Louis Lingg - Rede vor Gericht

22 Jahre alt, Zimmermann

Gerichtshof! Mit dem selben Hohn, mit dem man hier in diesem „freien“ Land Amerika meine Anstrengungen betrachtete, als ich vergeblich versuchte, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, mit dem selben Hohn gestattet man mir jetzt, nachdem ich zum Tode verurteilt worden bin, noch einmal sprechen zu dürfen. Wenn ich trotzdem von Ihrer Art Freiheit Gebrauch mache, so tue ich es nur, um die Ungerechtigkeiten, die Lügen und Gemeinheiten, mit denen man mich hier überhäuft hat, an den Pranger zu stellen.

Man hat mich des Mordes angeklagt und verurteilt: Welche Beweise hat man gegen mich erbracht? Zuerst hat man diesen Mitläufer Seliger hierher geschleppt, damit er gegen mich aussagt. Ihm habe ich geholfen, Bomben herzustellen. Desweiteren hat man bewiesen, daß ich diese Bomben mit Hilfe eines Dritten nach 58 Clybourn Ave. gebracht habe. Nicht bewiesen aber haben Sie - auch nicht mit Hilfe des gekauften Verräters Seliger -, daß eine dieser Bomben zum Heumarkt gebracht worden ist. Zwei oder drei Chemiker wurden hier als Sachverständige gehört, doch konnten sie nur feststellen, daß das Metall, aus dem die Heumarkt-Bombe gemacht war, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem meiner Bomben hatte. Ihr Herr Ingham [1] hat vergeblich zu leugnen versucht, daß die Bomben völlig verschieden voneinander waren. Er mußte zugeben, daß im Durchmesser ein Unterschied von einem halben Inch besteht. Er unterdrückte aber die Tatsache, daß auch in der Wandstärke die Differenz ein viertel Inch ausmacht. Das sind die Beweise, auf die hin man mich verurteilt hat. Aber es ist nicht Mord, weswegen man mich verurteilt hat. Der Richter hat dies noch heute Morgen in seinem Resümee bestätigt und Grinnell hatte es zuvor schon erklärt, daß wir nicht wegen Mordes, sondern wegen Anarchismus vor Gericht gestellt wurden. Ich wurde verurteilt, weil ich Anarchist bin.

Was ist Anarchismus? Meine Genossen haben sich klar genug darüber ausgesprochen, so daß ich nicht noch einmal darauf zurückkommen muß. Meine Genossen haben Ihnen deutlich genug gezeigt, was unsere Ziele sind. Darüber hat Ihnen der Staatsanwalt hier nichts erzählt. Er hat nicht etwa die Lehren des Anarchismus kritisiert und verdammt, sondern unsere Methoden, sie in die Praxis umzusetzen. Ebenso verschwiegen hat er, daß diese Methoden uns durch die Brutalität der Polizei aufgezwungen werden. Grinnell hat uns den Vorschlag gemacht, die Mißstände mit dem Stimmzettel und den Gewerkschaften zu beseitigen, während Ingham sogar eine Sechsstundenbewegung befürwortete! Tatsache ist, daß bei jedem Versuch, mit dem Stimmzettel politische Macht zu gewinnen, bei jedem Bestreben, die Kräfte der Arbeiter zusammenzufassen, Sie den Polizeiknüppel hervorkehrten. Ich habe rohe Gewalt empfohlen, um die weit rohere Gewalt der Polizei zu bekämpfen. Man hat mir vorgeworfen, „Gesetz und Ordnung“ zu verachten. Was bedeutet Euer „law and order«? Es wird repräsentiert von einer Polizei, die Diebe in ihren Reihen hat. Hier sitzt Captain Schaack. Er hat selbst vor mir zugegeben, daß in seinem Büro mein Hut und meine Bücher gestohlen worden seien. Das sind Eure Beschützer des Eigentums! Die Detektive, die mich verhaftet haben, sind wie Einbrecher in meine Wohnung eingedrungen - und ihre Aussagen sind Meineide. Doch lassen Sie uns weitergehen. Schaack, der Captain der Polizei, ist selber meineidig geworden. Er hat geschworen, daß ich ihm eingestanden hätte, auf der Heumarkt-Versammlung gewesen zu sein, während ich ihm deutlich erklärt hatte, daß ich auf der Versammlung der Zimmerleute in Zepf's Halle war. Er hat auch geschworen, daß ich ihm gesagt hätte, daß ich aus Herrn Mosts Buch gelesen habe, wie Bomben gemacht werden. Auch das ist ein Meineid.

Aber lassen Sie uns noch eine Stufe höher bei diesen Vertretern von Gesetz und Ordnung gehen! Grinnell und seine Beisitzer haben Meineide zugelassen, und ich sage, daß sie es wissentlich getan haben. Den Beweis haben meine Verteidiger erbracht. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Grinnell den Gilmer, acht Tage bevor er ihn in den Zeugenstand schickte, mit den Personalien der Männer bekannt machte, gegen die er schwören sollte. Grinnell hat seine Polizei und andere Schufte dazu angestiftet, Meineide zu schwören, um sieben Männer, darunter auch mich, zu ermorden. Dieser Schurke Grinnell hatte den traurigen Mut, mich hier im Gerichtssaal, wo ich mich nicht verteidigen kann, einen Feigling zu nennen! Ein Kerl, der sich mit einem Pack gemeiner, gekaufter Gauner zusammengetan hat, um mich an den Galgen zu bringen! Und weshalb? Aus niedriger Habsucht, um es zu „etwas“ zu bringen, um Geld zu machen! Und dieser Schuft, der mit Hilfe anderer meineidiger Schufte sieben Männer ermorden will, dieser Kerl nennt mich einen Feigling! Und dann rechnet man es mir noch als Schuld an, wenn ich solche „Ordnungsvertreter“ verachte - solche unbeschreiblichen Heuchler!

Anarchie heißt: Weder Herrschaft noch Autorität von Menschen über andere, aber Sie nennen das „Unordnung“. Sie nennen ein System „Unordnung“, das weder Gauner noch Diebe braucht, um „Ordnung“ zu schaffen. Der Richter hat selber zugeben müssen, daß es dem Staatsanwalt nicht gelungen ist, mich mit dem Bombenwurf in Verbindung zu bringen. Aber der Staatsanwalt weiß sich zu helfen, indem er mich der Verschwörung anklagt. Und wie beweist man sie? Man erklärt einfach die Internationale Arbeiterassoziation für eine Verschwörung. Ich war Mitglied dieser Vereinigung - folglich bin ich der Verschwörung überführt. Ausgezeichnet! Es geht doch nichts über die Erfindungsgabe eines Staatsanwalts!

Es ist nicht meine Pflicht, meine Beziehungen zu meinen Leidensgenossen offenzulegen. Das allgemeine Elend, das Wüten der kapitalistischen Hyäne hat uns miteinander verbündet, nicht als einzelne Individuen, sondern als Arbeiter für dieselbe Sache in unserer Agitation. Das ist die Verschwörung, derer man mich beschuldigt. Ich protestiere gegen das Urteil, gegen diese Entscheidung des Gerichts. Ich erkenne eure Gesetze nicht an, die in vergangenen Jahrhunderten zusammengeflickt worden sind. Ich erkenne die Entscheidung des Gerichtes nicht an! Meine Verteidiger haben mit Entscheidungen von gleich hohen Gerichten haargenau nachgewiesen, daß uns ein neuer Prozeß zugestanden werden müßte. Der Staatsanwalt hat mit dreimal sovielen Entscheidungen von vielleicht noch höheren Gerichten das Gegenteil bewiesen. Ich bin überzeugt davon, daß man selbst in einem anderen Prozeß 100 weitere Bände herbeischaffen würde, wenn es um die Verurteilung von Anarchisten ginge. Aber nicht einmal mit so einer Rechtsprechung, die selbst ein Schuljunge verachten muß, nicht einmal mit solchen Tricks hat man uns legal verurteilen können. Dazu brauchte man Meineide.

Ich erkläre frei und offen, daß ich für Gewalt bin. Ich hatte schon zu Captain Schaack gesagt: »Wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamitbomben antworten.« Ich wiederhole, daß ich ein Feind der heutigen „Ordnung“ bin. Und ich wiederhole, daß ich mit allen Kräften, solange noch ein Atemzug in mir ist, diese „Ordnung“ bekämpfen werde. Und ich erkläre noch einmal, daß ich für die Anwendung von Gewalt bin. Ich habe es Captain Schaack erklärt, und ich bleibe dabei: »Wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamit antworten.« Sie lächeln?! Sie denken wohl: „Du wirfst bestimmt keine Bombe mehr!“ Aber ich versichere Ihnen, daß ich freudig am Galgen sterbe, weil ich davon überzeugt bin, daß Hunderte und Tausende, zu denen ich gesprochen habe, sich meiner Worte erinnern werden; und wenn Ihr uns gehängt habt - dessen bin ich gewiß - werden sie Bomben werfen. In dieser Hoffnung rufe ich euch zu: Ich verachte euch! Ich verachte eure Ordnung, eure Gesetze, eure Gewaltherrschaft! Hängt mich dafür!

Fußnoten:
[1] George C. Ingham, Nebenkläger des Staates.

Anmerkung:
»Die Anklagen der Angeklagten - Die berühmten Reden der acht Chicagoer Anarchisten vor Gericht, nachdem man sie gefragt hatte, warum das Urteil nicht über sie vollstreckt werden sollte« sind nach einem Chicagoer Original ohne Jahresangabe 1969 in New York als Reprint erschienen. Die Gerichtsreden von Fischer, Lingg, Engel und Parsons sind von Horst Karasek anhand der New Yorker Ausgabe ins Deutsche übertragen worden.

Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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