Das Leben von Adolph Fischer
Schriftsetzer, im Alter von 25 Jahren zum Tod verurteilt
In Deutschland, an den Ufern der Weser, fast sieben Meilen von ihrer Mündung in die Nordsee entfernt, liegt die alte Stadt Bremen. Im Mittelalter gehörte Bremen zu den freien Städten, die sich zur Hanse zusammengeschlossen hatten, einer Vereinigung, die durch ihren Kampf gegen Freibeuter, wegen ihres Reichtums und ihres Einflusses berühmt wurde. Die Hansestädte hatten in der damaligen Zeit das Monopol im Welthandel; und Bremen ist heute noch eines der bedeutendsten Handelszentren des europäischen Kontinents und hat zur Zeit etwa 140.000 Einwohner. Hier wurde ich geboren.
Es würde den Leser wohl kaum interessieren, wenn ich ausführlich über meine Kindheit berichten würde. Ich bin wie jedes normale Kind aufgewachsen. Ich bin achteinhalb Jahre zur Schule gegangen und im Alter von 15 Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Bald nach meiner Ankunft in Amerika begann ich in Little Rock in der Druckerei meines Bruders William B. Fischer zu arbeiten und machte dort eine Lehre als Schriftsetzer. In der Druckerei wurde eine deutsche Wochenzeitung gemacht. Nach Abschluß meiner Lehre übte ich mein Handwerk in verschiedenen Städten des Landes aus. Im Juni 1883 führte mich das Schicksal nach Chicago; seitdem lebe ich hier mit meiner Familie. Ich fand bei der »Arbeiter-Zeitung« eine Anstellung als Schriftsetzer und habe dort bis zu meiner Inhaftierung wegen angeblicher Teilnahme an der Heumarktaffäre gearbeitet. Ich bin Mitglied der Deutschen Druckergewerkschaft, der ich 1879 in St. Louis beigetreten bin. Hier habe ich auch 1881 geheiratet. Ich habe drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, die bei meiner Frau in Chicago leben.
Da mir die Prinzipien des Sozialismus von frühester Jugend an vertraut waren, hielt ich es für meine Pflicht, diese mir so teure Lehre, wann und wo immer es mir möglich war, zu verbreiten. Wie es dazu kam, daß ich Sozialist wurde? Ich will es mit wenigen Worten erzählen: Während meiner letzten Schultage kam unser Lehrer wie zufällig auf den Sozialismus zu sprechen, der sich zur damaligen Zeit in Deutschland zu einer Bewegung auszuweiten begann. Ich bin geneigt, anzunehmen, daß die Regierung eine Verfügung an alle patriotisch gesinnten Lehrer erlassen hatte, ihren älteren Schülern in regelmäßigen Abständen den Sozialismus als eine äußerst schlimme Sache darzustellen. Es ist, wie man weiß, eine altbewährte Taktik der monarchischen Regierungen der alten Welt, mit Hilfe der Lehrer in dem noch nicht gefestigten Bewußtsein der Jugendlichen Vorurteile gegen alles zu wecken, was den Herrschenden nicht genehm ist. »Die Zeit ist nahe«, sagte dieser ehrbare Bürger, »wo ihr jungen Männer euer tägliches Brot im Schweiße eures Angesichts verdienen müßt. Einige von euch werden es zu Wohlstand bringen, andere werden nicht soviel Glück haben. Das Ziel dieser Sozialisten - dieses faulen Bodensatzes des Volkes - ist es nun, euch mit Gewalt dazu zu zwingen, alles, was ihr am Ende des Jahres besitzt, mit ihnen zu teilen. Wenn ihr beispielsweise zwei Paar Stiefel euer eigen nennt, wird euch einer dieser Sozialisten ganz freundlich um ein Paar erleichtern. Wie würde euch das gefallen?«
Nun wußte ich, daß mein Vater sehr häufig zu Veranstaltungen der Sozialisten ging, und ich fragte mich an diesem Tag, warum er, von dem ich eine so hohe Meinung hatte, sich mit so schlechten Leuten abgab, die selbst nicht arbeiten wollten, sondern es darauf anlegten, daß das fleißige und arbeitssame Volk seinen Verdienst mit ihnen teilte. Zu meiner großen Überraschung brach mein Vater in lautes Lachen aus und begann mir auseinanderzusetzen, daß es in unserer Gesellschaft in der Tat viele träge und arbeitsscheue Menschen gab, die in palastähnlichen Häusern residierten und auf Kosten des ordentlichen, fleißigen und arbeitssamen Volkes im Überfluß lebten, und daß der Sozialismus es sich zur Aufgabe gemacht habe, diese ungerechte Verteilung abzuschaffen.
Von diesem Tage an begleitete ich meinen Vater zu sozialistischen Versammlungen. Seit jenen Tagen sind Jahre vergangen. Ich bin vergleichsweise weit herumgekommen, habe Kontakte zu Menschen aller Klassen gehabt und hatte die Möglichkeit, mich zu informieren und Erfahrungen zu sammeln. Das ganze Leben ist nichts als ein Lernprozeß. Das, was man gewöhnlich als Schule bezeichnet, ist nur eine Einführung in die praktische Schule des Lebens. Eine große Anzahl von Arbeitern haben ihre Erfahrungen wie ich in der harten Schule ihres Lebens gesammelt, und sie beginnen, die Krankheitssymptome der Gesellschaft richtig zu deuten. Die Kapitalisten und Profitgeier brauchen die gesellschaftlichen Mißstände, um ihre Ernte einbringen zu können. Ohne sie wären sie wie Ärzte ohne Kranke. Deshalb unternehmen sie alles, um zu verhindern, daß die Arbeiter, ihre Sklaven, aus ihrer geistigen Betäubung erwachen.
Mit welchen Mitteln versuchen diese menschlichen Drohnen ihre Absichten in die Tat umzusetzen? Oder anders ausgedrückt, wie versuchen sie, die Lohnsklaven in ihrer Unwissenheit zu belassen? Beschäftigen wir uns eingehender mit diesem Problem. Die Arbeiter werden von frühester Kindheit an auf ihr späteres Schicksal vorbereitet, genauso wie Tanzbären von ihren Meistern dressiert werden. In Schulen und Kirchen lernen sie, es sei Gottes Wille, daß es Reiche und Arme gäbe. Die Werke des Allmächtigen sind weise und unergründlich. Er weiß ganz genau, was er tut, wenn er einige seiner Kinder mit Reichtum und Besitz überhäuft, während andere nicht genug zum Leben haben. Nun mögen einige engstirnige Leute behaupten, Gott handle hiermit sehr voreingenommen. Aber sie irren sich. Auf diejenigen, die auf dieser elenden Erde augenscheinlich vernachlässigt werden, wartet im Himmel höchste Anerkennung, so daß alles wieder ins rechte Lot kommt. Gott liebt die Demütigen und Bescheidenen, die Geduldigen und Gehorsamen, wird den Arbeitern eingeredet. Bete und arbeite, denn Gott selbst hat die sündige Menschheit dazu verdammt, ihr tägliches Brot im Schweiße ihres Angesichts zu essen. Diese und ähnliche Ratschläge verfehlen ihre Wirkung auf das aufnahmebereite Bewußtsein des Kindes nicht, und so bleiben sie, wenn sie erwachsen sind, gehorsame, anspruchslose und unwissende Sklaven, ohne sich dessen bewußt zu sein. Man hat sie zur Unwissenheit erzogen, und sie vermuten nirgends ein Unrecht, sondern glauben, daß der Gesellschaftszustand, in dem sie leben, die natürliche Ordnung der Dinge sei.
Kein Wunder also, daß die herrschende Klasse diese Leute als »rechtschaffene, ehrliche und gesetzestreue« Arbeiter bezeichnet. Sie haben nun Grund genug, über sie zu herrschen, denn sie sind wirklich so gehorsam wie eine Schar Gänse und so sanft wie Lämmer. Aber wenn diese blinden, ewig träumenden Sklaven nur einmal hinter die Kulissen blickten, würden sie entdecken, daß sie auf eine infame Weise betrogen werden. Sie würden herausfinden, daß diejenigen, die ihnen »bete und arbeite!« in die Ohren schreien, sich zwar zum Beten herablassen, aber nicht arbeiten; und daß diejenigen, die nicht müde werden, die Arbeiter daran zu erinnern, daß sie ihr tägliches Brot im Schweiße ihres Angesichtes verzehren sollten, diesen Anspruch nicht auf sich selber beziehen. Sicher, diese Heuchler geraten ab und zu ins Schwitzen, aber nicht weil sie arbeiten, sondern weil sie ausschweifende Orgien feiern.
Das stärkste Bollwerk des kapitalistischen Systems ist die Unwissenheit seiner Opfer. Der Durchschnittsarbeiter schüttelt wie der ungläubige Thomas den Kopf, wenn man ihm zu erklären versucht, daß er unter ökonomischen Zwängen lebt. Als ich an der Seite meiner Kollegen arbeitete und versuchte, sie von meinen Ideen zu überzeugen, pflegte ich ihnen eine Geschichte über Füchse zu erzählen: »Mehrere Füchse sannen über einen Plan nach, der es ihnen ermöglichen sollte, zu leben, ohne auf die Jagd gehen zu müssen. Schließlich kamen sie auf eine Idee, und sie nahmen alle Quellen und anderen Wasserstellen in Besitz. Als nun die anderen Tiere kamen, um ihren Durst zu löschen, sagten die Füchse zu ihnen: „Die Wasserstellen gehören uns. Wenn ihr trinken wollt, müßt ihr uns etwas dafür geben und uns als Gegenleistung zu fressen bringen.« Die anderen Tiere waren dumm genug, zu gehorchen. Und um trinken zu können, mußten sie den ganzen Tag auf Jagd gehen, um das Fressen für die Füchse zu besorgen, so daß für sie selbst nur sehr wenig übrigblieb.« Ich fragte einen meiner Kollegen, der als überzeugter Gegner des Sozialismus bekannt war, was er von dieser Geschichte halte? Er sagte, daß die Tiere, die von den Füchsen so sehr betrogen worden waren, sehr dumm gewesen wären. Er meinte, daß sie die Füchse von den Wasserstellen hätten vertreiben müssen. Als ich ihn darauf hinwies, daß in der modernen Gesellschaft etwas Ähnliches praktiziert würde, nur mit dem Unterschied, daß die Rolle der Füchse von den Kapitalisten eingenommen würde, und die Wasserstellen nur ein anderer Ausdruck für Produktionsmittel wäre, blieb er mir die Antwort schuldig. Dieses Beispiel zeigt die Unwissenheit und Gleichgültigkeit des Durchschnittsarbeiters. Im Vorgehen der Füchse sehen sie nichts als Raub, während sie die Methoden der Kapitalisten billigen.
Von seinen Gegnern werden dem Anarchismus einander widersprechende Vorwürfe gemacht. Einige Leute haben das Gefühl, daß der Mensch in der anarchistischen Gesellschaft, in der niemand herrscht und niemand beherrscht wird, sehr vereinsamt sein müsse. Das ist nicht richtig. Die Menschen neigen von Natur aus dazu, mit ihren Mitmenschen zusammenzuleben. In einer freien Gesellschaft würden die Menschen ökonomische und soziale Verbände bilden, aber alle Organisationen wären freiwillig und nicht erzwungen. Im Gegensatz dazu sind Gesetze und Gesetzesübertretungen Attribute des Privateigentums, vor allem der ungerechten Verteilung von lebensnotwendigen Gütern, der Erniedrigung und der Not. Zu behaupten, ein Mensch sei kriminell, weil er von Natur aus dazu veranlagt sei, ist falsch. Ein Mensch ist in der Regel nur das Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse. In einer Gesellschaft, die der freien Entfaltung des Menschen keinen Stein in den Weg legt und die jeden in gleicher Weise an dem Streben nach Glück teilhaben läßt, wird niemand einen Grund haben, Verbrechen zu begehen.
Wie wollen die Anarchisten ihre Ideen verwirklichen? Anarchismus an sich heißt nicht Gewalt, sondern Frieden. Aber ich bin sicher, daß jeder, der den wahren Charakter des kapitalistischen Systems erkannt hat und der sich keiner Selbsttäuschung hingeben will, mit mir darin übereinstimmen wird, daß die herrschende Klasse ihre Privilegien nie und nimmer freiwillig abtreten wird. Für die Abschaffung der Leibeigenschaft in diesem Land wurde ein langer und furchtbarer Krieg geführt. Obwohl man ihnen anbot, sie für ihre Verluste zu entschädigen, wollten die Sklavenhalter ihren Sklaven nicht die Freiheit geben. Meiner Meinung nach sind diejenigen, die glauben, daß die modernen Sklavenhalter, die Kapitalisten, ihre Privilegien freiwillig aufgeben und ihre Lohnsklaven freigeben, bedauernswerte Theoretiker. Die Kapitalisten sind viel zu selbstsüchtig, um Vernunft anzunehmen. Ihr Egoismus ist so groß, daß sie sich sogar weigern, unbedeutende Zugeständnisse zu machen. Die Kapitalisten und Syndikate büßen lieber Millionen von Dollars ein, als der Forderung nach dem Achtstundentag zuzustimmen. Wäre eine friedliche Lösung der sozialen Frage möglich, wir Anarchisten wären die ersten, die sich darüber freuen würden.
Es ist doch ohne Zweifel so, daß bei fast jedem Streik die Speichellecker des Privateigentums - die Miliz, Polizei, Sheriffs, ja sogar Bundestruppen - zu den Schauplätzen der Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Kapitalisten gerufen werden, um die Interessen des Kapitals zu schützen. Ist es schon einmal vorgekommen, daß diese Truppen die Interessen der Arbeiter geschützt haben? Zu welchen friedlichen Mitteln können die Arbeiter denn greifen? Gibt es da nicht zum Beispiel den Streik? Wenn die herrschende Klasse „das Gesetz“ anwenden will, dann kann sie jeden streikenden Arbeiter wegen Einschüchterung und Konspiration verhaften und bestrafen lassen. Ein Streik jedoch kann nur dann erfolgreich sein, wenn die streikenden Arbeiter verhindern, daß ihre Plätze von anderen eingenommen werden. Aber nach dem Gesetz ist das wiederum ein Verbrechen. Boykott? In mehreren Bundesstaaten haben die Gerichte entschieden, daß Boykott eine Rechtsverletzung darstellt. Folglich wurde eine Reihe von Arbeitern der „Verschwörung“ gegen die Interessen des Kapitals für schuldig befunden und hatten das Vergnügen, sich die Zuchthäuser von innen ansehen zu dürfen.
»Aber«, sagen einige Apostel des Ausgleichs, »da gibt es noch etwas, was uns allen helfen kann, die Wahlen.« Ohne Zweifel meinen viele es ehrlich damit. Aber kaum hatten sich die Arbeiter als Klasse an den Wahlen beteiligt, da forderten viele Vertreter von „Recht und Ordnung“ eine Beschränkung - in vielen Fällen sogar die völlige Abschaffung des Wahlrechts für Proletarier. Leute, die die Chicago »Tribüne«, die »Times« oder ähnlich repräsentative kapitalistische Presseorgane gelesen haben, werden meine Aussage bestätigen. Innerhalb der Kapitalistenklasse wird immer stärker die Forderung laut, das Wahlrecht auf Steuerzahler, sprich Besitzende, zu beschränken; und man wird so verfahren, sobald die politische Arbeiterbewegung eine wirkliche Gefahr für die Interessen des Kapitals darstellt.
Wir Anarchisten sind nicht blind. Wir verfolgen die Entwicklung und sagen voraus, daß ein Zusammenstoß zwischen Plebejern und Patriziern unvermeidlich ist. Deshalb - rechtzeitig für den bevorstehenden Kampf - zu den Waffen! Wenn sich Gewitterwolken am Himmel zusammenziehen, rate ich meinem Freund, einen Schirm mitzunehmen, damit er nicht naß wird. Verursache ich deshalb den Regen? Nein! So lassen Sie mich meine Meinung deutlich sagen, nämlich, daß sich die Lohnsklaven nur mit Waffengewalt aus der kapitalistischen Knechtschaft befreien können.
Nun zur Heumarktversammlung und ihren Folgen. Ich habe schon einmal erwähnt, daß bei den Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalisten und der Arbeiterklasse immer wieder Miliz, Polizei, Sheriffs und Pinkertons ihr Gewicht für die Interessen des Kapitals in die Waagschale geworfen haben. Ihre Angriffe haben häufig in grundlosen Niedermetzelungen von Männern und Frauen, ja sogar von unschuldigen Kindern geendet, und die kapitalistische Presse hat diesen Massakern unter dem „Mob“ in einer brutalen Art und Weise Beifall gespendet. Ich kenne nicht einen Fall, wo diese feigen und heimtückischen Verbrechen bestraft worden sind. Ich brauche nur an die Grausamkeiten der Hilfssheriffs in East St. Louis zu erinnern, die im letzten Frühjahr völlig grundlos und willkürlich 7 oder 8 Männer, Frauen und Kinder töteten. Die Täter wurden nicht einmal angeklagt, geschweige denn verurteilt. [1] Wie die Miliz vor einiger Zeit in Lemont [2] in Illinois wütete, können die Witwen und Waisen der Dahingeschlachteten erzählen. Die Mörder wurden nicht etwa wegen ihrer Verbrechen verfolgt, sondern wegen ihrer Tapferkeit hochgelobt. Ohne irgendeinen Vorwand veranstalteten Angehörige der Miliz vor einigen Jahren in Belleville in Illinois ein grausames Schauspiel - den Ausschreitungen folgte keinerlei Bestrafung. Würde ich alle Verbrechen, die im Namen von „Recht und Ordnung“ begangen wurden, aufzählen und beschreiben, so müßte ich ein Buch so dick wie die Bibel verfassen.
Auch Chicago kann ein trauriges Lied von den Greueltaten seiner Polizei singen. Die »International Working People's Association« hat niemals versäumt gegen diese Freveltaten zu protestieren und eine Bestrafung der schuldigen Parteien zu fordern. Die Zwischenfälle vor McCormick führten zu der Versammlung auf dem Heumarkt. Die Versammlung fand statt und verlief sehr ruhig und geordnet. Sogar einige Zeugen des Staates sagten aus, daß die dort gehaltenen Reden vergleichsweise gemäßigt und eher etwas konservativ gewesen seien. Ich nahm an der Versammlung teil und verfolgte die Reden bis etwa 22.10 Uhr. Die ersten Einzelheiten über die Vorfälle auf dem Heumarkt erfuhr ich am nächsten Morgen, als ich mir auf dem Weg in die Stadt eine Morgenzeitung kaufte. Am selben Morgen wurde ich etwa um 10 Uhr 30 im Büro der »Arbeiter-Zeitung« zusammen mit anderen Mitarbeitern verhaftet. Seitdem atme ich Gefängnisluft.
Mir bleibt nicht mehr viel zu berichten, denn ich nehme an, daß die Farce, die sich in Richter Garys Gerichtssaal abspielte, bekannt ist. Ich glaube nicht, daß es in diesem Land auch nur einen Prozeß gegeben hat, der dieser Verhandlung an Parteilichkeit und allen nur denkbaren Korruptionsversuchen, einschließlich Meineid und Bestechung, gleichkommt. Und das alles, um unserer Verurteilung Vorschub zu leisten. Ach, ich vergaß: 7 Polizisten sind umgekommen, und dafür müssen 7 andere büßen. Nun, es bleibt abzuwarten, ob die Bevölkerung dieses Landes schon so heruntergekommen ist, daß sie einen siebenfachen Justizmord zuläßt.
Es gibt einen Machtfaktor, der während des Prozesses und nach ihm eine verhängnisvolle Rolle spielte - die kapitalistische Presse. Ich wage zu behaupten, daß selbst in so despotisch regierten Ländern wie Deutschland und Rußland die Zeitungen nicht so parteiisch, heuchlerisch und verlogen sind, wie die Presse im „Land der Freien und Tüchtigen“. Wie das Gericht und die Staatsanwaltschaft öffentlich erklärt haben, wurde das Todesurteil verhängt, um die anarchistische und sozialistische Bewegung zu zerschlagen. Ich freue mich, daß diese barbarische Maßnahme das genaue Gegenteil bewirkt hat. Tausende von Arbeitern sind durch unsere Verurteilung erst dazu gekommen, sich mit dem Anarchismus eingehender zu beschäftigen. Wenn wir hingerichtet werden, können wir das Schafott mit dem befriedigenden Gefühl besteigen, daß wir durch unseren Tod die Sache, die uns allen so am Herzen gelegen hat, weiter vorangetrieben haben, als es uns möglich gewesen wäre, wenn wir so alt wie Methusalem geworden wären.
Fußnoten:
[1] 1885 heuerte eine Eisenbahngesellschaft in East St. Louis Schläger an, um den Streik der Weichensteller zu brechen. Die Streikbrecher wurden zu Hilfssheriffs ernannt. Ohne daß man sie provoziert hatte, eröffneten sie das Feuer auf eine Gruppe streikender Arbeiter und sympathisierender Bürger und töteten mehrere Menschen. Viele wurden verwundet. Die Schläger wurden aufgrund des Protestes der Öffentlichkeit verhaftet, aber das Geschworenengericht von St. Clair weigerte sich, diese Männer zu verurteilen.
[2] 1885 veranstalteten die Arbeiter der Steinbrüche von Lemont, einem Vorort von Chicago, einen Protestmarsch, um sich gegen eine Lohnkürzung zu wehren. Die Miliz schoß auf die Arbeiter und tötete zwei, bevor der Protestmarsch beendet war.
Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at