Albert R. Parsons - Rede vor Gericht
39 Jahre alt, Schriftsetzer
Wenn es in diesem Prozeß einen Charakterzug gibt, Your Honor, so ist es die Leidenschaft, der Haß und die Heftigkeit, mit denen alles betrieben wird, was mit uns und unserer Sache nur irgendwie zusammenhängt. Sie fragen mich, warum das Todesurteil nicht über mich gefällt werden sollte, oder, was auf dasselbe hinausläuft, warum Sie mir in einem neuen Prozeß Gelegenheit geben sollten, meine Unschuld zu beweisen? Darauf antworte ich Ihnen und sage: daß dieses Urteil ein Urteil der Leidenschaft ist; ein Urteil, geboren aus Leidenschaft, genährt von Leidenschaft und alles in allem die Summe einer speziell in Chicago geschürten Pogromhetze gegen uns.
Nun, was ist Leidenschaft? Leidenschaft ist die Außerkraftsetzung der Vernunft. Leidenschaft herrscht in einem Straßenauflauf, in einem Wirtshausstreit, in einer Schlägerei auf der Gasse, wo die Vernunft links liegengelassen und an ihre Stelle ein Gefühl der Verbitterung tritt. Dort wird ein ruhiges Urteil und alles suspendiert, was zu Gerechtigkeit und Wahrheit führen kann. Ich meine, Sie können nicht bestreiten, daß dieser Prozeß in Leidenschaft verstrickt und von ihr von Anfang bis Ende überschwemmt worden ist. Und sogar in dieser Stunde, während ich hier unter dem Galgen stehe und mich der Henker mit dem Strick erwartet, zusammen mit meinen sieben verurteilten Kameraden, hört die niederträchtige kapitalistische Presse dieser Stadt - die gekauften Lügenorgane der Monopolisten, die sich als die Vertreter der öffentlichen Meinung ausgeben - nicht auf, mit leidenschaftlichem Ungestüm nach unserem Blut zu verlangen. Während ich hier stehe, um gegen meine Verurteilung und für einen neuen Prozeß zu sprechen, existiert in diesem Land eine Verschwörung, die von Ihnen, Your Honor, verlangt, uns keinen neuen Prozeß zu gewähren. Ich weiß, daß die Vertreter der Millionärs-Organisation dieser Stadt, bekannt unter dem Namen des »Chicagoer Bürgervereins«, an Sie, Your Honor, herangetreten sind und von Ihnen unsere sofortige Ausrottung und Auslöschung durch einen unehrenhaften Tod verlangen. Nun, ich stehe hier als ein gewöhnlicher Mann, als Arbeiter, Mann des Volkes und der Masse; und ich verlange, gehört zu werden.
Ich habe zwei Monate lang hier gesessen und jene Ankläger haben ihren Unflat über meinen Kopf gegossen, während ich nicht ein einziges Wort zu meiner Verteidigung anführen durfte. Zwei Monate lang haben sie ihr Gift wie Schlangen über mich und meine Kameraden versprüht; und wenn es eine geistige Tortur gibt, so haben jene Männer sie uns angetan. Wenn ich mich daher erregt zeige, so ist dies nur eine Folge davon; und wenn meine Kameraden und Genossen mit demselben erregten Nachdruck gesprochen haben, so gilt meine Entschuldigung auch für sie.
Lassen Sie uns die ganze Angelegenheit von einem richtigen Standpunkt aus betrachten. Was ist die Arbeiterfrage? Die Arbeiterfrage ist keine Frage von Gefühlen. Sie ist keine religiöse Angelegenheit und kein politisches Problem. Nein, Sir, sie ist eine ernste ökonomische Tatsache, hartnäckig und unerschütterlich. Natürlich hat sie ihre emotionelle Seite, ihre gefühlsmäßigen, religiösen und politischen Aspekte - aber die Quintessenz ist die Brot- und Butterfrage. Wie wir leben und unser tägliches Brot verdienen werden, das ist die Arbeiterbewegung. Und sie steht auf wissenschaftlicher Grundlage und ist auf Tatsachen gegründet.
Aber lassen Sie mich zuerst erklären, was Kapital ist. Kapital ist angehäufter und angesammelter Mehrwert aus früherer Arbeit. Kapital ist das Produkt von Arbeit. Sein einziger Zweck ist es, sich weiterhin Mehrwert aus den Arbeitsprodukten der Lohnarbeiter anzueignen und zu beschlagnahmen. Das kapitalistische System ist aus der gewaltsamen Aneignung natürlicher Quellen entsprungen und der Anmaßung von Rechten durch einige wenige. Daraus entwickelten sich dann spezielle Privilegien, die seitdem zum wohlerworbenen Recht erklärt worden sind, formal abgesichert durch ein Bollwerk aus Gesetz und Regierung.
Das Kapital kann nicht existieren, wenn nicht eine Mehrheit ohne Eigentum, also ohne Kapital, existiert; eine Klasse, deren einzige Existenzgrundlage darin besteht, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen. Der Kapitalismus wird geschützt, erhalten und verewigt vom Gesetz. In Wirklichkeit ist das Kapital das Gesetz - das Gesetzesrecht -, und umgekehrt ist das Gesetz das Kapital.
Aber was ist Arbeit? Arbeit ist eine Ware, und der Lohn ist der Preis, der für sie gezahlt wird. Der Besitzer dieser Ware »Arbeit« verkauft sich selbst dem Besitzer des Kapitals, um überhaupt leben zu können. Arbeit ist der Ausdruck von Energie und Stärke der Lebenskraft des Arbeiters. Diese Energie oder Kraft muß er für sein Leben einer anderen Person verkaufen. Sie ist seine einzige Existenzgrundlage. Er arbeitet, um zu leben, aber seine Arbeit ist nicht bloß ein Teil von seinem Leben - sie ist sein Lebensopfer. Seine Arbeit ist eine Ware, die er unter dem Deckmantel der freien Arbeit gezwungen ist, in die Hände einer anderen Partei zu geben. Der gesamte Lohn, den der Arbeiter für seine Anstrengungen erhält, ist aber nicht das Ergebnis seiner Arbeit - weitentfernt. Die Seide, die er webt, der Palast, den er baut, die Erze, die er gräbt, sind nicht für ihn - oh, nein! Das einzige, was er für sich selber produziert, ist sein Lohn; und die Seide, die Erze und der Palast, die er geschaffen hat, verwandeln sich für ihn in eine schäbige Existenz, nämlich in ein Baumwollhemd, in ein paar Pfennige und zur Mietwohnung in einem fremden Haus.
Mit anderen Worten, sein Lohn stellt bloß die notwendigsten Lebensmittel dar, während der unbezahlte Mehrwert seines Arbeitsproduktes den ungeheuren Reichtum der nicht-produzierenden, kapitalistischen Klasse bildet. Das ist das kapitalistische System in wenigen Worten.
Dieses System erzeugt die Klassen, und diese Klassen erzeugen den Konflikt. Dieser Konflikt spitzt sich in dem Maße zu, mit dem die Gewalt der privilegierten Klassen über die besitzlosen Klassen zunimmt. Und diese Gewalt wächst an, indem die Handvoll Müßiggänger immer reicher und die Produzenten immer ärmer werden. Und das erzeugt, was wir Arbeiterbewegung nennen. Das ist die Arbeiterfrage.
Ich kann mir vorstellen, daß Your Honor sagen: »Aber die Arbeit ist frei, dies ist ein freies Land.« Nun, wir hatten in den Südstaaten nahezu ein Jahrhundert eine Arbeitsform, bekannt als Sklavenarbeit. Sie wurde abgeschafft, und ich höre Sie sagen, daß die Arbeit seither frei sei. Aber ist das wahr? Worin besteht der Unterschied zwischen der Sklavenarbeit der Vergangenheit und der heutigen Lohnsklaverei? Früher wählte sich der Herr den Sklaven, heute muß sich der Sklave seinen Herrn wählen, wenn er nicht zu meinem Freund, dem Schließer, gebracht und in eine Zelle in meiner Nachbarschaft gesteckt werden will.
Jefferson Davies, der Expräsident der Südkonföderation, hat positiv bewiesen, daß die Einführung der Lohnarbeit ein Segen für die früheren Sklavenhalter gewesen sei, weil nun die Toten für ihr eigenes Begräbnis und die Kranken für ihre Genesung selber zu sorgen hätten. Und wo früher die in Salzlauge getauchte Lederpeitsche ihre Wirkung zeigte, dasselbe besorgt heute der peitschende Hunger beim Lohnsklaven. Aber Sie werden sagen, daß der Sklave früher seinem Sklavendasein nicht entrinnen konnte. Ich glaube, daß Statistiken beweisen würden, daß früher ebensoviele mit Bluthunden gehetzte Sklaven ihren Weg nach Kanada fanden, wie es heute Lohnsklaven gelingt, sich in die kapitalistische Freiheit heraufzuarbeiten.
Ich bin Sozialist. Und obgleich Lohnsklave, bin ich einer von denen, die es für Unrecht halten, einen Weg einzuschlagen, um selber ein Herr und Sklavenhalter zu werden. Ich weigere mich gleichermaßen, ein Sklave zu sein oder ein Sklavenhalter. Hätte ich mich anders entschieden, so könnte ich heute in einer der schönsten Straßen von Chicago wohnen, umgeben von einem herrlichen Heim, in Luxus und Bequemlichkeit und mit Sklaven, die meine Wünsche erfüllen. Aber ich habe einen anderen Weg gewählt, und deshalb stehe ich vor dem Galgen. Dies, und dies allein ist mein Verbrechen.
Bedenken Sie, Your Honor, ich sehe kleine Kinder leiden, sehe Erwachsene hungern. Und ich sehe andere in Luxus schwelgen und in Reichtum und Pracht leben von der unbezahlten Arbeit ihrer Arbeiter. Ich rede von Fakten! Ich sehe in Chicagos Straßen 30.000 Menschen brotlos, wie im letzten Winter, von Elend und Not heimgesucht. Und dann sehe ich das 1. Regiment, und erfahre durch die Zeitungen, daß das 1. Regiment sich auf Straßenkämpfe vorbereitet, um diese Elenden und Bettler zu vernichten, »die aus ihren Löchern gekrochen kommen«, wie es der Staatsanwalt hier ausdrückte. Ich sehe, wie die Arbeiter kaltblütig niedergemacht werden und daß Männer auf den Straßen der amerikanischen Städte dafür gedrillt werden, ihre Mitmenschen abzuschlachten, wenn diese das Recht auf Arbeit und die Früchte ihrer Arbeit fordern. All das sehe ich, und ich koche vor Empörung und vor Mitleid. Mein Herz spricht. Da mag ich wohl ein paar Dinge gesagt haben, die ich in kühleren Augenblicken heruntergeschluckt hätte.
Die Chicago »Tribüne« gibt ihren Lesern den Rat, Vagabunden ein Butterbrot mit Strychnin zu reichen, sobald sie sich in der Nachbarschaft blicken lassen. Sind solche Aussprüche nicht dazu angetan, die Menschen zu verbittern? Ist das keine Rechtfertigung dafür, was Sie bei uns als »Aufforderung zur Gewalt« bezeichnen? Haben nicht die Monopolisten mit dieser Sprache angefangen? Haben sie nicht zuerst davon gesprochen, Dynamitbomben in die Streikenden zu werfen. Haben sie nicht zuerst von der »Kugelnahrung« gesprochen?
Und sie haben sie auch verabreicht! Sie haben Handgranaten geworfen. Und die Handgranate auf dem Haymarket ist von der Hand eines monopolistischen Verschwörers geworfen worden, den man von New York hierher geschickt hat mit dem speziellen Auftrag, die Achtstundenbewegung zu beenden und diese acht Männer hier an den Galgen zu bringen. Your Honor, wir sind die Opfer der gemeinsten und niederträchtigsten Verschwörung, die jemals die Annalen der Geschichte entehrte.
In Verbindung damit will ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, wie man Polizisten, Milizen und Pinkertons gegen Arbeiter und Streikende ins Feld schickt. Im »Alarm« vom 17. Oktober 1885 finden wir folgendes Geheimzirkular abgedruckt: »Die Pinkertons Schutzpatrouille ist verbunden mit einer Nationalen Detektivagentur. Gesellschaften oder Individuen, die die Gesinnung ihrer Arbeiter auszukundschaften wünschen, bevor sie Streiks beginnen könnten oder weil sie den Knights of Labor angehören, können jederzeit von uns einen geeigneten Detektiv erhalten, der sich unter die Arbeiter mischt. Es ist häufig der Fall, wenn man solche Mittel rechtzeitig anwendet und die Rädelsführer ausmerzt, daß damit Schlimmeres verhütet wird. Achtungsvoll W. A. & R. A. Pinkerton, New York & Chicago.«
Hier haben wir also ein Unternehmen, das eine Privatarmee auf die Beine gestellt hat. Diese Privatarmee wird kommandiert und kontrolliert von denjenigen, die den Armen die Gesichter zerschunden haben und die Löhne unter das Existenzminimum drückten. Diese Privatarmee kann an jeden Platz, wo sie gerade gebraucht wird, gebracht werden. Zuerst geht es zum Hocking Valley, um die hungernden Minenarbeiter zu unterdrücken; dann nach Nebraska, um auf die streikenden Bergleute zu schießen. Danach karrt man sie nach Osten, um den Streik der Fabrikarbeiter zu beenden. Diese Armee wird über das ganze Land verschickt, und sie schnüffelt sogar in den Arbeiterorganisationen herum, um die sogenannten Rädelsführer ausfindig zu machen und sie sich vorzuknöpfen. Und das bedeutet, Your Honor, daß ein Arbeiter, der noch den Mut besitzt, sich zu äußern und zu wehren, als Rädelsführer an die Luft gesetzt wird, falls man ihn nicht zu einer Gesetzesübertretung provozieren und als Verschwörer vor Gericht stellen konnte. Vor Gericht wird ein solcher Fall mit einem Federstrich erledigt - und der Streik ist unterdrückt. Das Monopol triumphiert, und die Pinkertons haben ihre Arbeit verrichtet, für die sie bezahlt wurden.
»Zum Abschluß wurden die Divisionen in Schlachtordnung aufgestellt, und die Kompanien und Bataillone feuerten reihenweise. Das Manöver endete ehrenvoll für das Regiment, und es würde im Falle der Not sicher vorzügliche Dienste in den Straßen tun. Colonel Knox wünscht sich die Reihen sobald wie möglich von 400 auf 800 Mann aufgefüllt. Geschäftsleute sollten sich für diese Organisation besonders interessieren und helfen, das Milizregiment in die Lage zu versetzen, mit dem Pöbel fertigzuwerden, sobald es sich in nächster Zeit als notwendig erweisen sollte.« Dieser Artikel erschien in der »Times« am Tag nach dem Straßenmanöver anläßlich des Thanksgiving Day. Eine Woche später hielt die amerikanische Gruppe in der »Internationale« eine Massenveranstaltung in der East Randolph Street ab, auf der meine Frau, Mrs. Lucy E. Parsons, als Hauptrednerin auf die Übungen des Milizregiments einging:
»Was müssen sich die Unterdrückten in den anderen Ländern dabei gedacht haben, als sie den Gleichschritt der Miliz unter der Flagge der Stars und Stripes hörten? Alle diejenigen, die diese Fahne zuerst in den Wind hängten und proklamierten, daß unter ihr die Unterdrückten aller Länder Zuflucht und Schutz finden sollten? Wir hören den Gegenschritt von zwei Millionen heimatlosen Wanderarbeitern durch ganz Amerika; den Schritt von Männern, die stark genug zum Arbeiten sind und fähig und willig, sich und ihren Familien Nahrung zu verschaffen. Was ist los in diesem Land? Haben wir eine Hungersnot gehabt? Ist die Ernte verdorben? Das sind ernste Fragen für uns, die Produzenten und Leidtragenden.
Werft einen Blick auf den Reichtum dieses Landes! Er hat sich in den letzten zwanzig Jahren um mehr als zwanzig Milliarden Dollar vermehrt. In wessen Hände ist dieser Reichtum geflossen? Gewiß nicht in die Hände der Produzenten, denn sonst müßte man keine Straßenmanöver abhalten. Dieses Land hat eine Bevölkerung von 55.000.000, und ein statistischer Vergleich zeigt, daß allein in den Städten New York, Philadelphia und Boston 20 Männer einen privaten Reichtum von 750.000.000 Dollar besitzen. Diese zwanzig Individuen, die ein Dreimillionstel der Bevölkerung ausmachen, haben den sechsundzwanzigsten Teil des gesamten Wachstums an sich gebracht, der von der Arbeiterklasse produziert worden ist.
Eine Regierung, die solche Plünderei beschützt und mithilft, das Volk auf diese Weise ins Unglück zu stürzen, ist ein Betrüger, gleichgültig ob sie sich Republik, Monarchie oder Empire nennt. Die amerikanische Fahne beschützt ebensoviel ökonomischen Despotismus wie irgendeine andere. Worin besteht denn die vielgerühmte amerikanische Freiheit? In den Tagen unserer Vorväter wehten die Stars und Stripes über allen Meeren als Zeichen der Freiheit, heute jedoch sind sie zum Emblem der Monopole geworden. Und die amerikanischen Arbeiter? Sie scheinen vergessen zu haben, woraus Freiheit und Unabhängigkeit wirklich bestehen. Sie schreien sich heiser am Wahltag - und wofür? Für das erbärmliche Privileg, ihre Herren wählen zu dürfen. Armselige amerikanische Souveräne! Millionen von ihnen wissen nicht, wie sie ein Bett oder eine Suppe auftreiben können! Was nützt da der Stimmkasten? Kann sich ein Mann damit Brot oder Kleidung, Obdach oder Arbeit wählen? Worin besteht die Freiheit des amerikanischen Lohnsklaven? Überall sind die Armen die Sklaven der Reichen, und der Stimmkasten ist weder eine Versicherung gegen den Hunger, noch gegen die Kugeln der Miliz. Brot dagegen ist Freiheit und Freiheit ist Brot.
Der Stimmzettel bietet keine Deckung gegen die Kugeln derjenigen, die sich hier in Chicago auf Straßenkämpfe vorbereiten. Der Stimmzettel ist wertlos für den Industriesklaven unter den derzeitigen Bedingungen. Wir sagen mit Victor Hugo, daß das Paradies der Reichen aus den Höllen der Armen hervorgegangen ist. Und wenn die Arbeiter sich weigern, gesetzeshalber und um der Ordnung willen zu verhungern, wenn sie zu denken anfangen und zu handeln - dann bereitet man sich auf Straßenkämpfe vor. Die Ausbeuter sehen den Sturm kommen. Sie sind fest entschlossen, ihren Reichtum, koste es was es wolle, zu behalten. Arbeiter - und wir meinen euch Frauen ebenso - erhebt euch! Agitiert, organisiert und bereitet euch darauf vor, euer Leben, eure Freiheit und euer Glück gegen die Mörder zu verteidigen, die sich am Danksagungstage auf die kommenden Straßenkämpfe vorbereiteten!«
Nun, Your Honor, läßt sich in dieser Rede ein Satz oder eine Äußerung finden, die gegen das Gesetz oder gegen die Verfassung verstößt; die das Recht auf Redefreiheit oder das Versammlungsrecht oder das Recht auf Selbstverteidigung verletzt hat? Stellen Sie sich vor, das 1. Milizregiment übt sich im Straßenkampf, wie man von vier Ecken aus vier Straßen auf einmal leerfegen kann. Von wem? Die »Tribüne« und die »Times« sagen: »Vom Mob.« Wer ist der Mob? Arbeiter sind es, unzufriedene Arbeiter und Frauen. Leute, die für Hungerlöhne arbeiten und für ein paar Cents mehr Lohn streiken. Sie sind der Mob, und gegen sie übt man sich im Straßenkampf.
Das 1. Regiment rückt aus mit tausend Mann, alle bewaffnet mit neuesten Winchestergewehren. Auf der anderen Seite der Mob ohne Waffen. Denn eine Winchesterbüchse kostet 18 Dollar. Und wir können uns keine Armee leisten, denn man braucht dazu ebensoviel Kapital, wie um eine Industrie aufzubauen. Aber was können die Arbeiter tun? Was müssen sie tun? Your Honor, eine Dynamitbombe kostet sechs Cents. Sie kann von jedermann hergestellt werden. Bin ich daran schuld? Soll ich dafür gehängt werden, weil ich das den Leuten gesagt habe?
Man nennt mich einen Sprengstoffattentäter? Warum? Habe ich jemals Dynamit benutzt? Nein! Hatte ich jemals welches? Nein! Weiß ich etwas darüber? Nein! Weshalb nennt man mich trotzdem einen Sprengstoffattentäter? Ich will es Ihnen sagen. Das Schießpulver markierte im fünfzehnten Jahrhundert eine neue Ära in der Weltgeschichte. Es bedeutete das Ende für die Panzerhemden der Ritter, Freibeuter und Räuber dieser Periode. Nun war es den einstigen Opfern jener Straßenräuber möglich, sich mit Hilfe des Schießpulvers aus sicherer Entfernung zu verteidigen und mit einer Kugel in das Fleisch ihre Räuber zu durchbohren. Schießpulver wurde ein demokratisches Werkzeug. Es wurde zu einer republikanischen Einrichtung, denn das Ergebnis war, daß es gleichzumachen begann und ein Gleichgewicht an Macht mit sich brachte. Nun war weniger Macht in den Händen des Adels, weniger Macht in den Händen des Königs, weniger Macht in den Händen derjenigen, die das Volk ausplündern, erniedrigen und zerstören wollten.
Genauso ist das Dynamit heute zum Befreier des Menschen von Vorherrschaft und der Versklavung durch seinen Mitmenschen geworden. (Das Gericht zeigt Symptome von Unruhe) Ertragen Sie es mit Geduld. Dynamit bedeutet die Verbreitung von Gewalt. Es ist demokratisch und macht jedermann gleich. General Sheridan sagte: »Waffen sind nun wertlos.« Sie sind wertlos gegenüber diesem Werkzeug. Nichts kann es mit ihm aufnehmen. Die Pinkertons, die Polizei und das Militär sind absolut ohnmächtig gegenüber dem Dynamit. Sie können dem Volk nichts mehr antun. Gar nichts! Dynamit ist der Gleichmacher, die Nihilierung. Es ist die Verbreitung von Gewalt. Es ist der Sturz der Unterdrückung. Es ist die Abschaffung der Autorität, die Morgendämmerung des Friedens. Es ist ein Friedensstifter und des Menschen bester und letzter Freund. Es befreit die Welt von der Herrschaft einiger Weniger über Viele; denn letztendlich ist jede Regierung Gewalt, genauso wie alle Gesetze im Endeffekt Gewalt sind. Alles basiert auf Stärke. Die Stärke ist das Gesetz des Universums, sie ist Naturgesetz. Und die neuentdeckte Kraft macht alle Menschen gleich und frei.
Nun, ich spreche unmißverständlich. Ich spreche als Anarchist, als Sozialist, als Lohnsklave, als Arbeiter. Jedoch kann man aus meinen Ansichten folgern, daß ich für das Geschehen auf dem Haymarket verantwortlich bin? Ich bin als Anarchist angeklagt und verurteilt worden. Man beschuldigt die Anarchisten, daß sie Gewalt gebrauchen. »Von eurem eigenen Munde sollt Ihr verflucht werden!« - Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ist auf Gewalt gegründet und wird durch Gewalt aufrecht und am Leben erhalten. Dieses kapitalistische System, so wie wir es heute haben, würde keine 24 Stunden fortdauern, wenn es nicht durch die Bajonette und Knüppel von Militär und Polizei zusammengehalten würde. Nein, Sir, keine 24 Stunden! Denn wir, Sir, wir verwerfen es! Wir sind dagegen! Wir protestieren! Denn Sie oder die Ankläger hier, beschuldigen uns der Sache, deren Sie schuldig sind!
Es ist die uralte Geschichte aus Äsops Fabel. Das Lamm steht am Fluß und der Wolf oberhalb. Das Wasser fließt runterwärts, aber der Wolf sagt: »Mach mir das Wasser nicht trübe!« Das Lamm erwidert: »Wie kann ich es trüben, stehe ich doch unter dir?« »Einerlei!«, sagt der Wolf. »Fleisch ist Fleisch.« Und er geht hin und frißt das Lamm. Genauso geht es zwischen den Kapitalisten und den Anarchisten zu. Sie tun die Dinge, deren sie uns anklagen, und gegen die wir protestieren. Nun, jede Institution, die auf Gewalt basiert, verurteilt letzten Endes nur sich selber. Um das zu beweisen, bedarf es keiner Argumente.
Anmerkung:
»Die Anklagen der Angeklagten - Die berühmten Reden der acht Chicagoer Anarchisten vor Gericht, nachdem man sie gefragt hatte, warum das Urteil nicht über sie vollstreckt werden sollte« sind nach einem Chicagoer Original ohne Jahresangabe 1969 in New York als Reprint erschienen. Die Gerichtsreden von Fischer, Lingg, Engel und Parsons sind von Horst Karasek anhand der New Yorker Ausgabe ins Deutsche übertragen worden. Die Rede von Parsons wurde erheblich gekürzt – er sprach alleine 7 Stunden.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at