Der Kongress der Antiautoritären Internationalen in St. Imier (1872)

Diesen Herbst (am 15. September) jährt sich zum hundertsten Mal der Kongress der Antiautoritären Internationalen in Saint-Imier (Jura). Dieser Kongress vereinigte neben dem Jurabund, auf den wir hier näher eingehen werden, die Arbeitersektionen aus Spanien, Italien, Frank reich und Amerika.

Im Schweizer Jura wurden zwischen 1865 und 1866 die ersten Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation ("Internationale") gegründet [1]: so in La Chaux-de-Fonds durch den Arzt Pierre Coullery und in Le Locle durch den nach der 1831er Revolution zum Tod verurteilten, dann aber aus dem Gefängnis geflüchteten Constant Meuron und dem damals 22jährigen James Guillaume. Diese Sektionen hatten am Anfang noch kein revolutionäres Programm. Die Losung "Arbeiter aller Länder vereinigt euch" hatte sie zusammengeführt, ihr Ziel war die Lage der Arbeiter zu verbessern und zwar innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung. Deshalb beteiligten sie sich anfänglich auch an der parlamentarischen Politik und an den Wahlen. Die Erfahrungen, welche die Arbeiter mit dem Stimm- und Wahlsystem machten, liessen sie aber bald vom Parlamentarismus abweichen: Um möglichst erfolgreich zu sein, liess sich Coullery in ein Wahlbündnis mit den Liberalen, Konservativen und Royalisten ein. Die fortschrittlicheren Mitglieder der Internationalen konnten dies natürlich nicht akzeptieren. Sie enthielten sich aber nicht der Wahlen, sondern verbündeten sich mit den Radikalen (Liberale), von denen sie schliesslich im Stich gelassen wurden.

In der welschen Schweiz gab es keine "demokratisch-antikapitalistische" Partei, mit der die Arbeiter des Jura in ein Wahlbündnis hätten treten können. In der deutschen Schweiz, wo es eine solche Partei gab, nahm die Entwicklung der Arbeiterbewegung deshalb einen andern Verlauf. Die Jurassier hatten also folgende Möglichkeiten: entweder sie schlossen sich einer der herrschenden Parteien an, was nicht in ihrem Interesse liegen konnte, oder sie zogen eine eigene Wahlpropaganda auf, was keine wesentliche soziale Umwälzungen bringen konnte, oder aber sie übten eine aktive Wahlenthaltung aus und kämpften auf ausserparlamentarischem Weg für ihre Rechte. Sie begannen zu erkennen, dass das Wahlsystem ein übles demokratisches Farcenspiel ist, welches den Menschen das Gefühl und die Illusion gibt, sie hätten auch was zu sagen im Staat, in Wirklichkeit aber nur den Herrschenden ermöglicht ihre eigene Macht zu stärken. Die schweizerische Pseudodemokratie und der Pseudoföderalismus wurden scharf kritisiert. Der Föderalismus ist die "politische" Organisation des freiheitlichen Sozialismus. Er ist nur möglich zwischen selbständigen und frei miteinander verbundenen Gemeinden und nicht bei einem gleichzeitigen Vorhandensein einer zentralen, politischen Gewalt (Staat).

Eine weitere Zielscheibe der Kritik bildete die Schweizer Armee, ein Stützpfeiler des Staates. Die Jurassier hatten oft erlebt, wie Soldaten gegen streikende Arbeiter eingesetzt wurden und so die wahre Funktion der Armee erkannt, nämlich Schutz der inneren "Ordnung", d.h. Wahrung der Interessen und der Macht der herrschenden Minderheit. Welch repressiven Charakter die Schweizer Armee hat, zeigt die Tatsache, dass sie bis heute nur gegen Streikende oder Demonstranten schoss. Deshalb propagierten die jurassischen Arbeiter schon damals, was wir heute stärker denn je unterstützen, die Desertion (Fahnenflucht) und die Dienstverweigerung.

Die Gründung der Föderation Jurassienne erfolgte auf den Zusammenschluss der Sektionen des Neuenburger Juras und des Val de Saint-Imier, nach dem Bruch mit den übrigen Schweizer Sektionen der Internationalen. Die Gründung bedeutete auch einen Akt des Protests gegen die willkürliche und bürokratische Haltung des Generalrates der Internationalen in London, in welchem Karl Marx das aktivste Element war. Nach dem Kongress von Den Haag 1872 [2], gruppierten sich um die Jurassische Föderation alle Gegner des Staatssozialismus, namentlich die italienischen, spanischen, belgischen, holländischen und französischen Sektionen. 7 Jahre lang organisierten sich die Uhrenarbeiter der jurassischen Föderation in Orts- und Berufsverbänden, sich immer auf die Grundlage anarchistischen Denkens stellend: Sie sahen (auf Grund ihrer Erfahrungen in der Praxis!), dass mit der Beseitigung des Kapitalismus allein die Bedingungen für Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht erfüllt sind. Als Anarchisten (sie nannten sich auch "revolutionäre Föderalisten oder "Antiautoritäre") bekämpften sie jede Form der Autorität: sowohl den Kapitalismus als wirtschaftliche, wie auch den Staat als politische und die Religion als moralische Form der Autorität.

Eine Kampfmethode war der wirtschaftliche Streik, mit dem die Jurassier für die Herabsetzung der Arbeitszeit und für höhere Lohne kämpften. Sie erkannten natürlich, dass die Forderungen nach schrittweiser sozialer Besserstellung ihrerselbst in einem autoritären System, welches ja auf der Ausbeutung aufbaut, ihre Grenzen hat. Deshalb propagierten sie gleichzeitig ihre "grossen Ziele": Beseitigung von Kapitalismus, Staat und Pfaffentum mittels der internationalen sozialen Revolution, Kollektivismus (wirtschaftliche Organisationsform des freiheitlichen Sozialismus), klassen- und herrschaftslose Gesel1schaft (Anarchie).

wie schon gesagt bestand der Jurabund aus Uhrenarbeitern. Von den 87.000 Einwohnern des Neuenburger Juras arbeiteten 13.000 in der Uhrenindustrie, im Berner Jura waren es 13.000. Etwa ein Viertel war in Fabriken tätig, der Rest in der Heimindustrie.In den 1850er Jahren betrug das Jahreseinkommen eines Heimarbeiters zwischen 1.300 und 1.700 Franken, dasjenige eines Fabrikarbeiters hingegen zwischen l.000 und 5.000 Franken. Diese Zahlen zeigen, dass die oft gehörte Behauptung, die jurassischen Heimarbeiter, aus denen der Jurabund hauptsächlich bestand, finanziell bessergestellt gewesen seien ("jurassische Heimarbeiter-Arbeiteraristokratie") als die Fabrikarbeiter und sich deshalb "leisten konnten" sich dem Anarchismus zuzuwenden, ein purer Unsinn ist. Die jurassische Föderation war aber auch nicht eine Bewegung verzweifelter Arbeiter, die aus blinder Wut revoltierten, sondern jede Aktion, jeder Schritt den sie machten war immer aufs Genaueste durchdacht und ihre radikale Haltung entstand aus ihren persönlichen Erfahrungen.

Untrennbar mit der Juraföderation und der Internationalen ist der Name von James Gui1laume (1844-1916). Er wurde in London als Sohn eines Neuenburger Republikaners geboren, der die englische Filiale der grossväterlichen Uhrenfabrik führte. Das Geschäft überstand aber die 1848er Krise nicht und die Familie kehrte in die Schweiz zurück. In Neuenburg war eben die Republik ausgerufen worden und Vater George Guillaume wurde Richter, später Präfekt des Val de Saint-Imier und 1853 Staatsrat. Er interessierte sich für Philosophie sowie Naturwissenschaften und sein Sohn erhielt eine freidenkerische Erziehung, was wichtig für seine spätere Entwicklung war. Nach dem Gymnasium, wo James oft mit der konservativen und religiösen Schulbehörde in Konflikt gekommen war, besuchte er von 1862 bis 1864 die Universität Zürich. Hier lernte er die hegelianische Geschichtsauffassung kennen, hatte aber noch keine näheren Beziehungen zum Sozialismus. Aus finanziellen Gründen musste Guillaume 1864 seine Studien beenden und er kehrte nach Le Locle zurück, wo er eine Lehrerstelle annahm. Die jurassische Uhrenindustrie befand sich damals in einer tiefen Krise, bedingt durch die Konkurrenz der billigeren amerikanischen Serienproduktion und der Arbeiterschaft ging es dementsprechend ziemlich schlecht. Hier kam sich nun Guillaume mit seiner klassischen Bildung recht unnütz und eitel vor. Deshalb begann er die Werke von Feuerbach, Darwin, Fourier, Louisblanc und Proudhon zu studieren und führte Lehrlingsbildungskurse durch. Die französische Genossenschaftsbewegung und die Gründung der ersten jurassischen Sektion der Internationalen in La Chaux-de-Fonds beeindruckten ihn sehr und liessen ihn erkennen, mit welchen Mitteln man das Elend der Arbeiter beseitigen konnte. Mit Constant Neuron gründete er 1866 die Sektion von Le Locle.

Anlässlich des Kongresses der Internationalen in Lausanne (1867) kam Guillaume mit Revolutionären aus ganz Europa zusammen. Hatte er anfänglich noch daran geglaubt, mit der parlamentarischen Politik die Ziele der Internationalen realisieren zu können, war dann aber durch seine praktischen Erfahrungen zur Einsicht gekommen, dass eine Arbeiterorganisation gegen das Bürgertum gerichtet sein musste, so brachte ihn der Kontakt mit diesen Revolutionären vollends zur Überzeugung von der Notwendigkeit einer sozialen Revolution zur wirtschaftlichen und politischen Emanzipation der Arbeiter und der Menschen im Allgemeinen.

I869 folgte das Zusammentreffen mit Michael Bakunin. Doch schon vor seiner Bekanntschaft mit Bakunin, war Guillaume unabhängig von diesem zu einer ähnlichen Meinung über Art und Ziel der Revolution wie der russische Anarchist gekommen. Wie Bakunin, so sah auch Guillaume, dass das Ziel der Arbeiterbewegung, der Kollektivismus, weder durch Reformen, noch durch staatliche Verordnungen erreicht werden konnte. Im Gegenteil: die Abschaffung des Staates, als politisches Instrument der herrschenden Klasse, muss die erste Bedingung auf dem Weg zur Befreiung sein. Bakunins Theorien wurden von den Jurassiern nicht einfach übernommen, sondern sie wurden wie alle sozialen Theorien kritisch diskutiert. Doch sein Standpunkt stand demjenigen der jurassischen Arbeiter, zu welchem sie aus persönlichen Erfahrungen gekommen waren, sehr nahe. Deshalb fand Bakunin hier einen solch grossen Anklang.

Guillaume verlor wegen seiner politischen Tätigkeit 1869 die Lehrerstelle. Er wandte sich nun dem Typographenberuf zu und unterhielt bis 1872 mit den beiden Flüchtlingen der Pariser Kommune, Malon und Lefrangais, eine kleine Druckerei. Dann betätigte er sich als Privatlehrer und Übersetzer. Sein Ruf als gefährlicher Revolutionär erschwerte ihm aber zusehends den Broterwerb. 1878 wanderte Guillaume deshalb nach Paris aus. Dort hielt er sich anfänglich dem politischen Leben fern, später schloss er sich der damals noch revolutionären, syndikalistischen C.G.T. an.

Die Bedeutung Guillaumes im Jurabund war nicht diejenige eines Führers. Überhaupt gab es in der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung im Jura keine Trennung zwischen Führern und Arbeitern, der Autonomiegedanke der jurassischen Arbeiter hätte dies gar nicht zugelassen. Es gab nur einige Männer die besonders aktiv waren (nebst Guillaume: Schwitzguebel, Spichiger, sowie einige Männer die nach dem Fall der Pariser Kommune von 1871 in den Jura geflohen waren).

Die nun folgende Resolution wurde am 15. September 1872 anlässlich des antiautoritären internationalen Kongress in St. Imier verfasst. Sie zeigt uns die Auffassung der vertretenen Sektionen, die, wie der Jurabund, im Gegensatz zu Marx' Vorstellung über die "Diktatur des Proletariats", sich auf die Grundlage des freiheitlichen Sozialismus stellten, über die Grundprinzipien einer Arbeiterorganisation und die Ziele der Revolution:

1. Die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Verbände und Sektionen ist die Grundvorbedingung zur Befreiung der Arbeiterschaft. Der Kongress spricht allen General- und Regionalkongressen das Recht ab, Gesetzgeber zu sein. Ihre Aufgabe ist einzig die Bestrebungen und Ideen des Proletariats verschiedener Länder zu offenbaren, damit seine innere und äussere Einigung sich leichter vollziehe. In keinem Fall kann eine Mehrheit einer Minderheit ihre Resolutionen aufdrängen. Ferner anerkennt der Kongress die Resolutionen von Den Haag nicht, ebensowenig wie den neuen Generalrat. Die auf dem gegenwärtigen Kongress in St. Imier Versammelten haben deswegen den Grund gelegt zu einem Vertrag der gegenseitigen Verteidigung ihrer Föderationen.

2. Die auf den Kongress vertretenen Föderationen und Sektionen schliessen unter sich und allen denjenigen, die ihre Zustimmung geben werden, einen Vertrag der Freundschaft, Solidarität und gegenseitigen Verteidigung. Sie werden unter sich direkte und regelmässige Beziehungen und Korrespondenzen einrichten. Zweck dieses Vertrags ist die Rettung der grossen Einheit der Internationalen, welche die Autoritäre Partei gefährdet hat.

3. Die Zerstörung der politischen Gewalt ist die erste Aufgabe des Proletariats. Jede sogenannte "Diktatur des Pro1etariats" zum Zwecke dieser Zerstörung ist ebenso gefährlich wie irgendeine andere Regierungsform. Indem es alle Kompromisse meidet, soll das Proletariat aller Länder, um zur Erfüllung der sozialen Revolution zu kommen, ausserhalb aller bürgerlichen Politik die Solidarität der revolutionären Aktion herstellen.

4. Die Freiheit und die Arbeit sind die Grundlagen der Moral, der Kraft, des Lebens und des Reichtums der Zukunft. Jede Arbeit aber, die nicht freiwillig organisiert ist, wird zur Unterdrückung. Nur der Besitz der Produktionsmittel gestattet die freie Arbeit. Die Arbeit ist nicht frei, solange sich der Arbeiter nicht von politischer und wirtschaftlicher Bevormundung befreit und sich dadurch das Recht errungen hat, seine Fähigkeiten voll und ganz zu entwickeln.

Jeder Staat, d.h, jede Regierung und Verwaltung des Volkes, von oben nach unten, gründet auf Bürokratie, Armee, Spionage, Geistlichkeit und wird immerfort ein Hindernis freier Arbeit sein. Nur durch die Bildung der freien Föderationen aller Produzentengruppen, die auf gegenseitige Hilfe und Gleichheit gründet, ist die Emanzipation der Arbeit möglich.

Es ist wichtig den Widerstand zu organisieren. Der Streik ist ein wirksames Kampfmittel, aber man soll sich keine Illusionen machen über seine wirtschaftlichen Resultate. Er entwickelt das Klassenbewusstsein, kräftigt die Arbeiterorganisation und bereitet so das Proletariat auf die soziale Revolution vor.

Die zunehmende Krise in der Uhrenindustrie, bedingt durch die stärker werdende amerikanische Konkurrenz, und das Aufkommen von Fabriken führte auch allmählich zum Zerfall des Jurabunds. Die früher mehr oder weniger selbständigen Heimarbeiter weigerten sich zuerst, Fabrikarbeiter zu werden. Doch die Unternehmer stellten dafür unqualifizierte Arbeitskräfte ein und so kam es, dass im Januar 1877 die Hälfte der jurassischen Uhrenarbeiter arbeitslos war. Die Internationale verstärkte zwar ihre Tätigkeit (unermüdliche Agitation durch Leute wie Kropotkin, Brousse, Costa), doch der zunehmende wirtschaftliche Druck liess einen grossen Teil der Arbeiter eine resignierte Haltung einnehmen. Am 25. März 1878 erschien die letzte Nummer der Zeitung des Jurabunds, das "Bulletin".

Fußnoten:
[1] "Internationale Arbeiterassoziation", 1864 in London gegründete Vereinigung verschiedener Arbeiterorganisationen. Statuten von Marx ausgearbeitet. Zerfiel 1872 infolge von Differenzen zwischen Marxisten und Anarchisten.
[2] Kongress von Den Haag 1872. Die Gegensätze zwischen autoritären und freiheitlichen Sozialisten innerhalb der Internationalen, die schon in früheren Kongressen zu Tage getreten waren, führten nun in Den Haag zum grossen Bruch. Marx hatte sich dazu gründlich vorbereitet (wie auch seine vorangegangene Verleumdungskampagne gegen die Libertären) und sich die Leute, die ihn in den Wahlen unterstützen sollten, schon vor dem Kongress gebucht. Sein Ziel war es, die ihm unwillkommenen Leute aus der Internationalen auszuschliessen, die autoritäre Macht des Generalrats zu stärken und die politische, parlamentarische Aktion für obligatorisch zu erklären. Die Zusammensetzung des Kongresses war günstig für Marx (die italienische Delegation war gar nicht mehr am Kongress erschienen). In der Abstimmung bejahte die Mehrheit den Ausschluss von Bakunin und Guillaume aus der Internationalen, mit ihnen alle Arbeitersektionen, die den Autonomiegedanken vertraten.

Originaltext: Gruppe James-Guillaume, Zürich – Anarchistische Blätter Nr. 6. Digitalisiert von www.anarchismus.at


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