinem Werk The great transformation entgegen, dass der Kapitalismus alle menschlichen Dimensionen dem wirtschaftlichen Aspekt unterordnet und so die produktiven und distributiven Aktivitäten in einem Marktsystem, das die Wirtschaft kontrolliert, organisiert. Die Marktwirtschaft sei weder die natürlichste Wirtschaftsform, noch die Konsequenz einer universellen Tendenz des Menschen, sich entsprechend zu verhalten. Die Marktwirtschaft sei stattdessen ein Produkt der modernen Geschichte Westeuropas. Der Markt habe sich auf die Wirtschaft gestürzt und sich diese angeeignet, sodass er zum einzigen Ausdruck der westlichen Ökonomie wurde. Er habe sich als ökonomisches Modell in einer Wechselwirkung mit den Nationalstaaten und der imperialistischen europäischen Expansion entwickelt. Der Liberalismus, der selber den selbstregulierenden Markt befürwortete, setzte sich mittels staatlicher Planung durch. Die liberalen Ökonomen hätten nie aufgehört, nach der Intervention des Staates zu rufen, wenn es z.B. darum ging, die Gewerkschaftsgesetzgebung oder die Gesetze gegen Monopole zu beeinflussen.
Für Polanyi sind die Marktwirtschaft und der Nationalstaat keine unabhängigen Institutionen, sondern voneinander abhängig. Sie stellen gemeinsam die „Marktgesellschaft“ dar. Der moderne Staat habe sich gleichzeitig mit den Marktwirtschaften herausgebildet und beide hätten sich dann in einem Wechselverhältnis weiterentwickelt. Der Staat habe die traditionellen Gesellschaft umgewandelt und die bäuerlichen Gemeinschaften zerstört, um eine auf Wettbewerb basierende kapitalistische Wirtschaft aufzubauen. Zum ersten Mal in der Geschichte trennte sich im Zuge dessen die Wirtschaft von der Gesellschaft und letztere geriet in einer der ersteren untergeordneten Position. Alles war zur Ware geworden: die Arbeit, der Boden, die Nahrungsmittel, die Werkzeuge, das Geld etc. Der Mensch und die Natur waren den Gesetzen und Dynamiken von Angebot und Nachfrage ausgeliefert und wurden auf dem Altar des Marktes geopfert.
Das Scheitern der liberalen Wirtschaft stürzte die Welt in den 1930er Jahren in eine beispiellose Krise. Die Gegenbewegung war der staatliche Interventionismus, welcher eine Reaktion auf die Desintegration der Gesellschaft von der Wirtschaft war, die der freie Markt zur Folge gehabt hatte. In diesem Zusammenhang kann man die stärker werdende Unterstützung auch vieler ArbeiterInnen in dieser Zeit für populistische, faschistisch-korporativistische, sozialistische, nationalistische und stalinistische Regierungen erklären. Der Staat erschien in ihren Augen nicht mehr als ein Regierungs- und Repressionsinstrument der herrschenden Klasse, sondern als Verteidiger der Interessen des Volkes, als Repräsentation der Gemeinschaft.
Die Polemik gegen die formale Ökonomie
Der grundlegendste Beitrag Polanyi’s zu den Sozialwissenschaften war die Konsequenz, mit der er das Credo einer ökonomischen Rationalität und einer allumfassenden, auf Wirtschaft basierenden Theorie widerlegte. Die Standardannahme postulierte, dass die Wirtschaftswissenschaft die Wissenschaft ist, die das menschliche Verhalten als Beziehung zwischen Zielen und den knappen Mitteln untersucht, welche auf verschiedene Art und Weise eingesetzt werden können. In der Marktgesellschaft ist dieses Verhalten auf den höchsten Profit ausgerichtet, d.h. die handelnden Individuen tätigen ihre Entscheidungen gemäß der Gesetze von Angebot und Nachfrage. Das gesamte Ideengebäude der modernen Wirtschaft beruht auf diesen Prinzipien. Das Konzept von Wirtschaft als solcher erscheint losgelöst von dem Begriff der Gesellschaft, als handele es sich um zwei vollkommen unabhängige Einheiten. In diesem Modell nimmt die Wirtschaft eine zentrale und für die übrigen kulturellen und sozialen Praktiken dominierende Stellung ein. Die Idee, dass die Wirtschaft für die gesamte Gesellschaft grundlegend sei, ist ein Erbe, das auch der Marxismus vom Liberalismus übernommen hat, in dem er diesen ökonomischen Determinismus über den „Historischen Materialismus“ auf die Geschichte übertrug. Polanyi war ein Kritiker des Marxismus und seiner Anhänger in diesem Punkt. Er vertrat die Ansicht, dass soziale Beziehungen nicht unter Produktionsverhältnissen zusammengefasst werden können. Sehr klar haben Fernando Álvarez-Uría und Julia Várela Polanyi’s Position auf den Punkt gebracht: „Die Kritik der wirtschaftlichen Rationalität, das Infragestellen eines technisch-wissenschaftlichen formalen Ansatzes mit universalistischem Anspruch, der sich als ultima ratio, als der Produktion und dem Tausch zugrunde liegendes Motiv darstellt, stellt einen Ausgangspunkt dar, um zu verhindern, dass die Sozialpolitik den Technokraten unterworfen wird, die zu den höchsten Priestern der sozialen Ordnung werden, indem sie die ökonomischen Parameter zu Götzen erklären. Die so abgedroschene Rhetorik vom ‚Wirtschaftswachstum’ und sogar dem ‚Wirtschaftswunder’ oder der ‚Modernisierung’, funktioniert wie eine leere Worthülse, die von den Problemen der direkt betroffenen Bevölkerung und den Auswirkungen, die solche makroökonomischen Parameter auf die unterschiedlichen sozialen Schichten haben, abgekoppelt wird.“
Polanyi zeigte, dass nicht die Möglichkeit, sich zu bereichern, die Menschen zur Produktion von Gütern bewegt und folglich auch kein universelles Verhaltensmuster der Spezies darstellt. Der kapitalistische Markt neigt dazu, die menschlichen Entscheidungen in den Hintergrund zu drängen und sie durch Darstellungen der Mechanismen von Angebot und Nachfrage zu ersetzen. Somit ist das vermeintliche ökonomisch-rationale Verhalten der Individuen im Grunde eine von der Realität entfernte Fiktion. Bereits in den 1920er Jahren hatte der britische Ethnologe Bronislaw Malinowski den allgemeinen Geltungsanspruch des homo oeconomicus der klassischen Ökonomen infrage gestellt, während sein französischer Zeitgenosse Marcel Mauss in seinem einflussreichen Text „Essai sur le don“ („Die Gabe“) andeutete, dass „noch nicht alles gemäß den Konzepten von Kauf und Verkauf klassifiziert ist. Die Dinge haben neben ihrem Verkaufswert einen sentimentalen Wert (...) Wir haben noch andere Moralvorstellungen als nur die des Händlers.“ Fernab der Parameter des Preise aushandelnden Marktes verliert das liberale Paradigma jegliche Relevanz für die ökonomische Analyse.
Polanyi formulierte demgegenüber ein „substantivistisches Paradigma“. Dieses leitet er ab von der „Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt. Es bezieht sich auf den Austausch mit der natürlichen und sozialen Umgebung, in dem Maß, in dem dieser Austausch zum Ziel hat, ihm Mittel für die Befriedigung seiner materiell notwendigen Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen.“ Das entscheidende ist hier, die Interaktion der Menschen mit ihrer Umwelt, um materielle Bedürfnisse zu befriedigen. Die Wirtschaft ist hier ein institutionalisierter Prozess: Die Ströme von Produktion, Verteilung und Aneignung von Gütern und Dienstleistungen sind von kulturellen Werten durchdrungen. Die Ökonomie erscheint als eine Menge von Beziehungen, ein Netzwerk, das die gesamte Gesellschaft durchdringt und nicht vollständig von der Gesellschaft, die ihm Sinn verleiht, abgetrennt werden kann. Dieses Konzept ist mit dem Ideal Kropotkins absolut kompatibel.
Kropotkin als Vorläufer Polanyis
Mehr noch, die Definition von Wirtschaft, die Kropotkin vertrat, nahm Polanyi’s Standpunkt vorweg. Der Ansatz, den der berühmte russische Anarchist in „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ skizzierte, könnte im Rahmen des substantivistischen Paradigmas Polanyi’s formuliert werden. Auch Kropotkin kritisierte die auf Preisunterschiede, Einkommen, die Interessen des Kapitals etc. gerichteten Schwerpunkte der klassischen Ökonomen, die er als vorwissenschaftlich ansah. Er definierte Wirtschaftswissenschaft als „eine Wissenschaft, die sich mit den Bedürfnissen der Menschen und den Mitteln zu deren Befriedigung mit dem kleinstmöglichen Energieverlust beschäftigt, also als eine Art Physiologie der Gesellschaft. Dennoch haben bislang wenige Ökonomen anerkannt, dass dies der eigentliche Bereich der Wirtschaftswissenschaft ist und ihre Arbeit auf dieser Grundlage entwickelt.“ Beide Autoren gingen davon aus, dass die Kenntnis der vormodernen Gesellschaften einen Vergleich mit der kapitalistischen Gesellschaft ermögliche, aus dem man Erkenntnisse für eine Veränderung der Gesellschaft auf der Basis von Freiheit und Gleichheit sowie in Einklang mit der Umwelt gewinnen könnte.
Kropotkins Idee einer Wirtschaft und Gesellschaft, die auf Netzwerken und auf freiem und gegenseitigem Austausch basiert, hat ebenso wie Polanyis Werk eine deutliche ethnographische Konnotation, da Kropotkin, Geograf von Beruf, seine Schlussfolgerungen in „Gegenseitige Hilfe“ auf seine Untersuchungen der Kooperation in „primitiven Gesellschaften“ bezog. Polanyi wird später diesen Ansatz vertiefen und darüber einen eigenen Ansatz entwickeln, der auf drei Formen wirtschaftlicher Integration basiert, die er miteinander vergleicht, um die unterschiedlichen Formen, die wirtschaftliche Beziehungen im Lauf der Zeit in unterschiedlichen Kulturen angenommen haben zu vergleichen. Diese drei Formen sind: das Prinzip der Gegenseitigkeit, die Umverteilung und der Austausch. Wir werden diese Begriffe in der Folge nutzen, um einen Vergleich mit den von der libertären Bewegung vorgeschlagenen Organisationsformen zu ermöglichen.
Die Begriffe des Prinzips der Gegenseitigkeit (Reziprozität), der Umverteilung (Redistribution) und des über den Markt organisierten Austauschs (Marktaustausch) beziehen sich nicht auf individuelle Verhaltensweisen und Interaktionen. Sie beschreiben sozial und kulturell dominierende Mechanismen, die aufgrund ihrer Institutionalisierung innerhalb der Gesellschaft einen integrierenden Effekt haben. Sie werden durch den sozialen Kontext bestimmt, der individuelle Verhaltensweisen in einen von jeder dieser Integrationsmechanismen dominierten Kontext stellen. Das erklärt, warum in einem Wirtschaftssystem „das zwischenmenschliche Verhalten nicht die erwarteten Effekte erzielt, wenn eine dieser institutionalisierten Grundbedingungen nicht erfüllt ist“ (Polanyi).
Beispielsweise stammt das Konzept der Gaben, die um einen Weihnachtsbaum herum abgelegt werden, aus uralten Traditionen der Reziprozität. Dennoch haben sie ungeachtet ihrer weiten Verbreitung die kapitalistischen Gesellschaften nicht im Geringsten verändert. Wenn man in einer Marktgesellschaft wie derjenigen, in der wir leben, kooperative ökonomische Verhaltensweisen außerhalb der Marktbeziehungen umsetzt, können diese nur bis zu einer Grenze ausgelebt werden – übertreffen sie diese jedoch, müssen sie sich den Regeln des Marktes anpassen. So mussten sich auch die in Argentinien nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2001 aufstrebende Fabrikbesetzerbewegung, die Kooperativen und Organisationen wie der Tauschring schnell den Regeln des Marktes anpassen. Der Tauschring war das deutlichste Beispiel: Er war zeitgleich mit der Krise und dem Bargeld-Mangel sowie dem Absinken der Kaufkraft der Bevölkerung angewachsen, jedoch musste man aufgrund der Menge der TeilnehmerInnen Handelsmechanismen zur Preisbildung einrichten. Dies unterlief jedoch den auf Gegenseitigkeit basierenden Austausch, welcher der Institution Sinn gegeben hatte. Nach dem Abflauen der Krise verschwand der Tauschring in der Bedeutungslosigkeit, mit dem zweifelhaften Erfolg, eben das, was er hatte ersetzen wollen, zu stärken.
Die drei Formen der wirtschaftlichen Integration
Reziprozität meint, dass die Waren- und Dienstleistungsbewegungen zwischen symmetrisch aufgestellten Gruppen stattfinden. In Dörfern von bis zu 200 Bewohnern, in denen sich alle untereinander kennen, sind die Tauschbeziehungen gegenseitig. Man gibt, weil man in der Zukunft zu bekommen erwartet, und umgekehrt. Auf diese Weise hatten sich Menschen seit Urzeiten gegen eine unvorhersehbare schlechte Ernte allein durch den einfachen Mechanismus der Großzügigkeit geschützt. Je größer das Risiko, je mehr wird geteilt. Der Anthropologe Marvin Harris sagt dazu: „Die Reziprozität ist die Bank der kleinen Gesellschaften“. Im Rahmen des Prinzips der Gegenseitigkeit dominiert die Selbstlosigkeit, und die Solidarität wird als gegeben angesehen. Der Austausch von Nahrungsmitteln wird ausgleichend zwischen den Familien der Gemeinschaft organisiert.
Man kann unter verschiedenen Typen von Gegenseitigkeit unterscheiden:
1. Generalisierte Reziprozität. Hierbei handelt es sich um altruistische Transaktionen, wo die Gegenleistung auch langfristig erbracht werden oder entfallen kann. Die Normen der Gastfreundschaft, der Unterstützung Alter und Kranker, die gegenseitige Hilfe zwischen Verwandten haben nie die Erwartung einer direkten materiellen Gegenleistung: „Die soziale Seite der Beziehung übertrifft die materielle, und auf eine bestimmte Weise verdeckt sie diese, als zähle sie nicht“. Die Pflicht, sie zu erwidern, ist implizit vorhanden, aber zeitlich, quantitativ und qualitativ unbestimmt: Eine Mutter, die ihr Kind stillt, handelt nicht in Erwartung einer bestimmten Gegenleistung. Der Empfänger wird diese erbringen, sofern es ihm möglich ist oder wenn der Geber es für notwendig hält. Es kann ein dauerhaftes Fließen in eine Richtung sein. Die unterprivilegiertesten Mitglieder einer Gemeinschaft, die nicht für sich selbst sorgen können, sind die typischen Nutznießer dieser sozialen Verhaltensweise.
2. Ausgeglichene Reziprozität. Diese Form umfasst Tauschbeziehungen, die direkt mit einer Gegenleistung verbunden sind und auf der von beiden Tauschpartnern angenommenen Gleichwertigkeit der Tauschgüter basieren. In der Stammesgesellschaft wird sie bei Hochzeiten durch Absprachen zwischen den Eltern des Brautpaares, in Friedensverträgen oder im Tausch von Gütern und Nahrung realisiert. Bei diesen Transaktionen existieren eine Gegenleistung und eine Frist, um diese zu erbringen; außerdem ist die sozial-affektive Verbindung nicht bedeutend. „Die Tauschpartner handeln aufgrund ökonomischer Interessen. Der materielle Aspekt der Transaktion ist ebenso wichtig wie der soziale und es sollte einen mehr oder weniger exakten Ausgleich geben, da diese Operationen sich lohnen sollen.“ Anders ausgedrückt, die Berechnung und das Maß bemächtigen sich der Transaktion, aber nicht ohne den Versuch, einen Vorteil zulasten der Gegenseite zu erhalten.
3. Negative Reziprozität. Hierbei geht es darum, einen Vorteil, also einen Gewinn auf Kosten der Gegenseite zu erhalten: Die Partner haben eine distanzierte Beziehung, entgegengesetzte Interessen, und versuchen, ihren Profit auf Kosten der Ausgaben des anderen zu maximieren. Die Beziehung ist unsolidarisch, trägt aber zum sozialen Gefüge bei, weil das aggressive Verhalten einer Gruppe zu einer anderen eine ähnliche Reaktion hervorrufen wird.
Dem Anthropologen Marshall Sahlins zufolge entsprechen diese Transaktionsformen dem sozialen Abstand der Ausführenden: „Die generelle Reziprozität herrscht in den engsten Sphären vor und schwächt sich in den weiteren ab; die ausgeglichene Reziprozität ist charakteristisch für Beziehungen zwischen einzelnen Segmenten der Gemeinschaft, und die negative ist der in der peripheren Sphäre bestimmende Austausch, insbesondere zwischen Stämmen.“ Eine gegenseitige Struktur besteht notwendigerweise zwischen symmetrischen und egalitären Gruppen, währen die Umverteilung (Redistribution) eines Zentrums bedarf, das asymmetrisch zum Rest der Gesellschaft ist. Das führt uns zum nächsten Punkt.
Redistribution meint die wirtschaftlichen Bewegungen einer Gesellschaft zu einem Aneignungszentrum hin und wieder nach außen zurück. Die Existenz eines Lager- und Verteilungszentrums ist hierfür eine grundlegende Bedingung. Die Zuweisung von Gütern und die Erbringung von Dienstleistungen sind in einer Hand gebündelt, die in vormodernen Gesellschaften üblicherweise an ein politisches Amt geknüpft war. Diese erhält, lagert und verteilt dann unter den Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Redistribution ist in sehr unterschiedlichen Gesellschaften zu finden, von Stämmen von Jägern und Sammlern bis hin zu frühen staatlichen Gesellschaften im alten Ägypten, in Babylonien, in Sumer und dem peruanischen Inka-Reich.
Die Fähigkeit der Redistribution zur Versorgung größerer Bevölkerungszusammenhänge ist erheblich. Sie bewirkt eine Verminderung der ausgeglichenen Reziprozität. Es werden Machtpositionen im Distributionszentrum geschaffen und der Austausch wird zentralisiert. In seiner Erklärung der Entstehung des Staates, vermutet Harris, dass die Redistribution „anfangs klar zur Konsolidierung der politischen Gleichheit, die mit dem gegenseitigen Austausch verknüpft ist, diente“. Der umverteilende Austausch jedoch regte die Überproduktion an, weil die prestigeträchtigen Anführer im Zentrum ihre Autorität durch die Vergrößerung der ihnen unterstehenden öffentlichen Lager konsolidierten. So begann sich die politische Macht dem wirtschaftlichen Reichtum anzugliedern.
Marktaustausch meint die wirtschaftliche Bewegung zwischen Personen oder Gruppen in beide Richtungen innerhalb eines Marktsystems, das Preise erzeugt: Die Preise schwanken mit den Veränderungen von Angebot und Nachfrage im Wettbewerb. Unter den TeilnehmerInnen des Marktes besteht eine gegensätzliche Beziehung, weil ihre Motivation der Erhalt von Profit ist. Inzwischen produziert man nicht mehr für den Konsum, sondern für den Marktaustausch, und zwar mit dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, was wiederum die Überproduktion fördert. Sahlins: „Der Urteilsspruch des Marktes verdammt den Konsumenten zum Mangel, und folglich zu einer lebenslangen Strafe harter Arbeit. Auch findet er keinen Trost im Erwerb von Dingen. Die Beteiligung an einer Marktgesellschaft ist eine unvermeidbare Tragödie: Das was mit einem Mangel begann, wird mit einem Entzug enden. Denn jeder Erwerb ist gleichzeitig ein Entzug – nämlich derjenigen Sache, die man anstelle der ersteren erworben haben könnte. Einen Gegenstand kaufen, bedeutet, sich einen anderen vorzuenthalten.“ So entsteht die Marktgesellschaft, in der die Organisation des Marktes alles umfasst und die Gesellschaft nach ihren Prinzipien organisiert. So begeben sich beispielsweise die ArbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, auf besser vergütete Märkte, um bessere Löhne zu erhalten. Die Bevölkerung verteilt sich und siedelt sich den Bewegungen des Arbeitsmarktes gemäß um. Die Gesellschaft beginnt, für den Markt zu existieren.
Die Totalität des Marktprinzips
Der Markt dringt in alles ein und ordnet alles seiner eigenen Logik unter. Fernab vom Zustandekommen eines Wettbewerbs, der den Fortschritt, also den allgemeinen Wohlstand auf der Basis von Gleichheit und Freiheit, vorantreibt, erzeugt er soziale Ungleichgewichte, Armut und die Unterordnung der Produktivkräfte unter die Logik der Effizienz. Die staatliche Intervention versucht dies zu korrigieren, verlässt selbst aber nie die Marktlogik.
Die Wohlfahrtsstaaten legen den Schwerpunkt auf die Redistribution innerhalb eines Modells des Marktaustauschs. Man verteilt das um, was zwangsweise einbehalten wird, und erhöht theoretisch die staatliche Investition in die einkommensschwächsten und ärmsten Teile der Gesellschaft. Diese Umverteilung kann die Form von Sozialprogrammen annehmen, wie Arbeitslosenversicherungen, Nahrungspakete oder auch eines Kindergeldes. Der Staat stellt sich in der Gesellschaft gegenüber der Gier des privaten Sektors als „das Öffentliche“ auf. Doch eigentlich sieht er sich als Verteidiger dessen, was er vorher zerstört hat: der sozialen Gemeinde. Der Staat als Repräsentant der öffentlichen Ordnung wird zum Unternehmer, indem er öffentliche Bauvorhaben vorantreibt, die Gewerkschaften und sozialen Hilfswerke aufnimmt und den Korporativismus fördert.
Die liberale Utopie hatte sich am Modell des überlaufenden Bechers orientiert, also der Annahme, dass (durch enorme Gewinne der Kapitalisten) die Überschüsse des Festmahls den ArbeiterInnen und dem Rest der Gesellschaft zugute kämen. Das Versagen dieser Idee führte zum Modell der sozialen Marktwirtschaft, der zufolge öffentliche Ausgaben die Verwerfungen des Marktes korrigieren. Diese Situation ist aber nicht auf lange Sicht nachhaltig, weil das Pendel immer wieder in Richtung des Liberalismus ausschlägt. Die Chimäre des freien Marktes auf dem Feld der Wirtschaft und die Demokratie als Regierungsform brechen angesichts einer dauerhaften Tatsache zusammen: Die Monopole setzen sich immer durch, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Das Monopol hat sowohl in dem neoliberalen als auch im sozialstaatlichen Modell Gültigkeit. Auf der wirtschaftlichen Seite herrschen die multinationalen Konzerne, die großen industriellen Komplexe, „nationale“ Unternehmensgruppen, mächtige Finanzkonzerne und Banken; auf der sozialen und politischen Ebene regieren die nationalen Volksparteien, die gelbe Gewerkschaft und ihre Sozialwerke, die Arbeitsministerien, die Medienunternehmen und Sicherheitskräfte.
Innerhalb der Rationalität des Marktes ist der Preis das Maß des Austauschs, der Rohstoffe und produzierten Güter, einschließlich der menschlichen Arbeit. So wird unter diesem Gesichtspunkt eine Entscheidung wie die, chilenische Bergarbeiter aus einer in 700 Metern Tiefe eingestürzten Mine zu retten, als unwirtschaftlich bewertet. Es wäre billiger gewesen, die Arbeiter sterben zu lassen und eine Entschädigung an ihre Angehörigen zu zahlen, als Millionen von Dollar für die Rettung auszugeben. Allerdings wäre der politische Preis dafür sehr hoch gewesen, weshalb die politische Rendite der chilenischen Regierung sich trotz der materiellen Ausgaben mit der Rettung maximierte.
Betrachten wir ein wenig die „Rationalität“ dieser Logik: Nehmen wir an, dass 100.000 Tonnen Weizen auf dem Getreidemarkt 100 Millionen Dollar kosten. Und zu diesem Preis von 100 Millionen kann man gemäß dem Marktpreis äquivalente Güter kaufen: Die Mona Lisa von Da Vinci, ein Kriegsflugzeug neuester Bauart, die Reinigung eines verseuchten Flusses oder die Entschädigung für die Arbeitsunfähigkeit von 1.000 krebskranken Anwohnern eines Atomkraftwerkes. Der „Rationalität der wirtschaftlichen Akteure“ zufolge sind sie im Preis äquivalent, also austauschbar. Es ist also dasselbe, wenn die Mona Lisa zerstört wird oder ein Kriegsflugzeug, oder ob eine unbekannte Anzahl von Menschen stirbt; es ist das gleiche, Getreide wie Flugzeuge zu kaufen, wenn sie im Preis äquivalent sind. Und jedes dieser Güter und Dienstleistungen soll ein paar Tausend zerknautschten Papierstückchen entsprechen, die von Banken geschaffen und von Staaten ausgegeben wurden, die wir „Geld“ nennen. Wie es schon Marx sagte, im Kapitalismus ist alles eine Ware. Und weil alle Waren in der Marktgesellschaft einen Preis haben, hat alles einen Preis, sogar unser Leben.
Für eine Ökonomie des Konkreten
Von den Formen wirtschaftlicher Integration, die wir oben beschrieben haben, ist mit dem Anarchismus nur eine Ökonomie der Reziprozität, kombiniert mit einer Form von Redistribution, vereinbar. Eine libertäre Wirtschaft, die gemäß den Bedürfnissen ihrer Mitglieder organisiert ist, sollte über Umverteilungsstrukturen verfügen, die eine Zirkulation bestimmter Güter und Dienstleistungen zu einem Zentrum erfordern, um sie später nach außen zu verteilen. Diese Zirkulation von Gütern wird mit starken Netzwerken der Gegenseitigkeit zwischen den Produzenten koexistieren und von diesen durchdrungen sein.
Dieses Konzept wurde in den Kollektiven während der Spanischen Revolution in die Tat umgesetzt, wenn auch in einem Kontext, in dem der Staat noch nicht abgeschafft worden war. Es gab sehr unterschiedliche Erfahrungen, manche waren dem Kooperatismus näher, in anderen wurden Transaktionen innerhalb einer Kommune (ähnlich dem Mutualismus Proudhons) über eine interne Währung abgewickelt; in anderen Kollektiven wurde das Geld abgeschafft und man näherte sich einem kommunistischen System an; es gab auch die Zuteilung von Konsumgütern in einem kollektivistischen System. Außerdem wurden – gemeinsam mit den individuellen ProduzentInnen, die sich der Beteiligung an den Kollektiven verwehrten, und auch im Warenverkehr zwischen Kollektiven – frei vereinbarte Austauschformen gebraucht, und zwar auf der Grundlage von Tausch oder über Geld. Leider wurden all diese Netzwerke von den Stalinisten zerschlagen, die sich der Verteidigung des Privateigentums und des industriellen Bürgertums verschrieben hatten.
Innerhalb eines Systems von Netzwerken und übergeordneten Föderationen, in dem Waren frei auf der Grundlage von Abmachungen zwischen Kollektiven und Individuen zirkulieren, besteht die einzige der Organisation innewohnende Gefahr im Gewicht der Redistributionszentren. Die Redistribution kann in Autoritarismus kippen, weil die wirtschaftliche Konzentration auch in Systemen, in denen das Privateigentum und der Markt abgeschafft wurden, Klientelismus und politische Herrschaft entstehen lassen kann. Diese Gefahr war von den Mitgliedern der Federación Obrera Regional Argentina (FORA) erkannt worden, die einigen Aspekten der Rolle der Gewerkschaften nach der Revolution in den Konzepten der Syndikalistem widersprachen. Erkenntnisse, die sich in der Spanischen Revolution leider bestätigten. In den modernen Gesellschaften ist das eindrücklichste Beispiel eines durch die Redistribution dominierten Systems das marxistisch-leninistische. Der Staat ist die umverteilende Institution par excellence. In der zentralistischen Planwirtschaft sind alle Einwohner Angestellte des Staates, weshalb dieses System als „Staatskapitalismus“ bezeichnet wurde, auch wenn kein „Markt“ existiert, der Preise bilden könnte. Preise werden vom Staat nach dessen eigenen Kriterien festgelegt. Die Menschen geben dem Staat ihre Arbeitskraft und dieser erbringt Dienstleistungen und verteilt die produzierten Güter. Der sozialistische Staat wird so zu einer mächtigen Struktur, der sich niemand entziehen kann, ohne in die Marginalität abzurutschen. Dieselbe Logik, die im politischen System angewandt wird, gilt auch im wirtschaftlichen System. Das bestätigt die Annahme Polanyis, dass Wirtschaft und Gesellschaft (Kultur, Politik, Religion usw.) miteinander verknüpft sind, und dass es nicht möglich ist, sie voneinander getrennt zu analysieren.
In einer libertären Wirtschaft sollte darauf geachtet werden, dass das Reziprozitätssystem nicht der Sphäre des Marktaustauschs untergeordnet wird, weil dies zu einer Rückkehr des Kapitalismus führen würde. Dies ist die große Schwäche der mutualistischen Idee, die sogar ein Preis- und Marktsystem für den Austausch beibehält. Außerdem ist jede Form der Bewertung über Preissysteme zu verwerfen. Eine libertäre Ökonomie sollte sich auf die Befriedigung von Bedürfnissen und nicht auf die Erzeugung von Gewinnen konzentrieren. Beispiele des Austausches auf der Grundlage der Notwendigkeiten, symmetrisch und ohne das Ziel eines Gewinns, sind nicht nur in der anthropologischen Literatur, sondern auch in der modernen kapitalistischen Gesellschaft zahlreich zu finden.
Ebenso wie der Ethnologe Marcel Mauss bei vormodernen Tauschbeziehungen bemerkte, haben in einer auf der Gabe (statt der Ware) basierenden Wirtschaft die Güter keinen Preis, weil das, was nicht zum Verkauf steht, keinen Preis hat. Der Tausch hat einen umverteilenden Effekt, wenn die ausgetauschten Güter symmetrisch sind. Sind die Tauschgüter asymmetrisch, entsteht eine Schuld oder Pflicht und der Geber bekommt Macht über den Empfänger, wodurch die Bedingungen für die Entstehung einer Hierarchie oder Klientelbeziehung erfüllt werden. In den auf Reziprozität und symmetrischer Redistribution basierenden Wirtschaften maximieren die Tauschbeziehungen die Freude zu geben und zu empfangen, wobei die Solidarität der Gruppe gestärkt, Konflikte abgeschwächt, die Kooperation verstärkt und die individuelle Entwicklung der Personen gefördert wird. In einer Gesellschaft mit einer derartigen Wirtschaft wird das egoistische Verhalten sozial sanktioniert: Diejenigen, die versuchen, das altruistische und solidarische Verhalten auszunutzen, werden im Gegenzug irgendeine Art negativer Gegenseitigkeit erleiden.
Den Markt und den Staat, die zwei grundlegenden Säulen der modernen kapitalistischen Wirtschaft, und die Marktgesellschaft hinter sich zu lassen, ist weder ein Hirngespinst, noch das Produkt phantasievoller anarchistischer Theoretiker, sondern eine konkrete und gangbare Möglichkeit, die eine bemerkenswerte wissenschaftliche Grundlage hat. Wir dürfen die Wichtigkeit, unsere theoretischen Grundlagen und Ideen zu überdenken, nicht unterschätzen, wenn wir eine freie und egalitäre Gesellschaft erreichen wollen. Es ist ziemlich klar, dass sich die Formen der Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur durch die Macht der Waffen und die Verführung der Massenmedien erhalten, sondern auch durch die akademische Unterstützung und das, was „Allgemeinwissen“ genannt wird.
Patrick Rossineri
Übersetzung: Sebastian Frei & Florian Wegner
Das spanische Original dieses Textes erschien in den Ausgaben 56 (Dez. 2010) und 57 (Jan. 2011) der Zeitschrift Libertad! aus Buenos Aires (Argentinien).
Literatur:
- Alexander Berkman: „ABC des Anarchismus“, Trotzdem, Grafenau 2002 (1978).
- Maurice Godelier: „Ökonomische Anthropologie“, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1973.
- Marvin Harris, „Menschen: wie wir wurden was wir sind“, DTV, München 1996 (1991).
- Marcel Mauss, „Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften“, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2004 (1968).
- Karl Polanyi, „The great transformation: politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen“, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995 (1977).
- Karl Polanyi, „The livelihood of man“, Academic Press, New York 1977.
Erschienen in: Direkte Aktion 204 – März/April 2011 und 205 - Mai/Juni 2011
Originaltexte: http://www.direkteaktion.org/204/wirtschaftstheorien-karl-polanyi und http://www.direkteaktion.org/205/jenseits-des-marktes-libertaere-oekonomie