Josef Peukert - Gerechtigkeit in der Anarchie

I.

Obwohl das Wort „Anarchie“ in seiner etymologischen Bedeutung nichts anderes meint, als herrschaftslosen Zustand, sucht man die denkbar grösste Unordnung damit auszudrücken. Alles, was die Phantasie der Ignoranz, des Vorurteils, der Niedertracht und des bösen Willens Schlechtes, Entsetzliches, Verwerfliches und Böses zu erdenken vermag, sucht sie in diesem einen Worte „Anarchie“ zu formulieren. Es ist in dem Munde aller herrschenden Klassen und deren getreuen Knechten der Ultra-Superlativ von Unordnung geworden.

Unter solchen Umständen darf es Niemand Wunder nehmen, dass die meisten Menschen vor dem blossen Worte erschrecken und es als eine Verwogenheit betrachten, wenn eine revolutionäre Partei den Anarchismus als ihren Titel und die Anarchie als ihr Ideal der zukünftigen Gesellschaftsform erklärt. So kommt es auch, dass gar viele aufrichtige Revolutionäre, welche im Grunde dem gleichen Ziele zustreben wie wir, in zaghafter Scheu vor dem Worte „Anarchie“ zurückbeben, in der Meinung, ihre Ideen und Bestrebungen durch eine solche Bezeichnung bei den Massen im Vorhinein zu kompromittieren.

Wahre Revolutionäre dürfen sich jedoch vor Worten nicht fürchten; übrigens nützt auch alles Verwahren ihrerseits gegen die Anarchie nichts, ihre Lehren werden als Anarchismus und sie selbst als Anarchisten von den herrschenden Klassen bezeichnet und schliesslich ist man wohl oder übel genötigt, diese Bezeichnung zu akzeptieren. Das alles erklärt jedoch nicht die Ursache, warum die herrschende Klasse die Anarchie zu einer solch abschreckenden Vogelscheuche gemacht hat und ich bin daher genötigt, vor allen Dingen diese Ursache zu erklären.

Seitdem sich die menschliche Gesellschaft in zwei feindliche Klassen - Herrscher und Beherrschte - gespalten, war die Erstere vor allen Dingen bemüht, ihre Herrschaft nicht nur durch die brutale Gewalt zu schützen, sondern besonders das Prinzip der Herrschaft moralisch als nützlich und notwendig für das Wohl und Glück der Beherrschten zu beweisen und zu begründen.

Denn die brutale Gewalt allein genügt für die Dauer als Stütze nicht. Dieselbe dient nur dazu, einem gewissen Teile des Volkes die Herrschaft zu erhalten, nachdem die Gesellschaft die Herrschaft als solche im Prinzip angenommen. Um nun diese Notwendigkeit der Herrschaft zu beweisen, bemäch tigten sich die herrschenden Klassen der sozialen Beziehungen und Verbindungen der Menschen untereinander, reglementierten, kontrollierten und bestimmten dieselben, oder formulierten bestehende, gegenseitig angenommene Regeln, Sitten und Gebräuche zu obrigkeitlichen „Geboten“ und „Gesetzen“. Besonders galt es, die materiellen Differenzen zu ihren Gunsten zu entscheiden, zu welchem Zwecke eine immer grössere Machtentfaltung nötig wurde, im Verhältnis, als die herrschende Klasse das Institut des Privateigentums erweiterte und dadurch sich die materiellen Differenzen erweitern und komplizierter wurden, so dass heute das Herrschaftssystem bis in die innersten intimsten Angelegenheiten des Individuums gedrungen, kein Mensch mehr eine Bewegung machen, keinen Schritt tun, ja selbst nicht seine natürlichste Notdurft verrichten kann, ohne von der hohen „Obrigkeit“ reglementiert, geschuhriegelt und eventuell bestraft zu werden.

Alle Kasten der herrschenden Klassen waren zu allen Zeiten auf das eifrigste bemüht, den Menschen glauben zu machen, dass die Herrschaft zum Gedeihen und Wohle der Gesellschaft absolut notwendig, sie die Quelle und Hüterin aller „Ordnung“ sei. Sie war von Gott eingesetzt: es war Gebot Gottes, sich der Obrigkeit zu fügen, ihr zu gehorchen, oder, wie in neuerer Zeit, ein zwischen Volk und Staat geschlossener Vertrag, dem man sich ohne Widerrede zu unterwerfen habe.

Was wundert da, wenn die ganze herrschende Klasse, alle Jene, welche die Vorteile der Herrschaft geniessen, und alle Jene, welche bestrebt sind, deren Plätze einzunehmen, was wundert sage ich, wenn diese ganze Herrschaftsbande bei dem Worte „Anarchie“ in einen gewissen Zustand der Tobsucht verfällt, da dieses Wort, wie bereits erwähnt, einen gesellschaftlichen Zustand ohne alle Herrschaft, d.h. vollster sozialer Freiheit und Gleichheit bedeutet. Es handelt sich also weniger darum, ob das Wort „Anarchie“ etwas Gutes oder Schlechtes ausdrückt, sondern vielmehr darum, zu untersuchen, ob das Prinzip der Herrschaft für das Wohl und Gedeihen der menschlichen Gesellschaft nützlich und notwendig sei, oder ob die Menschheit ohne alle und jede Herrschaft besser und glücklicher gedeihen könne.

Wer die Menschheit unter den bestehenden Verhältnissen in ihrem Tun und Treiben beobachtet, muss allerdings zu der scheinbar berechtigten Schlussfolgerung gelangen, die Menschen seien nur von bösen Neigungen, wie Habsucht, Herrschsucht, Neid und Selbstsucht geleitet. Allein bei näherer Betrachtung zeigt sich, dast diese Eigenschaften zunächst und hauptsächlich der bestehehenden sozialen Ordnung der Dinge entspringen.

Der unbarmherzige, rücksichtslose Vernichtungskampf der Menschen untereinander hat seine Ursache hauptsächlich darin, dass nach den bestehenden sozialen Einrichtungen und den daraus entsprungenen Sitten, die Sieges- und Ehrenpalme nur demjenigen zu Teil wird, dem es gelungen, sich einen weitaus grösseren Teil materieller, sozialer Schätze anzueignen, als er zur Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse bedarf; oder der es verstanden, eine entsprechende Anzahl seiner Mitmenschen unter seinen Willen zu beugen, von seinem Willen, seiner Laune abhängig zu machen. Dieser gegenseitige Bruderkrieg hängt jedoch nicht von dem persönlichen Willen, der freien Selbstbestimmung - Ausbeuter oder Ausgebeuteter, Unterdrücker oder Unterdrückter - zu sein, ab, sondern es ist die fatale, unvermeidliche Wirkung eines Gesellschaftssystemes, welches jedes einzelne Individuum mit unwiderstehlicher Gewalt zwingt Ausbeuter oder Ausgebeuteter, Unterdrücker oder Unterdrückter zu sein. Dasselbe lässt dem Individuum einzig und allein die Alternative Seinesgleichen aufzufressen, oder von Seinesgleichen aufgefressen zu werden!

In einer Gesellschaft, welche Autorität und Privateigentum zur Basis hat, gibt es keinen Mittelweg. Die Existenz dieser beiden Grundsätze in einer Gesellschaftsform bedingt eine Trennung der Gesellschaft mit diametral gegenüberstehenden Interessen, also in sich feindliche Klassen. Je höher diese beiden Grundsätze entwickelt sind, desto höher, grösser wird der Gegensatz der Klassen resp. werden deren Interessen sein. Jeder Fortschritt auf dem Gebiete der technischen Wissenschaften, jede Entdeckung physikalischer Naturkräfte oder der, der menschlichen Existenz nützlichen Eigenschaften der Naturprodukte und Elemente, gründet und treibt zur Konzentration der gesellschaftlichen Reichtümer in immer weniger Hände, ohne dass alle politischen Machtfaktoren der Welt diesen Konzentrationsprozess aufzuhalten vermöchten, solange das Privateigentum der Gesellschaft als ökonomische Basis dient. Es ist nun klar, dass ein solches System mit seiner ungeheuerlichen Wirkung — der Massenverarmung bei fortwährend steigenden sozialen Reichtümern einerseits und Aneignung dieser Reichtümer durch eine verhältnismässig verschwindend kleine Anzahl Personen anderseits — keine 24 Stunden bestehen könnte, wenn dasselbe nicht einen mächtigen, an Macht und Kraft mit seiner eigenen Entwicklung parallel wachsenden Auxiliär (Helfer) in der gesellschaftlichen Oganisation hätte; und dieser Auxiliär ist die Autorität. Welche Form dieselbe auch annimmt, sie dient einzig und allein zum Schutze sozialer Ungerechtigkeiten. Und welche Form dieselbe auch bis zum heutigen Tage annahm, sie verrät unter allen Formen die unverkennbare Tendenz, ihre Macht im Interesse der besitzenden und bevorrechteten Klasse zu erweitern. Privateigentum und Autorität sind also auf das Engste mit einander verwachsen, unzertrennlich! Das Privateigentum als solches würde ohne Autorität dem Menschen keinen Reiz bieten.

Ein Mensch z.B., welcher sich als Eigentümer eines Flecken Erde, gross wie ganz Europa, deklarieren möchte, würde bald und gern auf diesen Eigentumstitel verzichten, wenn er nur die Frucht seiner Arbeit geniessen könnte. Jedoch in dem Augenblicke, wo er sich, Kraft seiner Autorität, als Eigentümer einen Teil der Arbeitsfrucht seiner Mitmenschen anzueignen vermag, ist sein Interesse an den Besitz dieses Eigentumstitels gefesselt und er wird vor allen Dingen darauf bedacht sein, seine Autorität zu erweitern und zu befestigen, um seinen Anteil an dem Arbeitsertrage Anderer zu vergrössern. Die Autorität ist somit die Vorbedingung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Das Privateigentum an sozialen Gütern — soweit dieselben nicht zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse notwendig sind — setzt die Autorität voraus. Die Autorität bietet dem Einzelnen die moralischen und physischen Machtmittel, sich auf Kosten seiner Mitmenschen materielle Vorteile und Vorrechte anzueignen. Die materiellen Vorrechte und Vorteile werden im gleichen Verhältnisse grösser sein, je grösser sich die Macht der Autorität über seine Mitmenschen erstreckt.  Ihren Kulminationspunkt (Höhepunkt) hat dieselbe in der bestehenden Staatsform erreicht, und die Autorität des Staates hat sich genau im gleichen Verhältnis mit der Konzentration der sozialen Reichtümer in immer weniger Hände entwickelt.

So übte z.B. der Staat bis zu Ende des XVIII. und  selbst noch zu Anfang des XIX. Jahrhunderts — das ist bis zur Entwicklung des Grosskapitalismus — auf die inneren Gemeindeangelegenheiten fast keinen oder doch nur sehr geringen Einfluss aus. Dieselben wurden von den Gemeinden selbst geregelt, ohne dass der Staat etwas darein zu reden hatte. War die Gemeindeverwaltung allmählich mit der Erweiterung der Klassendifferenzen immer patrizistischer geworden, so erstreckte sich ihre Autorität doch nicht bis in die intimsten, persönlichen und privaten Angelegenheiten. Allein seit der Entwicklung des Grosskapitalismus, seit der Konzentration der sozialen Reichtümer, hat sich auch die Autorität im Staat konzentriert. Die Autonomie der Gemeinden ist verschwunden, ebenso die letzten Reste der Autonomie des Individuums. Die Gemeindeverwaltung ist zu einer staatlichen Exekutivbehörde gesunken, oder ist auf dem besten Wege, von der Staatsautorität aufgesogen zu werden. Zu Anfange dieses Zentralisations-Prozesses der autoritären Macht sträubte sich der grösste Teil der Bourgeoisie (besonders der demokratisch gesinnte) mit Händen und Füssen dagegen. Man protestierte gegen eine solche unberechtigte Einmischung des Staates, klagte über „Willkür“ und „Tyrannei“, „Vergewaltigung“! Denn diese Ausdehnung der staatlichen Macht stand im schreienden Widerspruche mit den Grundlehren der Demokratie. Doch alle Klagen und Proteste vermochten diesen Zentralisationsprozess nicht aufzuhalten.

Derselbe ist die natürliche Folge des gesellschaftlichen Organisationssystems auf der Basis des Privateigentums und der Autorität. Im Widerspruche mit demselben befand sich nur die demokratisieren wollende Bourgeoisie, die demokratischen Grundsätze selbst, weil die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit mit den Grundsätzen des Privateigentums und der Autorität unvereinbar sind. Die demokratisierende Bourgeoisie sah dies auch sehr bald ein und bekehrte sich rasch zu den neuen Ideen der sozialen „Ordnung“. Um jedoch wenigstens den Schein von Demokratie bei den Volksmassen zu retten, bedurfte sie für ihre Heuchelei einer Maske, eines Deckmantels; und dieser Deckmantel ward in dem allgemeinen Stimm- und Wahlrecht gefunden. Damit traf sie, wie man zu sagen pflegt, zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits wurde damit die Masse des Volkes für die Autorität des Staates interessiert; der Respekt vor dieser Macht wurde zu einem Kultus erhoben, und anderseits wurde die Masse des Volkes glauben gemacht, sie sei „souverän“, wodurch jede Schmach und Niedertracht der herrschenden Klassen dem Volke selbst zur Last gelegt werden kann. „Volk, du bist „souverän“, du hast deine Geschicke in eigener Hand! — Bist du nicht zufrieden, so ist es deine eigene Schuld; warum hast du nicht besser gewählt? Willst du diese oder jene Verbesserung? Wähle Diesen oder Jenen!“

Es ist hier nicht der Platz, das „allgemeine Wahlrecht“  in seinem Wesen und seinen Wirkungen zu untersuchen, ich werde später ausführlicher darauf zurückkommen, vorläufig genügt es zu konstatieren, dass die Konzentration der Autorität im Staate, dass die ganze monströse Staatsgewalt durch das allgemeine Wahlrecht eine gewisse Sanktion des Volkes erhält. Ist die Konzentration der sozialen Reichtümer in wenigen Händen an und für sich verderblich für die Gesellschaft, weil die damit notwendig verbundene Massenverarmung physische und geistige Verkrüppelung erzeugt, so ist die Konzentration der autoritären Macht moralisch noch weit verderblicher, weil dieselbe die Volksmassen immer tiefer degradiert, deren individuelle Initiative erstickt und sie zu einer Masse willenloser Marionetten erniedrigt. Die Menschen hören auf, Menschen zu sein! — Die staatliche Autorität umfasst das gesamte geistige und moralische Leben.

Das Individuum hört auf, ein eigenes selbständiges Wesen zu sein; es hat keine Möglichkeit mehr, eine eigene Idee, eine eigene Anschauungs- und Betrachtungsweise der es umgebenden Dinge und Erscheinungen zu haben. Sein Denkvermögen wird von seiner frühesten Kindheit an nach einer vom Staate bestimmten Schablone geformt. Wo findet man heute mehr einen Lehrer oder Professor, der seinen Schulern andere, als die vom Staate vorgeschriebenen Grundsätze und Dinge lehrte? Die geringste Abweichung kann seine Entlassung zur Folge haben und einmal entlassen, ist bei dem staatlichen Monopol des Unterrichts alle Hoffnung auf einen anderen Lehrstuhl verloren. Aus dem Unterricht ist eine Abrichtung geworden, welche das selbständige Beurteilen und damit selbständiges Wollen und Handeln im Vorhinein unmöglich macht. Dem Menschen ist somit jeder Spielraum entzogen, besondere Talente und Anlagen zu entwickeln. Kurz, die Individualität verschwindet in dem allgemeinen Staatsbrei!

Man bedarf wahrlich keiner besonderen Beobachtungsgabe, um bereits heute schon die Folgen dieses von der staatlichen Autorität systematisch gepflegten Kretinismus (Blödsinn, Schwachsinnigkeit) wahrzunehmen. Der mit besonderer Energie gepaarten Individualität ist nur eine Bahn geblieben: Die Bahn des Verbrechens! Sie kann die Leiter der staatlichen Autorität erklimmen, um an der Vergewaltigung der Völker in ihren ewigen Menschenrechten teilzunehmen und so zum lorbeergekrönten legalen Verbrechen werden, oder im Kampfe gegen diese Gesellschaft von den eisernen Klauen des Staates zermalmt werden. Täglich, stündlich tritt diese Tendenz der sozialen Zentralisation in der modernen Gesellschaft schärfer und deutlicher zu Tage. Ist die grosse Masse des Volkes durch die bestehenden Klassenprivilegien schon von einer höheren geistigen Ausbildung ausgeschlossen und so zu einem ewig sich von Generation zu Generation fortpflanzenden untergeordneten Lasttiere verdammt, so wird durch die sich entwickelnde Vereinfachung der Funktionen der Einzelnen zu einem Zahn eines Rädchens der ungeheuren Maschine gemacht, worin jede Individualität erstickt.

Und da klagt man über die Alles charakterisierende  Mittelmässigkeit unserer Zeit? Man jammert über den Alles zernagenden Ehrgeiz, über das Streben jedes Einzelnen, seine Nebenmenschen zu beherrschen, wo doch nur eine Möglichkeit bleibt, um einen Rest der menschlichen Individualität zu retten: an der Beherrschung seiner Nebenmenschen teilzunehmen! Die Konzentration und Zentralisation der sozialen Machtmittel hat somit die unvermeidliche, fatale Wirkung, einerseits eine immer grössere Masse willenloser Marionetten, ohne Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zn machen, wo alle deren Bewegungen mechanisch in dem grossen Staatsapparate geregelt und geleitet werden, und anderseits eine Handvoll frecher, gewissenloser Verbrecher, welche diesen Apparat regeln und leiten, und die Menschheit in dieser Degradation zu erhalten suchen.

Glücklicherweise beweist der sich mehr und mehr regende  Rebellengeist, dass das individuelle Selbstbewusstsein in den Völkermassen noch nicht ganz erstickt ist. Ueberall, wohin sich unser Blick in den sogenannten „Kulturstaaten“ wenden mag, züngelt die Flamme der Empörung empor, um in baldiger Zeit zu einem einzigen grossen Brande zu entflammen, welcher die alte riesige Burg der Autorität und des Privateigentums in Staub und Asche verwandeln wird. Und wer noch einen Funken von Selbstbewusstsein und Menschenwürde in seiner Brust trägt, der helfe das glimmende Feuer zum hellen Brande entfachen!

***

Privateigentum und Autorität sind also, als Basis sozialer Organisation, der Menschheit und deren kulturellen Entwicklung verderblich. Man lasse sich ja nicht durch die Hinweise auf die verschiedenen Fortschritte, welche die Menschheit unter diesem Gesellschaftssystem gemacht hat, irre leiten, als seien diese Fortschritte vermittelst oder dank dieses Systems gemacht worden, wie die herrschenden Klassen und deren Speichellecker so gern das Volk glauben machen wollen. Die Fortschritte, welche die Menschheit bis heute gemacht hat, sind unabhängig von dem herrschenden Systeme, vielmehr trotz desselben gemacht worden; denn der Schaden, den das Privateigentum und die Autorität der menschlichen Kulturentwicklung nur in den letzten zwei Jahrtausenden verursacht hat, ist geradezu unberechenbar und es ist sicher nicht zu viel behauptet, wenn ich sage: dieselbe könnte ohne diese beiden Prinzipien tausendmal höher stehen. Stets und überall war das Eigentum und die Autorität ein Hindernis jeden Fortschrittes.

Die Menschheit vermochte keinen Schritt nach  Vorwärts zu tun, ohne vorher einen, oft Jahrhunderte dauernden furchtbaren Kampf mit diesem doppelköpfigen Ungeheuer bestehen zu müssen. Die Kulturgeschichte der Menschheit, seit dem Bestehen dieses Ungeheuers bildet nichts, als eine einzige Kette dieser Kämpfe. Wie oft glaubten Völker, demselben die Klauen abgeschlagen und so es unschädlich gemacht zu haben, aber nach kurzer Zeit mussten sie immer wieder mit Schrecken wahrnehmen, dass an Stelle einer abgeschlagenen Klaue hundert andere gewachsen waren, die sich in ihre Eingeweide eingruben. Das beweist, dass dieses Ungeheuer nicht nur verwundet oder verstümmelt, sondern vernichtet werden muss. Es genügt nicht, ihm den einen Kopf (das Privateigentum) abzuschlagen und den anderen (die Autorität) zu lassen, wie es die Sozialisten autoritärer Richtung (Sozialdemokraten, Kollektivisten und Kommunisten) erstreben (denn es würde ihm gewiss ein neuer, nach Form veränderter, an Stelle des abgeschlagenen wachsen), sondern beide Köpfe müssen abgeschlagen und mit dem Rumpf in den Abgrund der Vergessenheit versenkt werden.

II.

Wer sich einmal daran gewöhnt, die Entwicklung der  Menschheit und ihrer sozialen Gestaltung mit eigenen Augen, und nicht durch die eigens präparierte Brille der offiziellen Geschichtsmacher zu betrachten, der wird mit uns (Anarchisten) finden, dass sich alle wirklichen Kulturfortschritte, unabhängig von allen sogenannten „guten“ Herrschern, unabhängig von allen sogenannten „freien“ Regierungsformen vollzogen haben. Alle diese waren im höheren oder minderen Grade ein Hindernis jener ungeheuren intellekteilen Tätigkeit der grossen Volksmassen, welche die Mutter allen kulturellen Fortschrittes ist. Durch was haben sich denn überhaupt, vom kulturgeschichtlichen Standpunkte aus beurteilt, jene Herrscher und Regierungsformen so besonders ausgezeichnet, welche als „gute“ bezeichnet werden und welche oberflächliche Menschen als die „Ursache“ gewisser Fortschritte ihrer Zeit belobhudeln? Alles, aber auch absolut alles, was dieselben getan, besteht darin: der stets vorwärtsschreitenden Entwicklung der respektiven Völker in gewissen speziellen Dingen wenige oder keine Hindernisse entgegengestellt zu haben. Und darum so viel Geschrei über „Verdienste“! Dieselben Leute, welche vor solcher Toleranz in Lobeswut ersterben, hüten sich jedoch wohl, all die denkbar grössten Hindernisse anzuführen, welche dieselben Herrscher oder Regierungen auf anderen Gebieten dem Fortschritte entgegenstellten, sobald die betreffenden Herrscher oder herrschenden Klassen bemerkten, dass derselbe ihre Privilegien und Vorrechte gefährdete. Wie oft war aber auch eine solche Toleranz nur eine Folge der Notwendigkeit gegebener Bedingungen oder die Folge von Kurzsichtigkeit der „Herscher“, welche die Tragweite einer Neuerung, eines Fortschrittes nicht zu ermessen vermochten.

Die katholische Kirche hat sich z.B. einer solchen Kurzsichtigkeit niemals schuldig gemacht. Sie bekämpfte und bekämpft heute noch jede, selbst die mindeste Neuerung oder Veränderung bestehender Grundsätze und Einrichtungen aus Prinzip. Jede Neuerung musste sich trotz und gegen die katholische Kirche Bahn brechen. Erst nach vollzogener Tatsache unterwirft sie sich der unwiderstehlichen Gewalt der Notwendigkeit und sucht sich der Neuerung anzupassen, um dieselbe gleichzeitig für ihre Interessen auszubeuten. Kurz, die Autorität in jeder Form war zu allen Zeiten ein Hemmschuh für den kulturellen Fortschritt der Menschheit. Gut oder schlecht ist sie es mehr oder weniger, immer aber Hemmschuh! Daraus allein ergibt sich mit logischer Notwendigkeit, dass die Menschheit das Prinzip der Autorität nicht allein ohne Schaden entbehren, sondern dass sie ohne Autorität weit besser bestehen kann, weil sie nur ohne Autorität, das heisst, ohne jede Herrschaft in ihrer kulturellen Entwicklung ungehindert vorwärts zu schreiten vermag. Wer sich all diese unbestreitbaren Tatsachen der Vergangenheit und Gegenwart vor Augen hält, wird und muss mit uns erkennen, dass der Glaube an die Notwendigkeit einer autoritären Einrichtung in der Gesellschaft nichts Anderes, als ein alter künstlich erzeugter und systematisch im Volke gepflegter Aberglaube ist.

Das kulturelle Vorwärtsschreiten der Menschheit, trotz  und entgegen aller autoritären Macht beweist, dass die Menschheit in ihrem sozialen Tun und Treiben von höheren Einflüssen geleitet wird, als die weiseste und mächtigste Regierung durch ihre Gesetzesfabrik sie auszuüben vermag und zwar von den, dem Menschen inherenten (eigen, innewohnend) Gesetzen der Natur. Eines der wichtigsten dieser Gesetze, dem die Menschheit ihre ganzen kulturellen Fortschritte zu verdanken hat, ist die Soziabilität oder das Gesetz der gesellschaftlichen Anpassung. Dank der Soziabilität sucht der Mensch in Gesellschaft zu leben; seine Interessen mit den Interessen seiner Nebenmenschen zu verschmelzen; sein Fühlen und Denken mit denen seiner Nebenmenschen zu harmonisieren, sich den Bedürfnissen anderer anzupassen, sich anderen nützlich zu machen und sich mit anderen zu einem bestimmten Zwecke zu vereinigen, wo die eigene Kraft nicht hinreichend ist. Und diesen Eigenschaften, die sich gegenseitig betätigen, entspringen die Gefühle der Zusammengehörigkeit.

Die Vorteile für jeden Einzelnen, welche aus dieser gesellschaftlichen Betätigung entspringen, erwecken das Bedürfnis, den Wirkungskreis zu erweitern und damit vervielfältigen sich die Bedürfnisse, die Verschiedenheit der Betätigung, dieselben zu befriedigen und knüpft sich das Band der gegenseitigen Interessensolidarität immer fester und enger, es stärken und heben sich die Gefühle der Achtung und Liebe der Menschen unter einander und entwickelt sich so das Bewusstsein der individuellen Gleichberechtigung aller. Soll sich jedoch dieses Bewusstsein in dem Individuum entwickeln können, so muss dasselbe frei, das heisst von allem äusseren autoritären Einflusse absolut frei sein. Das Individuum muss aus der Interessengemeinschaft, den sozialen Banden, welche sein ganzes Leben täglich, stündlich mit seinen Nebenmenschen verknüpfen, das Bewusstsein von Recht und Unrecht schöpfen, über welche sein Gewissen alleiniger souveräner Richter ist. Sobald die autoritären Einflüsse verschwunden sind, welche dem Menschen vorschreiben, was er bei zeitlicher oder ewiger Belohnung zu tun habe, sobald er sein eigener Richter darüber ist, was gut oder schlecht, recht oder unrecht ist, wird er sich seiner Verantwortlichkeit bewusst und mit dieser erhebt und stärkt sich sein Gewissen. Alle geschriebenen Gesetze und Dekrete über das, was Recht oder Unrecht sei, haben eine gegenteilige Wirkung auf die Menschen. Selbst das beste Gesetz (damit meine ich ein Gesetz, welches allgemein als „recht“ oder „unrecht“ anerkannte Dinge gebietet oder verbietet) wird von den Menschen nicht um des Guten oder Schlechten willen befolgt; die Menschen suchen nicht Recht zu tun, weil es recht, vermeiden nicht Unrecht zu tun, weil es unrecht ist, sondern weil es geboten oder verboten ist. Dabei suchen sie nur genau so viel zu tun oder zu unterlassen, als das Gesetz wörtlich bestimmt. Das Gesetz benimmt dem Menschen jeden Drang, selbst zu fühlen und zu empfinden was Recht oder Unrecht sei; es benimmt ihm jede Verantwortlichkeit über sein Tun und Lassen, Recht oder Unrecht; es erstickt sein Gewissen, er hat nur zu gehorchen. Daraus entsprang einerseits der heute allgemein geübte Grundsatz: dass alles getan werden dürfe, was nicht ausdrücklich verboten sei; anderseits das allgemeine Bestreben der Autorität, jeden Tritt und Schritt, jede - selbst die unbedeutendste Angelegenheit - durch Gesetze zu reglementieren. Dadurch ist aber auch in den Massen der modernen Völker das Bewusstsein ihrer Menschenwürde so tief gesunken, dass sie sich gar nicht mehr getrauen, auf diese Würde Anspruch zu machen, wenn es nicht in irgend einem Gesetz geschrieben steht. Gibt es eine schmachvollere Selbstentwürdigung?

Die antiken Sklaven ertrugen ihr Joch nur mit allem  Aufgebot von Selbstüberwindung. Die Schmach, anderen zu dienen, erfüllte ihr Gemüt mit solchem Abscheu, dass sie zum grossen Teil Marter und Tod vorzogen. Einen anderen grossen Teil brachte Gram und Schmerz über den Verlust ihrer Menschenwürde ins frühe Grab. Immer aber blieb ihnen das Herz mit Hass und Rache bis in die entferntesten Generationen gegen die Unterdrücker erfüllt. Heute ist der Knechtssinn zu einer Tugend geworden, das Bewusstsein seiner Menschenwürde ein Verbrechen. Man glaubt, es wäre das Ende der Welt, der Menschheit nahe, gäbe es keine Autorität mehr, der der Mensch zu gehorchen hätte. Das Bewustsein über Recht oder Unrecht im Menschen ist die einzige, tatsächliche Basis aller wahren Gerechtigkeit. Es ist nicht allein die Basis, die Gerechtigkeit ist die ewig keimende, ewig zeugende und treibende Frucht dieses Bewusstseins. Wie kommt es nun, dass die Menschen die Gerechtigkeit, anstatt in sich oder bei sich selbst, ausserhalb, über sich suchen? Die Beantwortung dieser Frage gibt uns gewissermassen den Schlüssel zu einer anderen Frage: wie es kommt, dass sich die Autorität, trotz all ihrer so offenbaren Verderblichkeit solange in der menschlichen Gesellschaft erhalten und sich bis in unsere Zeit, dem sogenannten Zeitalter der Aufklärung und des Wissens, zu solch' riesiger Macht zu entwickeln vermochte, dass selbst die vorgeschrittensten Menschen dieselbe als eine Notwendigkeit in der Gesellschaft betrachten?

Die Antwort ist bereits gegeben: weil diese Menschen noch von Aberglauben befangen sind. Trotz der scheinbaren Aufklärung, trotz der scheinbaren wissenschaftlichen Fortschritte, stehen sie in dieser Beziehung noch auf demselben Standpunkte, wie die Menschen vor Jahrtausenden: sie glauben, das „Gute“ und „Böse“ entspringe übermenschlichen Einflüssen. Wie die Menschen vor tausenden Jahren das Gute guten Göttern zuschrieben, das Böse bösen Göttern, so drehen sich die meisten Menschen heute noch in demselben Kreise. Die Götter sind gewechselt worden. Aus den Vielgöttern wurde ein Gott gemacht, der Alles spendete. Als dieser unsichtbare, unbegreifliche Gott zu alt und siech wurde, gab man ihm Stellvertreter in menschlicher, sichtbarer, greifbarer Form, um diese, wie es heute geschieht, in Deputierte, Auserwählte, oder in souveräne Volksmajoritäten zu verwandeln. Wie gesagt, die Form hat sich verändert, das Wesen ist dasselbe geblieben. Das Gute wird nicht in dem Menschen, sondern ausserhalb desselben, über demselben gesucht. Die Gerechtigkeit war ein Attribut der Götter. Nachdem dieselbe in einen einzigen Gott verwandelt worden, ward dieser Gott die alleinige Quelle aller Gerechtigkeit. Alles, was die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Verkehr unter einander als gut und recht erkannt hatten, ward Gebot Gottes; seine Diener, die allein berechtigten Dolmetscher dieser Gebote. Die Geschichte lehrt uns, bis zu welchem Umfange dieses Prinzip ausgedehnt wurde. Nach der christlichen Mythe war die Menschheit nach dem Sündenfalle Adams schlecht und lasterhaft, unfähig in sich selbst Gerechtigkeit zu finden.

Fast alle Religionsmythen lehren das gleiche Prinzip von dem Falle und der Lasterhaftigkeit der Menschen, um die Menschen in ihrer Würde zu erniedrigen und die Gerechtigkeit in die Machtfunktion der Gottheit zu legen. Dieses Prinzip ist bis in unsere Tage festgehalten worden.

Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts stammten alle Gesetze und Gebote mittelbar oder unmittelbar von Gott. Pfaffen und von Gottesgnaden Fürsten waren die Vermittler der göttlichen Gerechtigkeit. China hat z.B. heute noch keine profanen (weltlichen) Gesetze, sondern göttliche Gebote, und das Christentum lehrt und erklärt heute noch alle Prinzipien der Gerechtigkeit als göttliche Offenbarungen. Und ist etwa die Entscheidung der Volksmajorität, an die man appelliert, keine göttliche Offenbarung? Wird der Majoritätsbeschluss nicht als eine über dem Menschen stehende Offenbarung dessen betrachtet, was Recht oder Unrecht sei? Mit welchem Recht wäre sonst z.B. die tausendneunte Stimme mehr wert, als die tausendachte Stimmen der Minorität, wenn sie nicht göttlich wäre? Denn wer kann sagen, durch welche Ursachen oder Gründe diese eine Stimme „für“ anstatt „gegen“ stimmte, ganz abgesehen, dass vielleicht acht- oder neunhundert Stimmen gar nicht gestimmt haben! Das alles beweist, dass man trotz allem angeblichen Atheismus mit abergläubiger Frömmigkeit der Gottheit Opfer bringt. Und um darin konsequent zu bleiben, bezeichnet man so „Volksstimme als Gottesstimme!“ In der Tat, wer die Gerechtigkeit dem zufälligen Spiele einiger Stimmen preisgibt, setzt eine göttliche Vorsehung voraus und verneint die menschliche Gerechtigkeit. So sind die Gerechtigkeitsgebote der Kirche, des Fürsten von Gottesgnaden, der Parlamente, oder der Majorität eines Volkes wohl in der Form verschieden, jedoch im Wesen gleich.

Sie sind göttliche Offenbarungen, anstatt der Ausdruck des menschlichen Rechtsbewusstseins zu sein. Noch mehr, das menschliche Rechtsbewusstsein wird dadurch gefälscht, wird an sich selbst irre und verkümmert, anstatt zu gedeihen und zu erstarken; die Gerechtigkeit göttlichen Ursprunges — selbst blind — verlangt von dem Menschen blinde Unterwerfung unter ihre Gebote. Mögen sich die persönlichen, aus dem praktischen Leben entwickelten Rechtsgefühle noch so viel dagegen empören, sie gestattet keinen Widerspruch, keine Abweichung — sie ist imperativ, sie ist absolut. Wie die Gottheit selbst keine Untersuchung ihres Ursprunges erlaubt, und einfach geglaubt und anerkannt werden muss, wie dieselbe die aushilfliche Erklärung alles dessen ist, was sich der Mensch nicht anders zu erklären vermag: so die göttliche Gerechtigkeit. In der modernen Gesellschaft ist die Gerechtigkeit nicht nur ein göttliches Attribut, sie ist Gottheit selbst. Wie die religiöse, hat sie ihre Priester und Hohenpriester, ihren Kultus und Ritus; diese wie jene macht den Anspruch auf Unfehlbarkeit. Wehe Jedem, der sich erlaubt, an dieser Unfehlbarkeit zu zweifeln, an ihren Dogmen zu rütteln! Alle Donner und Blitze des göttlichen Zornes fallen auf sein Haupt! — O, diese aufgeklärten Menschen! Mit verächtlichem Achselzucken spotten sie über die Unfehlbarkeit des Papstes und beugen demutsvoll ihren Nacken vor der Unfehlbarkeit gesetzlicher Gerechtigkeit! Man betrachte sich nur einmal so einen Priester der Gerechtigkeit in Funktion, sein Gesicht einer Mumie gleich, oder von Leidenschaft verzehrt, bläht und bläut er sich auf seinem Richterstuhl; jede menschliche Gefühlsregung ist in ihm erstickt, er kann die menschliche Würde des zu Richtenden ungestraft mit Füssen treten; er fühlt sich und ist ein Stück Unfehlbarkeit! Selbst der letzte Büttel fühlt sich ein Stück davon. Als Mensch mag er der infamste, erbärmlichste Wicht oder Tropf sein; als Priester der Gerechtigkeit steht er — gleich dem Religionspriester — über den Menschen, heilig, unantastbar!

Dieser wie Jener steht in direkter Verbindung mit der Gottheit, seine Entscheidung ist von Gott inspiriert! Welch schändliche, jämmerliche Komödie wird so mit den ehrbarsten Gefühlen der Menschen getrieben! Fast jeder Mensch fühlt dies und die Reformbolde suchen die Ursache in der Form, in der Bureaukratie. Die Ursache liegt jedoch tiefer, sie liegt im Prinzip, die Gerechtigkeit in einer ausser und über dem Menschen stehenden Autorität zu suchen. Die Folge dieser über dem Menschen stehenden transzedentalen (übersinnlichen) Gerechtigkeit ist eine ununterbrochene Verletzung und Bekriegung des individuellen menschlichen Rechtsbewusstseins. Denn die tausendfältige Verbindung, welche die Menschen im praktischen Leben, in ihrem Tun und Treiben gegenseitig in Reibung erhält, erzeugt gewisse Grenzen, welche eine gegenseitige Respektierung bedingen und so zu stillschweigend anerkannten allgemeinen Sitten und gesellschaftlichen Lebensregeln werden, welche jeder Einzelne nur zu seinem eigenen Schaden verletzen kann. Daraus entwickelt sich im Menschen das Bewusstsein einer Summe von Rechten und Pflichten in und gegenüber der Gesellschaft, welche um so grösser ist, je höher die kulturelle Entwicklung vorgeschritten, d.h. je mehr das Individuum vorhergegangener Kulturarbeit der Gesellschaft zum Genusse erhält. Das Bewusstsein der persönlichen Menschenwürde findet seine einzige und vollkommenste Garantie in der Respektierung derselben Würde gegenüber seinen Mitmenschen und diese gegenseitige Respektierung bildet die Basis der natürlichen sozialen Gerechtigkeit. Dieselbe lässt sich daher weder durch Majoritäten, noch durch Deputationen, noch durch andere göttliche Offenbarungen zu Gesetzen formulieren. Sie ist nichts Absolutes, Unwandelbares, sondern dem gesellschaftlichen Leben der Menschen entsprungen, demselben inherent; mit demselben gezeugt und entwickelt, lebt und bewegt sie sich mit demselben in unzertrennlicher Weise fort. Die Gerechtigkeit von den Menschen trennen, hiesse die Menschheit vernichten; die Menschheit von der Gerechtigkeit trennen, heisst, die Gerechtigkeit morden. In der Tat sucht man seit Jahrtausenden diesen monströsen Doppelmord zu vollbringen, und das, was man erreicht, bestätigt mehr als genügend das unzertrennliche Leben des Menschen und der Gerechtigkeit. Man hat die Gerechtigkeit von der Menschheit zu trennen gesucht, indem man dieselbe in übermenschlicher Offenbarung suchte, und diese Gerechtigkeit wurde zur feilen Metze, zur meuchlerischen Muttermörderin an der Menschheit. Man hat die Menschheit von der Gerechtigkeit zu trennen gesucht, indem man das Individuum als gerechtigkeitslose Kreatur behandelte, die Menschheit wurde in ihrer Würde degradiert, ihres Gerechtigkeitsgefühles beraubt und sie wurde zu einer Gesellschaft von gesetzlichen Meuchelmördern, Halsabschneidern und Banditen!

Allein eine vollständige Trennung ist trotz tausendjähriger  Anstrengung nicht gelungen. Das, was die offizielle Gesellschaft „Gerechtigkeit“ nannte und als solche anbetete, war nichts, als eine schändliche Karrikatur. Die wahre, echte Gerechtigkeit hielt trotz aller Todesgefahr still und geheimnissvoll die Menschheit umschlungen, um als Eines, verschmolzen in der dunklen Nacht autoritärer Winterstarre, ihre Bahn zum Frühling zu wandeln. Erst in den goldenen Strahlen der Freiheitssonne wird sie sich voll und ganz in ihrer hohen, edlen Gestalt zu entfalten vermögen, sie wird die heute geistig Blinden sehend, und die geistig Tauben hörend machen, um in Flugesschnelle die Menschheit dem Ideale der Vollkommenheit entgegen zu führen.

***

Seit einem Jahrhundert ringen und kämpfen die unterdrückten Völker um Gerechtigkeit. Alle Forderungen und Bestrebungen der mit ihrer Lage unzufriedenen revolutionären Volksmassen — von der grossen französischen Revolution bis auf den heutigen Tag — lassen sich in das eine Wort: Gerechtigkeit zusammenfassen.

Sie ist zum weltbewegenden Ideale geworden, ohne welches mit Recht kein Heil, kein Friede für  die Menschheit zu erwarten ist. Doch bis zum heutigen Tage konnte dieses Ideal trotz aller Revolutionen, trotz aller Reformationen nicht verwirklicht werden. Nach jeder Änderung mussten die Völker zu ihrer Verzweiflung und Enttäuschung wahrnehmen, dass sie nach wie vor unter dem Joche der Ungerechtigkeit zusammenbrachen.

Die Ursache dieser Enttäuschung bestand darin, dass die Völker die Gerechtigkeit ausser und über sich suchten. Und so lange sie diesem Irrtum folgen, werden sie auch keine Gerechtigkeit finden. Nicht ausserhalb der Völker, sondern in denselben, in sich selbst, haben sie die Gerechtigkeit zu suchen, und alles zu vernichten, was sich über sie zu stellen wagte und noch wagt. Die Gerechtigkeit ist in dem Rechtsgefühl jedes Einzelnen zu suchen, oder sie ist nicht. Sie ist in jedem und allen Menschen. Alles, was sich unter irgend einem Vorwande, sei es als göttliche Offenbarung, sei es als Fürst von Gottesgnaden, sei es als Repräsentant des Volkes, oder als Majorität des Volkes, anmasst, die Stimme, der Ausdruck oder der Dolmetsch der Gerechtigkeit zu sein, ist eine Vergewaltigung der Gerechtigkeit selbst.

Um diese Vergewaltigung zu rechtfertigen, sucht man  sich gewöhnlich hinter das Interesse der Gesellschaft zu verstecken; dieselbe im Namen der Gesellschaft auszuüben. Die Gesellschaft wird somit in ständige Rebellion gegen das Individuum gebracht, indem sie dasselbe, seiner Würde beraubt, zur Marionette macht. Noch mehr, sie dreht den Spiess um und erklärt das Individuum als ein gefährliches, böswilliges, der Gesellschaft feindliches Tier, welches sich in fortwährender Rebellion gegen die Gerechtigkeit befinde und durch allerhand Knebel und Fesseln im Zaume gehalten werden muss. Dabei setzen sich jedoch die transzedentalen Gerechtigkeitsapostel wohlweislich über die so einfache logische Konsequenz hinweg; dass, wenn das Individuum wirklich ein solch abscheuliches wildes Tier ist, alle diejenigen Individuen, welche diese furchtbare Macht der Gerechtigkeit in Händen haben, dieselbe als eine Waffe gegen die Gesellschaft benützen können, gegen welche die Letztere fast ohnmächtig ist. Das war auch tatsächlich bis zur Stunde der Fall und wird solange der Fall sein, solange die Gerechtigkeit von dem Menschen, dem Individuum getrennt wird, derselbe nicht sein eigener, von seinem individuellen Rechtsbewusstsein geleiteter Richter ist. Die Gerechtigkeit wird in den Händen der Individuen oder der Gesellschaft nicht darum eine solch furchtbare Waffe gegen die Menschheit, weil das Individuum von antisozialen Lastern behaftet ist, sondern dasselbe eignet sich alle denkbaren antisozialen Laster an, weil es diese Waffe in der Hand hat und kraft derselben über der Gesellschaft steht. Der beste Mensch wird als „Arm der Gerechtigkeit“ bös, herrschsüchtig, tyrannisch und schlecht. Wer ist denn eigentlich die Gesellschaft, dass dieselbe selbst von Sozialisten als über dem Individuum stehend betrachtet wird und welcher sich das Individuum zu unterwerfen, alles zu opfern habe? Welchen Zweck hat die Gesellschaft? Ist dieselbe nicht eine einfache Summierung von Individuen? Hat dieselbe nicht den Zweck, die Interessen der Individuen gemeinsam zu fördern, gemeinsam zu vollbringen, was das Individuum einzeln nicht zu vollbringen vermag? Absolut nichts mehr und nichts weniger.

Das war die einzige Triebkraft der Menschen wie aller  Tiere, die in Gesellschaft leben, ohne sie wäre nie eine menschliche Gesellschaft entstanden. Und da will man heute, nachdem sich dieser Gesellschaftstrieb in so grossartiger Weise entwickelt hat, denselben ableugnen, abdisputieren und behaupten, die Menschen bedürfen irgend einer Zuchtrute, um sie in Ordnung zu halten; sie würden ohne eine Autorität alle Bande des sozialen Lebens, der sozialen Harmonie zerreissen, ihre eigenen Interessen mit Füssen treten und so zu Grunde gehen! Ja, wenn das richtig wäre, dann hätte die herrschende Klasse ein absolutes unbestreitbares Recht, alle jene Menschen mit unbarmherziger Gewalt, mit Pulver und Blei, mit Strick und Beil zu vernichten, welche es wagen, an der bestehenden Ordnung der Dinge zu rütteln. Dann hätten die Völker alle Hoffnung aufzugeben, sich von der sie erdrückenden Ungerechtigkeit befreien zu können; denn dieselbe wäre nicht blos das Werk menschlicher Niedertracht, sondern das Werk irgend einer fatalen Vorsehung, gegen welche alle menschliche Anstrengung fruchtlos ist.

Die Völker hätten dann einfach in Demut zu dulden und abzuwarten, bis es dieser Vorsehung gefiele, sich in einigen Auserlesenen zu offenbaren, welche dann als die berufenen Vertreter dieser Offenbarung die Geschicke der Völker leiten und lenken würden. Wem steigt nicht die Schamröte zu Gesicht über eine solche Entwürdigung?

Und doch liegt allen Bestrebungen, in der Gesellschaft  die Autorität zu erhalten, diese Entwürdigung der Menschheit zu Grunde. Der autoritäre Sozialismus, welcher — wie die Sozialdemokratie oder der Kollektivismus — das gesamte materielle und geistige Leben der Individuen in einer Staatsautorität zu konzentrieren strebt, sucht das Prinzip der menschlichen Entwürdigung des Individuums zur höchsten Potenz zu entfalten. Das Individuum hört darin auf, ein eigenes, selbständiges, selbstbewährtes Wesen zu sein, es wird zu einem Zähnchen der ungeheuren Staatsmaschine, zu einer Ziffer der gesellschaftlichen Addition degradiert. Das Individuum wird mehr wie heute als eine antigesellschaftliche Bestie betrachtet, welche sich der eisernen Zuchtrute des sozialdemokratischen Volksstaates fügen muss, oder wie ein giftiges Gewürm zertreten wird. Da es ausser diesem Staate weder Arbeit noch Genuss, weder Würde noch Gerechtigkeit gibt.

Daraus erklärt sich die verächtliche Art und Weise, mit  welcher die autoritären Sozialisten die individuellen Rebellenakte gegen die bestehende Gesellschaft behandeln; daraus erklärt sich auch, warum die autoritären Sozialisten mit solche rasenden Wut gegen den Anarchismus und die individuelle Freiheit eifern und einen solchen Abscheu vor der gewaltsamen revolutionären Prodaganda haben. Sie betrachten das Individuum als schlecht, bös und anti-sozial, welches kein Recht habe, auf eigne Faust seine Menschenwürde zu verteidigen. Diese Würde ist nach ihrer Meinung ein unzertrennliches Eigentum der Gesamtheit, über welche nur eine göttliche Majoritätsoffenbarung bestimmen kann, welcher Anteil dem Einzelnen davon zukommt. Die Gerechtigkeit ist ihnen keine jedem Menschen inherente Eigenschaft, als Ausdruck des entwicktelten Rechtsbewusstseins, sondern eine, in Majoritätsbeschlüssen geäusserte Offenbarung. Und dadurch beweisen die autoritären Sozialisten, trotz aller revolutionären Phrasen, dass sie das Wesen des alten bestehenden Unterdrückungs- und Knechtschaftssystemes nicht nur bestehen lassen, sondern dasselbe zu seiner höchsten Entfaltung bringen wollen. Denn es ist die denkbar höchste Knechtschaft und denkbar tiefste menschliche Entwürdigung, sobald jeder Einzelne seine materiellen Existenzbedingungen nur um den Preis seiner individuellen Menschenwürde zu befriedigen vermag. Noch mehr! Sobald die staatliche Autorität über alle materiellen und geistigen Güter der Menschheit ein ausschliessliches Verfügungsrecht besitzt, ist dem Individuum jede Möglichkeit benommen, sich seiner individuellen Menschenwürde bewusst zu werden. Und das soll das Ziel und Streben der menschlichen Entwicklung sein!

Ist das die Tendenz der seit einem Jahrhundert steigenden und an Kraft und Energie wachsenden Emanzipationsbestrebungen der modernen Kulturvölker, für welche sie Ströme des edelsten Menschenblutes vergossen und Millionen von Menschen geopfert haben? Nein, und tausendmal nein! Das sind ihre Ziele nicht! Die Tendenz aller dieser Emanzipationskämpfe der Vergangenhait und Gegenwart ist das Bestreben nach höchster individueller Selbständigkeit und sozialer Unabhängigkeit: individueller Autonomie. Nachdem einmal die geistigen Bande zu brechen begannen, erwachte, wuchs und kräftigte sich im Individuum das Bewusstsein seiner Menschenwürde und diese fordert energisch ihre Anerkennung in der Gesellschaft. Alle bisherigen Erfolge der Emanzipationsbestrebungen hatten die Tendenz, die Macht der Autorität zu vergrössern und die individuelle Autonomie zu schmälern.

Anstatt freier, wurden sie mehr unterdrückt. Jemehr die Völker ihre Souveränität im Staate erweitern, wird die Souveränität des Individuums geschmälert und mit Füssen getreten und dadurch das individuelle Selbstbewusstsein in Rebellion gegen die Herrschaft in jeder Form gebracht. Die Völker beginnen zu erkennen, dass die Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit eine unzertrennliche Dreieinigkeit bilden, welche in einer Gesellschaft nur dann zu herrschen vermag, sobald dieselbe jeder Einzelne in sich selbst sucht. Deren Pflege besteht nicht in einer Entwürdigung des Individuums, sondern in der Entwicklung und Pflege des individuellen Selbstbewusstseins, und diese ist nur in einer Gesellschaft möglich, wo jeder Einzelne, einzig und allein von den ihm inherenten Gesetzen der Soziabilität, in seinem Tun und Lassen geleitet, frei und ungehindert seine Individualität zu entwickeln und zur Geltung zu bringen vermag. Wo die Macht der gleichen Interessengegenseitigkeit das natürliche Band der Interessensolidarität bildet, welche zur Basis seines Rechtsbewusstseins wird. Nur dann wird sich das Individuum der persönlichen Verantwortlichkeit seiner Handlungen bewusst, um Gutes des Guten willen zu tun und Böses des Bösen willen zu meiden. Mit de Entwicklung des Bewusstseins seiner Verantwortlichkeit resp. seines Rechtsbewusstseins, steigert sich auch die Erkenntnis seiner Menschenwürde in der Respektierung der gleichen Würde seines Mitmenschen, und darin ist die einzige Garantie der Gleichheit begründet.

So begründet die Freiheit die Gleichheit, und beide die einzig wahre, menschliche Gerechtigkeit! Darum sind wir Anarchisten! Das ist: Todfeinde jeder Herrschaft, jeder sozialen Ungleichheit und jeder übermenschlichen Gerechtigkeit! Wir erstreben den Anarchismus, weil wir den Menschen in seiner Individualität, trotz aller seiner Fehler und Laster, nicht als ein antisoziales Tier betrachten, sondern in ihm alle Bedingungen der gesellschaftlichen Harmonie finden, ohne welche sich der selbe niemals auf die erklommene Stufe des Gesellschaftslebens geschwungen haben würde, ja ohne welche derselbe wahrscheinlich längst im Kampfe ums Dasein vernichtet worden wäre. Diese im Menschen so stark ausgeprägten Eigenschaften der Soziabilität bedürfen der unbeschränktesten Freiheit, um sich zu ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit sozialer Harmonie entfalten zu können.

Unsere Losung ist daher: Nieder mit allen Vorurteilen und allem Aberglauben! Nieder mit allen Vorrechten und Privilegien! Nieder mit aller Herrschaft und Autorität! Es lebe die Anarchie! Sie ist die so lang gesuchte Gerechtigkeit.

Erschienen bei der Verlagsbuchhandlung Johann Poddany, Wien

Das Erscheinungsjahr des Textes bei der Verlagsbuchhandlung Johann Poddany konnte ich nicht herausfinden (der Text erschien auch 1910 im "Freier Arbeiter Verlag"). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, kleine stilistische Anpassungen, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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