Emma Goldman - Die Ursachen des Niederganges der russischen Revolution (1922)

Rudolf Rocker - Zum Geleit

Unter den propagandistischen Vertretern der modernen anarchistischen Bewegung ist Emma Goldman zweifellos eine der hervorragendsten und eigenartigsten Persönlichkeiten - ein groß angelegter Charakter, dem die Lehre inneres Erlebnis und Leitstern des Lebens geworden ist. Geboren 1869 in Kowno, verlebte sie ihre erste Kindheit in Kurland. Als Kind von sieben Jahren sandten ihre Eltern sie nach Königsberg, wo sie im Hause ihrer Großmutter Aufnahme fand. Dort blieb sie bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahre, als sie mit ihren Eltern nach Petersburg übersiedelte. Es war ein Jahr nach der Hinrichtung Alexanders II.

Die ganze Atmosphäre der Hauptstadt war noch durchschwängert von den unmittelbaren Ergebnissen des furchtbaren Kampfes der revolutionären Partei gegen den Zarismus, der die ganze russische Gesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttert hatte. Im Verkehr mit jungen revolutionär gesinnten Studenten empfing das junge Mädchen die ersten freiheitlichen Eindrücke, die ihrem ganzen späteren Leben eine bestimmte Richtung geben sollten.

Im Jahre 1886 folgte Emma ihrer Schwester Helene nach Amerika und ließ sich zunächst im Kreis von Verwandten in Rochester nieder. Die amerikanische Arbeiterbewegung hatte zu jener Zeit den Höhepunkt ihrer revolutionären Entwicklung erreicht. Gewaltige Streikwellen fluteten über das ganze Land und fanden endlich ihre machtvolle Auslösung in der großen Bewegung für die Erringung des Achtstundentages.

Dann kamen die düsteren Ereignisse von Chicago, die mit der grauenhaften Hinrichtung der anarchistischen Arbeiterführer ihren Abschluß fanden. Emma Goldman folgte dem Prozeß der Chicagoer Anarchisten mit fieberhafter Erregung und war bis zuletzt überzeugt, daß kein amerikanisches Gericht diese Männer, deren Unschuld einwandsfrei feststand, dem Galgen überliefern würde. Um so furchtbarer war ihre Enttäuschung, als das Grauenhafte Ereignis wurde. Der 11. November 1887 wurde ihr zum Wendepunkt des Lebens; ihr fein entwickelter Gerechtigkeitsinstinkt trieb sie auf die Bahn der Revolution. Die freiheitlichen Regungen, die sie noch in Rußland empfangen hatte, nahmen festere Formen bei ihr an und kristallisierten sich allmählich in bestimmten Ideen und einer vom tiefsten Idealismus getragenen Überzeugung. Sie studierte fleißig die sozialistische und anarchistische Literatur, und es war hauptsächlich die von Johann Most herausgegebene "Freiheit", die sie mehr und mehr in den Bannkreis anarchistischer Gedankengänge hineinzog.

In New Haven, wo sie in einer Korsettfabrik ihr tägliches Brot erwerben mußte, kam Emma Goldman zum ersten Mal in Berührung mit aktiven Kameraden, und als sie im Jahre 1889 einem lang gehegten Wunsche folgen und nach New York übersiedeln konnte, fand sie dort reichlich Gelegenheit, die neu erworbenen Ideen zu vertiefen und umfassender zu gestalten. Es war besonders Johann Most, dessen faszinierende und leidenschaftliche Beredsamkeit einen mächtigen Einfluß auf den empfänglichen Geist der jungen Idealistin ausübten, und es dauerte nicht lange, so wurde aus der Neubekehrten selbst eine begeisterte Verkünderin der anarchistischen Weltanschauung. Von nun an beginnt in dem Leben Emma Goldmans eine Periode unermüdlicher und selbstaufreibender Tätigkeit. Ihre Agitation beschränkte sich zunächst auf die Kreise der deutschen und jüdischen Arbeiterschaft New Yorks und anderer Städte, an deren wirtschaftlichen Kämpfen sie einen hervorragenden Anteil nahm.

Im Jahre 1892 spielte sich in Homestead die große Streikbewegung ab, die den Namen dieses Ortes über die ganze Welt tragen sollte. Die Arbeiter, die von bis an die Zähne bewaffneten Pinkertons in brutalster Weise attackiert wurden, griffen ebenfalls zu den Waffen und lieferten den Schergen des Kapitals förmliche Schlachten, die sie zum Abzug nötigten. Nun griff die Staatsmiliz ein, die Arbeiter zur blutigen Unterwerfung zwingend. Die blutigen Ereignisse in Homestead hatten die ganze organisierte Arbeiterschaft Amerikas in eine hochgradige Erregung versetzt, und unter dem frischen Eindruck der allgemeinen Volksstimmung versuchte der junge Anarchist Alexander Berkman, den eigentlichen Verursacher der ganzen tragischen Ereignisse, den bei der gesamten Arbeiterschaft tiefverhaßten Frick zu töten. Frick wurde nur leicht verwundet, trotzdem wurde Berkman von einer infamen Klassenjustiz zu der ungeheuerlichen Strafe von 22 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.

Für Emma Goldman war dieses schauerliche Urteil ein furchtbarer Schlag; denn sie war mit Berkman eng befreundet und gehörte derselben Gruppe wie dieser an. Dazu kam noch, daß ein Teil der Genossen die Tat Berkmans verurteilte, was zu bitteren Kontroversen im eigenen Lager führte. In derselben Zeit griff die kapitalistische Presse Emma Goldman in der gehässigsten Weise an und machte sie mitverantwortlich für das Attentat. Verlassen von vielen der eigenen Genossen und geächtet von der öffentlichen Meinung, konnte die junge Idealistin lange Zeit sogar keine Wohnung finden und sah sich genötigt, manche Nacht im Freien zu kampieren.

Als im nächsten Jahre die große Bewegung der Arbeitslosen in Amerika einsetzte, war Emma Goldman sofort auf dem Plan, um dieser Bewegung ihre Kraft zu widmen. Eine Rede, die sie in einer Massenversammlung der streikenden Mäntelschneider auf dem Union Square in New York hielt, wurde von der kapitalistischen Presse übel aufgenommen und in entstellter Weise wiedergegeben. Die Folge war, daß Emma verhaftet und im OKtober 1893 wegen Aufforderung zum Aufruhr zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Das Zeugnis eines Spitzels, der später selbst wegen Veruntreuungen im Amte zu Gefängnis verurteilt wurde, genügte den Geschworenen, welche die Aussagen von zwölf Zeugen einfach ignorierten und nur von dem einen Wunsche erfüllt waren, der gehaßten Propagandistin etwas am Zeuge zu flicken.

Emma Goldman verließ das Gefängnis ungebessert, aber reifer in ihren Ideen, reicher an Erfahrungen. Im Jahre 1895 verließ sie Amerika für eine Zeitlang, um nach Europa zu fahren. Nacli einer erfolgreichen Agitationstour, die sie durch ganz England und Schottland führte, wandte sie sich nach Wien, wo sie sich im Allgemeinen Krankenhaus als Krankenpflegerin ausbildete. Als sie endlich 1896 nach den Vereinigten Staaten zurückkehrte, warf sie sich wiederum mit Feuereifer auf die öffentliche Propaganda. Im Jahre 1897 machte sie ihre erste große Agitationsreise, die sich bis zu den Küsten des Stillen Ozeans ausdehnte und ihren Namen über das ganze Land trug. Von damals an wurde Emma Goldman ein Faktor im öffentlichen Leben Amerikas. Sie bereiste das Land nach allen Richtungen, stets neues, unbeackertes Gebiet berührend. Ihre glänzende Rednergabe und besonders die tiefe innere Überzeugung, die in ihren Worten einen machtvollen Ausdruck fanden, führten der Sache der Freiheit manchen wackeren Kämpfer zu und erwarben ihr die Freundschaft aller bekannten Persönlichkeiten im radikalen Lager Amerikas. Aber ihre erfolgreiche Tätigkeit brachte auch alle Organe der Reaktion gegen die kühne Rebellin in Aufruhr.

So kam es denn, daß fast jede ihrer Touren von Verhaftungen, Versammlungsverboten usw. begleitet war. Der Name Emma Goldman wirkte auf die Vertreter der bürgerlichen Ordnung wie ein rotes Tuch, und obwohl diese Frau alles andere, nur nicht die Verkörperung eines jener banalen Verschwörertypen ist, wie sie in der modernen Hintertreppenliteratur dem lieben Publikum vor Augen geführt werden, wurde sie dem amerikanischen Philister allmählich zur Incarnation allen Übels.

Eine der hervorragendsten Charaktereigenschaften Emma Goldmans ist ihr tief entwickeltes Gerechtigkeitsgefühl. Wo immer die Gerechtigkeit vergewaltigt, die menschliche Würde mit Füßen getreten wurde, war Emma Goldman mit zuerst auf dem Plan, um mit flammenden Worten gegen das begangene Unrecht zu protestieren, unbekümmert um alle persönlichen Konsequenzen. Und nie überließ sie es anderen, für die Folgen ihrer Handlungsweise zu büßen, stets war sie bereit, die volle Verantwortlichkeit für ihr Tun und Handeln auf sich selbst zu nehmen. Als nach der Ermordung des Präsidenten Mc Kinley in Buffalo eine furchtbare Hetze gegen die Anarchisten einsetzte, gaben sich Emmas Freunde die größte Mühe, sie zum Verlassen des Landes zu bewegen. Die grauenhafte Justiztragödie von Chicago und so manche andere Justizmonstruosität im "Lande der Braven und der Freien" rechtfertigten dieses Verlangen der Freunde nur allzu sehr.

Allein Emma ließ sich durch nichts bewegen und bot dem anstürmenden Verhängnis mit kühner Stimme Trotz. Obwohl vollständig unschuldig an der Tat Czolgosz's, wurde sie mit anderen Genossen verhaftet und den schlimmsten Brutalitäten der Polizei ausgesetzt. Und im ganzen Lande heulte die reaktionäre Meute nach dem Blute der mutigen Frau, deren ganzes Verbrechen darin bestand, daß sie niemals ein Kompromiß mit der öffentlichen Meinung auf die  Kosten ihrer inneren Überzeugung einging. Vielleicht war es nur ein Zufall, daß Emma Goldman damals ihrem Schicksal entgangen ist.

Als 1914 das große Völkermorden seinen Anfang nahm, war Emma Goldman mit unter den ersten, die ihre Stimme gegen den Krieg erhoben. So mancher von den ehemaligen Kriegsgegnern änderte seine Meinung, als Amerika selbst mit in den Krieg eintrat. Nicht so Emma Goldman. Furchtlos und treu stand sie zu ihrer Sache in einer Zeit, da ein Blutrausch das ganze Land erfaßt zu haben schien. Verhaftung und zweijährige Internierung waren das Ergebnis. Und als der Krieg zu Ende war, da war Emma Goldman mit unter den ersten, die man aus dem Lande wies, in dem sie Bürgerrechte hatte, und nach Rußland deportierte. Mit weichen Gefühlen sie die alte Heimat wieder betrat, die ihr während all der Jahre treu im Herzen lag, davon legen die nachfolgenden Blätter beredtes Zeugnis ab, und darüber wird uns besonders das größere Werk, das sie gegenwärtig vorbereitet, Kunde geben. Von allen bitteren Erfahrungen, die Emma Goldman in ihrem vielbewegten Leben durchkosten mußte, waren ihre Erlebnisse im bolschewistischen Rußland unzweifelhaft die bittersten. Was in diesem Schriftchen zum Ausdruck kommt, ist das Empfinden einer von tiefster Freiheitssehnsucht durchglühten Seele, die sich in ihren höchsten Erwartungen betrogen sah und auf die der hohle Schein einer mit sozialistischen Schlagwörtern notdürftig verhüllten brutalen Wirklichkeit doppelt abstoßend wirken mußte.

Daß Emma Goldman den Inhalt dieses Schriftchens zuerst in einer kapitahstischen Zeitung veröffentlicht hat, nachdem ihr die sogenannte radikale Presse die Aufnahme verweigerte, war für die ganzen und halben Verteidiger der famosen "Diktatur des Proletariats" Grund genug, sie mit der trüben Flut ihrer ohnmächtigen Verwünschungen und persönlichen Verunglimpfungen zu überschütten. Dieselben Leute, die es ganz in der Ordnung finden, daß die Vertreter des bolschewistischen Rußland auf internationalen Konferenzen mit den Repräsentanten der kapitalistischen Welt an einem Tische sitzen, fühlen sich moralisch
entrüstet, als die Wahrheit in einem bürgerlichen Blatte zum Ausdruck kam, da ihr jeder andere Weg versperrt war. Man wußte dem Inhalt dieser Zeilen schlechterdings nichts entgegenzusetzen, so mußten halt andere Mittel zu ihrer Bekämpfung herhalten. Emma Goldman hat es nicht nötig, diesen Einwänden geborener Kleingeister entgegenzutreten. Ihr ganzes Leben spricht für sie. Auch für sie gilt das Wort des Florentiners: Segui il tuo corso e lascia dir le gente!

Neukölln, im September 1922.

Rudolf Rocker

Emma Goldman - Ursachen des Niederganges der russischen Revolution

Vorbemerkung

Während meines zweijährigen Aufenthaltes in Rußland sind in der amerikanischen Presse wiederholt Artikel erschienen, die von angeblichen Interviews mit mir zu berichten wußten. In einigen dieser Artikel konnte man lesen, daß ich meine Ansichten geändert hätte, nicht länger an die Revolution glaube und nunmehr von der Notwendigkeit einer Regierung überzeugt sei. Eine Zeitung brachte sogar eine sensationelle Geschichte von einer amerikanischen Flagge in meinem Zimmer, die ich wie ein Heiligtum aufbewahre. Mit einem Wort, man stempelte mich zu einer Art Sonntagsprediger, der nun zerknirscht über seine Sünden an der amerikanischen Regierung in Sack und Asche Buße tut.

All dies ist natürlich barer Unsinn. Ich war nie tiefer von der Wahrheit meiner Ideen überzeugt; nie vorher hatte ich stärkere Beweise für die Logik und die innere Berechtigung der anarchistischen Lehre. Ich habe mich jedoch von niemandem ausfragen lassen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es länger als ein Jahr dauerte, ehe ich imstande war, mich in der tragischen Situation Rußlands zurechtzufinden. Ich war der Meinung, und bin es noch heute, daß das russische Problem viel zu kompliziert ist, als daß man darüber mit einigen leichtfertigen Worten hinweggehen könnte. Dies war auch die Ursache, warum die meisten Bücher über Rußland, von Leuten geschrieben, die nur einige Wochen oder höchstens einige Monate dortselbst gewesen sind, mir allzu oberflächlich vorkamen. Solange ich noch selbst im Dunklen einherschritt, konnte ich mich nicht dazu entschließen, eine bestimmte Meinung öffentlich auszusprechen. Aber sogar dann, wenn ich schon dazu berufen gewesen wäre, meiner Meinung öffentlich Ausdruck zu geben, hätte ich dies den Vertretern der Presse gegenüber nicht getan. Ich hielt es für notwendig, solange Stillschweigen zu beobachten, wie die vereinten Mächte des Imperialismus Rußland an der Gurgel hielten. Außerdem hat mich eine dreißigjährige Erfahrung mit Journahsten aller Art von ihrer Wahrhaftigkeit nicht überzeugen können, obzwar ich gerne zugebe, daß Ausnahmen vorhanden sind.

Nun aber ist die Zeit des Schweigens vorüber. Ich werde daher offen aussprechen, was ausgesprochen werden muß. Dabei bin ich mir der Schwierigkeiten, die mir entgegenstehen, wohl bewußt. Ich weiß, daß die Reaktionäre, die Feinde der russischen Revolution, meinen Worten eine falsche Deutung geben werden, ich weiß auch, daß ihre sogenannten Freunde, welche die Kommunistische Partei Rußlands mit der russischen Revolution verwechseln, über mich den Stab brechen werden. Es ist daher notwendig, meine Stellung zu beiden klarzulegen.

Vor vier Jahren machte die Regierung der Vereinigten Staaten eine Verbrecherin aus mir, trieb mich von Haus und Heim und zwang mich, das Land zu verlassen. All dies, weil ich es wagte, meine Stimme gegen den Weltkrieg zu erheben. Ich habe damals auf die furchtbare Verheerung hingewiesen, die der Krieg im Gefolge haben mußte, auf die ungeheuerliche Zerstörung materieller Werte und die grausame Vernichtung ungezählter Menschenleben. Das war mein Verbrechen. Heute sind viele, die den Krieg unterstützt haben, zur Einsicht gekommen, daß diejenigen unter uns, die sich von der allgemeinen Kriegswut nicht mitreißen ließen, im Rechte waren, daß der Krieg von Scharlatanen und ihren Gimpeln zugunsten der Kriegsherren begonnen, unterstützt und finanziert wurde. Der "Krieg für die Demokratie", der "Krieg zur Beendigung des Krieges" hat die Welt in eine wahre Hölle umgewandelt. König Hunger, das Grinsen des Todes auf den bleichen Lippen, schreitet mächtig durch alle Länder, während die, die reich und mächtig wurden durch die Verwüstung von Menschenfleisch, diesem mächtigsten aller Könige den Hof machen. Nicht zufrieden mit der Hinschlachtung von Millionen und mit der Zerstörung der halben Erde, haben sie aus der Welt eine Festung gemacht, einen politisches Versließ, wo die Freiheiten und Rechte der Völker, die in jahrhundertelangem Ringen erkämpft wurden, gefesselt am Boden liegen. Das demokratische Amerika, einst das "Land der Freien und Braven", England, früher die Heimstätte für die Rebellen aller Länder, Frankreich, die Wiege der Freiheit, und viele Länder von kleinerer Bedeutung - was sind sie heute anders als Wüsten des Geistes. Ihre einst gastfreien Tore sind verschlossen und versiegelt. Nur die Seufzer und Flüche ungezählter Arbeitslosen und die Schmerzensschreie der politischen Gefangenen unterbrechen die Stille auf diesem Friedhofe der Gedanken und Ideen.

Wahrlich, die Kriegsherren haben Ursache, mit ihrem Werke zufrieden zu sein. Ihre Verschwörung hatte Erfolg. Ihr eiserner Fuß ruht fest auf dem Nacken der Völker der Welt. O ja, sie waren erfolgreich. Doch nicht ganz, noch war Rußland da.

Das edle Paar Hochfinanz und Militarismus rechnete nicht mit der russischen Revolution. Es war auch zu "unfein" von dem russischen Volke, einen Brand zu entzünden, der leicht die Revolution in der ganzen Welt entfesseln konnte, und dies gerade zu einer Zeit, als die Kriegsgewinne so reichlich flössen und der Imperialismus seines vollständigen Sieges sicher war.

Etwas mußte getan werden, um das "unverschämte Ding", die russische Revolution, zu zermalmen. Während des Krieges mit Deutschland hatte man die heuchlerische Losung ausgegeben, daß man keinen Krieg gegen das deutsche Volk, sondern gegen den deutschen Militarismus und Imperialismus führe. Dieselbe heuchlerische Losung hörte man wieder in dem unheiligen Kreuzzug gegen die russische Revolution. Nicht gegen das russische Volk, sondern gegen die Bolschewiki zog man zu Felde - sie hatten die Revolution entfacht, sie mußten ausgerottet werden. Der Kriegszug gegen Rußland begann. Die Eindringlinge mordeten Millionen von Russen, durch die Blockade verhungerten und erfroren Hunderttausende von Frauen und Kindern, und Rußland verwandelte sich in eine ungeheure Einöde, wo die Agonie und die Verzweiflung ihre Heimstätte aufgeschlagen hatten. Die russische Revolution wurde zu Boden geschlagen, und das Regime der Bolschewiki verstärkte sich ins Ungemessene. Dieses ist das Endergebnis der vierjährigen Verschwörung der Imperialisten gegen Rußland.

Wieso kam das? Ganz einfach: das russische Volk, das allein die Revolution gemacht hatte, und das entschlossen war, sie um jeden Preis gegen die Eindringlinge zu verteidigen, war zu beschäftigt an den unzähligen Fronten, als daß es dem Feinde der Revolution im Innern hätte Beachtung schenken können. Und während die Arbeiter und Bauern Rußlands so heroisch ihr Leben einsetzten, wuchs der innere Feind immer mächtiger heran. Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat, der die Sowjets zerstörte und die Revolution niederschlug, einen Staat, der sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt, heute mit jedem Großstaat der Welt vergleichen kann.

Meine Beobachtungen und Studien von zwei Jahren haben mir bis zur Gewißheit klar gemacht, daß das russische Volk, wäre es die ganze Zeit nicht von außen bedroht gewesen, die große Gefahr, die ihm von innen drohte, sehr bald wahrgenommen und abgewendet haben würde, ebenso wie die Angriffe der Koltschaks, Denikins und der anderen. Ohne die gegenrevolutionären Angriffe der Imperialisten wäre das Volk bald hinter die wahren Bestrebungen des kommunistischen Staates gekommen, hätte es bald seine Unzulängüchkeit und Unfähigkeit, das zerstörte Rußland wieder neu aufzubauen, erkannt. Die Massen selbst würden dann den paralisierten sozialen Kräften des Landes neues Leben eingehaucht haben. Aber würde das Volk nicht ebenso geirrt und vom Wege abgewichen sein wie die Bolschewiki? Zweifellos wäre das der Fall gewesen. Aber es hätte dann gleichzeitig auch gelernt, seiner eigenen Initiative und Kraft zu vertrauen, und dadurch allein hätte die Revolution gerettet werden können.

Nur der verbrecherischen Stupidität einiger gewesener Revolutionäre, welche die Intervention des Auslandes forderten, und der Imperialisten, die diese Intervention finanziell deckten, ist es zu verdanken, daß die russische Revolution, das größte Ereignis von Jahrhunderten, zugrunde ging. Ihnen ist es auch zu verdanken, daß die Bolschewiki, umhüllt von dem deckenden Mantel der Verfolgungen, auch fernerhin als das heilige Symbol der sozialen Revolution erscheinen konnten.

Ich will diesen verhängnisvollen Irrtum bloßlegen. Nicht weil ich den Glauben an die Revolution verloren habe, sondern weil ich felsenfest überzeugt bin, daß jede kommende Revolution zum Untergang verdammt ist, wenn das, was Lenin selbst den militärischen Kommunismus nannte, der Welt aufgezwungen werden sollte. Nicht weil ich mit dem Staate Frieden geschlossen habe, werde ich versuchen, zu beweisen, was die Bolschewiki an der russischen Revolution begangen haben, sondern weil die Erfahrungen, die Rußland gemacht hat, uns mehr als jede Theorie vor Augen führte, daß jede Regierung, ganz gleich, welche Form sie hat, oder unter welchem Vorwand sie handelt, ein totes Gewicht ist, das den freien Geist und den Tätigkeitsdrang der Massen lähmt. Dies zu zeigen, schulde ich der Revolution, die ans Kreuz des Bolschewismus geschlagen wurde, dies schulde ich dem gequälten russischen Volke und der getäuschten Welt.

Ich will meine ganze Schuld bezahlen, unbekümmert um den Mißbrauch, den Reaktionäre mit meinen Worten treiben werden, und unbekümmert um die Verunglimpfungen von verblendeten Radikalen.

Stockholm, im Januar 1922


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Wenn man die verschiedenen Faktoren, die zur Erdrosselung der russischen Revolution beigetragen haben, in Betracht zieht, so genügt es nicht, ausschließlich auf die Rolle hinzuweisen, welche die gegenrevolutionären Elemente in diesem Drama gespielt haben.

Ihre Verbrechen sind wahrlich ungeheuerlich genug, um sie für alle Zeiten zu verdammen. Diese russischen "Patrioten" - Monarchisten, Kadetten (konstitutionelle Demokraten), rechte Sozialrevolutionäre usw. - erfüllten die Welt mit ihrem Geschrei für eine Intervention des Auslandes. Was galt es ihnen, daß Millionen ihrer eigenen Landsleute und Tausende unschuldiger Opfer aller anderen Länder in diesem unheiligen Kriege gegen Rußland dahingeschlachtet wurden! Sie selbst lebten ja in vollständiger Sicherheit: Weder die Kugeln der Tscheka, noch die würgende Hand des Hungers oder des Typhus konnte sie erreichen. Sie konnten es sich leisten, die Rolle der Patrioten zu spielen. Doch all dies ist hinreichend bekannt und bedarf keiner weiteren Erklärung. Nicht bekannt aber ist, daß die russischen und alliierten Interventionen nicht die einzigen handelnden Kräfte gewesen sind in diesem gewaltigen sozialen Drama, das mit dem Tode der russischen Revolution sein Ende fand. Die anderen waren die Bolschewiki selbst, und über ihre Rolle will ich jetzt sprechen.

Vielleicht war das Schicksal der russischen Revolution bereits bei ihrer Geburt entschieden. Die Revolution folgte einem vierjährigen Kriege direkt auf den Fersen, einem Kriege, der Rußland seiner besten Manneskraft beraubt, sein Blut in Strömen vergossen und das ganze Land verwüstet hatte. Unter solchen Umständen wäre es begreiflich gewesen, wenn die Revolution nicht die nötige Kraft hätte aufbringen können, um dem wütenden Anprall der ganzen übrigen Welt zu widerstehen. Die Bolschewisten behaupten, daß das russische Volk wohl stark und heroisch genug sei, einer großen Umwälzung den ersten Anstoß zu geben, jedoch nicht über die nötige Ausdauer verfüge, die für die langsame und aufreibende Alltagsarbeit einer revolutionären Periode unumgänglich ist. Ich bestreite die Richtigkeit dieser Behauptung. Aber selbst wenn diese Ansicht gut begründet wäre, so müßte ich dennoch darauf bestehen, daß es nicht so sehr die Angriffe von außen als die unsinnigen und grausamen Methoden in Rußland selbst gewesen sind, welche die russische Revolution erdrosselt und dem Volke das Joch des Despotismus auf den Nacken gezwungen haben. Es war die marxistische Staatskunst der Bolschewiki, die Taktik, die man zuerst als für den Erfolg der Revolution unumgänglich notwendig gepriesen hatte, um sie später, nachdem sie überall Elend, Mißtrauen und Antagonismus verbreitet hatte, als schädlich beiseite zu werfen, welche langsam den Glauben des Volkes an die Revolution untergrub.

Wenn jemals ein Zweifel darüber bestand, ob die größte Gefahr für eine Revolution in den Angriffen von außen her oder in der Ausschaltung des Volkes an den Ereignissen und der Lähmung seiner Interessen für die Revolution von innen her zu suchen sei, so hat die russische Revolution jeden Zweifel in dieser Frage ein für allemal behoben. Die Gegenrevolution, unterstützt von den Alliierten durch Geld, Kriegsmaterial und Menschen, versagte vollständig. Ihre Niederlage ist nicht so sehr auf den heroischen Geist in der Roten Armee als vielmehr auf den revolutionären Enthusiasmus des Volkes zurückzuführen, das jeden Angriff erfolgreich niederschlug. Und dennoch starb die russische Revolution eines qualvollen Todes. Welche Erklärung gibt es für diese Erscheinung?

Die Hauptursachen sind nicht weit zu suchen. Damit eine Revolution imstande sei, alle Widerstände und Hindernisse, die sich ihr entgegentürmen, erfolgreich zu überwinden, ist es von entscheidender Bedeutung, daß sie dem Volke stets wie eine Fackel voranleuchte, daß das Volk stets den leidenschaftlichen Herzschlag der Revolution fühle. Mit anderen Worten, es muß den Massen stets fühlbar sein, daß die Revolution ihr eigenes Werk ist, und daß sie an der so schwierigen Aufgabe, ein neues Leben zu schaffen, aktiv beteihgt sind. Für eine kurze Zeit nach der Oktober-Revolution waren die Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen in der Tat die Herren ihres revolutionären Geschicks. Bald aber mischte sich die unsichtbare eiserne Hand des kommunistischen Staates ein und trennte die Revolution vom Volke, um sie eigenen Zielen dienstbar zu machen.

Die Bolschewisten bilden den Jesuitenorden in der marxistischen Kirche. Nicht daß sie als Menschen unehrlich oder von schlechten Absichten beseelt sind.  Es ist ihr Marxismus, der ihre Politik und ihre Methoden bestimmt hat. Dieselben Mittel, die sie zur Anwendung brachten, haben die Verwirklichung ihrer ursprünglichen Ziele verhindert. Kommunismus, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit - alles, wofür die russischen Massen sich den größten Leiden unterzogen hatten, ist durch die bolschewistische Taktik, durch ihren jesuitischen Grundsatz, daß der Zweck alle Mittel heilige, diskreditiert und in den Kot gezogen worden. Zynismus und Rohheit traten an Stelle der idealistischen Bestrebungen, welche der Oktober-Revolution ihr besonderes Merkmal gegeben hatten. Jede Begeisterung wurde gelähmt, jedes öffentliche Interesse ertötet, Indifferenz und Teilnahmslosigkeit beherrschen heute das Volk. Weder die Intervention, noch die Blockade waren imstande, das Volk der Revolution zu entfremden und ihm einen tiefen Haß gegen alles, was mit ihr in Verbindung steht, einzuflößen, es war die innere Politik der Bolschewiki, welche dies zustande brachte. "Was für einen Zweck haben alle Veränderungen?" sagt heute das Volk, "alle Herrscher sind sich gleich - der Arme hat immer zu leiden." Dieser Fatalismus, vereint mit jahrhundertelanger Unterwürfigkeit, war es, der den Bolschewiki die Möglichkeit gab, ihre Macht über Rußland aufzurichten. Ist es den Bolschewiki nun durch die Erfahrung klar geworden, daß der Zweck nicht alle Mittel heiligt?

Kein Zweifel, Lenin gibt oft seiner Reue Ausdruck. Von jedem allrussischen Konklave der Kommunisten tönt uns ein Mea Culpa, "Ich habe gesündigt!" entgegen. Ein junger Kommunist sagte mir einst: "Ich würde nicht überrascht sein, wenn Lenin eines Tages die Oktober-Revolution für einen Irrtum erklären würde." - In der Tat, Lenin gibt seine Fehler zu, aber das verhindert ihn durchaus nicht, dieselbe fehlerhafte Politik fortzusetzen. Jedes neue Experiment wird von Lenin und seinen Zeloten als der Gipfel Wissenschaftlicher und revolutionärer Weisheit gepriesen. Wehe denen, welche die Berechtigung und Zulänglichkeit der neuen Verordnung in Frage zu stellen sich erdreisten! Sie werden sofort als Gegenrevolutionäre, Spekulanten und Banditen gebrandmarkt. Aber es dauert nicht lange, bis Lenin wiederum seine Reue kundgibt und die Herde seiner blinden Nachfolger als Narren verspottet, weil sie überhaupt an die Möglichkeit des letzten Experimentes geglaubt hatten. Nachdem er selbst Rußland und die ganze Welt vier Jahre lang getäuscht hatte, indem er jedermann den Glauben beibrachte, daß in Rußland der Kommunismus im Aufbau begriffen sei, bedeckte Lenin auf dem letzten Kongreß der allrussischen Sowjets seine eigenen Kameraden mit Spott und Hohn, weil sie naiv genug waren, zu glauben, daß der Kommunismus heute in Rußland verwirklicht werden könne. In derselben Zeit sind die Gefängnistore noch immer hinter denen verschlossen, die vor drei Jahren in milder Form derselben Ansicht Ausdruck gaben.

Es wäre sehr interessant, die verschiedenen Methoden hier anzuführen, welche die Bolschewiki der Reihe nach in Anwendung brachten, um ihre Ziele zu verwirklichen, Methoden, welche dem Volke als den Inbegriff aller Weisheit aufgezwungen hatte, und welche endlich die Revolution erstickt haben. Allein der Raum dieser Abhandlung gestattet keine ausführliche Analyse aller Handlungen, die der bolschewistische Staat zu verantworten hat. Ich werde daher nur die wichtigsten Phasen und Methoden in kurzen Worten behandeln.

Der Frieden von Brest-Litowsk war der Ausgangspunkt aller Übel, die später folgten. Er war die völlige Verleugnung alles dessen, was die Bolschewiki bisher der Welt verkündet hatten: Keine Kriegsentschädigung, Selbstbestimmungsrecht aller unterdrückten Völker, Beseitigung aller geheimen Diplomatie. Trotzdem schlossen die Bolschewisten Frieden mit dem deutschen Imperialismus über den Kopf des deutschen Volkes hinweg. Dieser Frieden wurde durch den Verrat an Lettland, Finnland, der Ukraine und Weißrußland erkauft. Das Ergebnis? Mehrere Jahre Bürgerkrieg, die Zersplitterung der revolutionären Kräfte in einer Zeit, als deren Vereinigung eine Lebensfrage für die Verteidigung der Revolution bedeutete, und der Beginn des Roten Schreckens, der bis zum heutigen Tage das Land beherrscht.

Die Bauern der Ukraine und Weißrußlands wußten die deutschen Eindringlinge zurückzutreiben, haben aber den Verrat, welchen die Bolschewiki an ihnen begangen, nie vergessen, noch vergeben. Die beständige Anwesenheit einer Million Soldaten in der Ukraine, um die "Banditen auszutilgen", legt Zeugnis dafür ab, mit welcher Liebe die ukrainischen Bauern den kommunistischen Staat ins Herz geschlossen haben. Die Bauern, die bis zum Verrat von Brest-Litowsk mit den Arbeitern eins waren, wandten sich mit Haß und Widerwillen von den Bolschewisten ab, die sich als Vertreter der Bauern und Arbeiter aufspielten. Lenin forderte die Bestätigung, damit die Revolution Atem schöpfen könne. Es war dies einer seiner vielen Schnitzer, der Rußland am teuersten zu stehen kam; denn er erdrosselte die Revolution.

Die Raswjorstka, das heißt das Einsammeln der Lebensmittel mit der Hilfe von Gewaltmethoden, folgte dem Frieden von Brest-Litowsk auf dem Fuße. Die Bolschewiki behaupten, daß sie gezwungen waren, ihre Zuflucht zu der Raswjorstka zu nehmen, da sich die Bauern geweigert hätten, die Städte mit Lebensmitteln zu versehen. Das ist nur teilweise richtig. Die Bauern weigerten sich in der Tat, ihre Produkte den Agenten der Regierung auszuhändigen. Sie forderten das Recht, mit den Arbeitern direkt in Verbindung treten zu können, aber dieses wurde ihnen verweigert. Die Unfähigkeit der bolschewistischen Regierung und die Korruption ihrer Bürokratie haben viel dazu begetragen, die Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung wachzurufen. Die Industriefabrikate, die man den Bauern zum Austausch für ihre Produkte versprochen hatte, erreichten diese fast nie, und wenn dies schon ja geschah, so waren es beschädigte Fabrikate, oder das richtige Gewicht war nicht vorhanden usw.

In Charkow hatte ich selbst Gelegenheit, die Unfähigkeit des bürokratischen Zentralapparates beobachten zu können. In einem großen Fabrikmagazin lagen große Mengen von landwirtschaftlichen Maschinen. Moskau hatte befohlen, unter Androhung von Bestrafung wegen Sabotage, dieselben innerhalb von zwei Wochen fertigzustellen. Der Befehl wurde ausgeführt; aber nun lagen die Maschinen bereits sechs Monate da, ohne daß die Zentralbehörde bisher irgendeinen Versuch gemacht hatte, dieselben unter die Bauern zu verteilen, die in ihrer großen Not vergeblich nach Werkzeugen schrien. Es war dies nur eines der unzähligen Beispiele, wie das Moskauer "System" arbeitete, oder besser gesagt, wie es nicht arbeitete.

Kann man sich dann noch wundern, wenn die Bauern jeden Glauben an die Verwaltungsfähigkeiten des bolschewistischen Staates verloren haben? Als die Bolschewiki endlich einsehen mußten, daß sie sich das Vertrauen weder erschwatzen noch erschmeicheln konnten, kamen sie auf die Idee der Raswjorstka. Eine erfolgreichere Methode, die Bauern zu erbittern undsie in ausgesprochene Gegner der neuen Regierung zu verwandeln, konnte überhaupt nicht erfunden werden. Die Raswjorstka wurde zum stets drohenden Schreckensbild der ländlichen Bevölkerung. Sie beraubte sie um alles. Erst die Zukunft wird imstande sein, ein vollständiges Bild über die furchtbaren Konsequenzen dieser wahnsinnigen Methode mit all ihren zahlreichen Menschenopfern und Verwüstungen entwerfen zu können. So unglaublich es klingt, ist es eine in Rußland gut bekannte Tatsache, daß das System der Raswjorstka zum Teil mitverantwortlich für die gegenwärtige Hungerkatastrophe ist. Denn man beraubte die Bauern nicht nur ihres letzten Puds Mehl, man nahm ihnen selbst die Saatkartoffeln und Samereien weg, die sie für das kommende Jahr benötigten.

Gewiß ist die Trockenheit die Hauptursache der herzzerreißenden Zustände in der Wolgagegend, aber nichtsdestoweniger bleibt es wahr: Hätte man den Bauern die Aussaat in der rechten Zeit und nach ihrem eigenen Ermessen gestattet, dann wären wenigstens einige Distrikte in der Lage gewesen, den Hunger an der Wolga zu mildern.

Die Strafexpeditionen, die dem Widerstand eines Dorfes gegen die Agenten der Regierung, welche die Lebensmittel einsammelten, folgten, und die stets unter der Leitung von "Kommunisten" stattfanden, griffen die Bevölkerung mit Gewalt an und zerstörten oft das ganze Dorf. Vergeblich protestierten die Bauern bei ihren Lokalbehörden und endlich in Moskau selbst. In Rußland ist eine bezeichnende Anekdote im Umlauf, die ein helles Licht wirft auf die Ansicht der Bauern in Bezug auf die bolschewistische Methode, Lebensmittel "einzusammeln". Eine Bauerndeputation erscheint vor Lenin. "Nun, Großväterchen," wandte sich dieser an den Dorfältesten, "ihr solltet doch jetzt zufrieden sein. Ihr habt das Land, das Vieh, das Geflügel, kurz, ihr habt alles". - "So ist es, Väterchen, Gott sei gepriesen," antwortete der Bauer, "ja, das Land gehört mir, aber du nimmst mir das Korn, die Kuh gehört mir, aber du nimmst mir die Milch, die Hühner sind mein, aber du nimmst mir die Eier. Gott sei gepriesen, Väterchen."

Die Bauern, welche auf diese Weise beraubt und betrogen wurden, wandten sich gegen die Kommunisten. Die Raswjostka, die Strafexpeditionen mit allen ihren Ungerechtigkeiten, erzeugten im Lande ein starkes gegenrevolutionäres Empfinden. Einige Autoren, die über Rußland schrieben, haben die Erklärung angenommen, welche die Regierung über den Antagonismus der Bauern entwickelt hat. So sagt z.B. Bertrand Russell, der bei weitem ernsteste und ehrlichste Kritiker des heutigen Rußland, in seiner Schrift "Die Praxis und Theorie des Bolschewismus": "Man muß zugeben, daß die Gründe, welche die Bauern für ihre Antipathie gegen die Bolschewiki ins Feld führen, sehr unzulänglich sind." Bertrand Russell hat offensichtlich nie Gelegenheit gehabt, die Wirkungen der Raswjorstka kennen zu lernen, da er sonst einen anderen Eindruck gewonnen hätte. Tatsache ist, daß, wenn die russischen Bauern nicht so passiv und phlegmatisch wären, der bolschewistische Staat keinen langen Bestand gehabt hätte. Aber so wie die Dinge liegen, wäre das bolschewistische Regime fast an dem passiven Widerstand der Bauern zugrunde gegangen. Es war diese Erkenntnis - nicht die Tatsache, daß die Raswjorstka unmenschlich und konterrevolutionär ist - welche Lenin zu seiner neuen Steuerpolitik und zum freien Handel gezwungen hat.

Die russischen Genossenschaften waren eine große wirtschaftliche und kulturelle Kraft im Leben des Volkes. Im Jahre 1918 bedeckten sie das Land mit einem Netze von 25.000 Zweigorganisationen und hatten eine Mitgliederzahl von neun Millionen. Ihr angelegtes Kapital in jener Zeit betrug fünfzehn Millionen Rubel, und die Summe der abgeschlossenen Geschäfte im vorhergehenden Jahre betrug 200 Millionen Rubel. Gewiß, die Genossenschaften waren keine revolutionären Organisationen, aber als Verbindungsglied für die Beziehungen zwischen Stadt und Land waren sie unentbehrlich. Was immer für gegenrevolutionäre Elemente an der Spitze der Genossenschaften standen, konnten sie leicht ausgemerzt werden, ohne daß man deshalb die ganze Organisation zerstören mußte. Aber diesen Körperschaften ihre Tätigkeit gestatten, hätte doch als eine Beschränkung der zentralen Staatsgewalt erscheinen müssen. Aus diesem Grunde "liquidierte" man die Genossenschaften und zerstörte auf diese Weise vollständig einen großen Faktor für den Wiederaufbau Rußlands. Später aber, als diese Organisationen glücklich aus der Welt geschafft waren, während die Männer und Frauen, welche in dieser Bewegung eine so segensreiche Tätigkeit entfaltet hatten, ihr Leben in den Gefängnissen der Bolschewiki tatenlos verschwenden mußten, schlug sich Lenin abermals an die Brust und sagte sein Mea culpa.

Heute versucht man, die Genossenschaften wiederherzustellen und dem toten Körper wieder Leben einzuhauchen. Kurz vordem die Genossenschaften gesetzlich wieder anerkannt wurden, drückte Kropotkin, der damals auf dem Totenbette lag, den Wunsch aus, daß man die sechs Genossenschaftler von Dmitrow aus dem Gefängnis entlassen sollte. Er kannte diese Männer als ernste und ihren Ideen ergebene Arbeiter. Sie schmachteten damals schon achtzehn Monate im Butyrkigefängnis, weil sie treu zu ihrem Werke standen. Aber erst nachdem Lenin erklärt hatte, daß man die Genossenschaften wieder ins Leben rufen müsse, wurden sie entlassen. Es ist schwer zu glauben, daß die Genossenschaften im bolschewistischen Staate jemals wieder die Kraft und Bedeutung erlangen werden, die ihnen vor ihrer Vernichtung innewohnte.

Die Sowjets. Das heutige Rußland als Sowjets Rußland zu bezeichnen, oder den bolschewistischen Staat eine Sowjetregierung zu nennen, ist lächerlich. Die Sowjets hatten ihren Ursprung in der Revolution von 1905 und traten nach der Februar-Revolution abermals in Erscheinung. Sie haben mit der bolschewistischen Regierung ebensoviel Verwandtschaft wie die urchristliche Bewegung mit der christlichen Kirche. Die Räte der Bauern, Arbeiter, Soldaten und Matrosen waren das spontane Ergebnis der befreiten Kräfte des russischen Volkes. Sie entsprachen den Bedürfnissen der Massen, die nun endlich, nach jahrhundertelanger Unterdrückung ihren öffentlichen Ausdruck fanden. Bereits im Mai, Juni und Juli 1917 drängte die dynamische Kraft der Sowjets die Arbeiter und Bauern zur Besitzergreifung der Fabriken und des Grund und Bodens. Die Sowjets verbreiteten sich mit großer Schnelligkeit über ganz Rußland, entfachten die Flammen der Oktober-Revolution und setzten ihre Tätigkeit viele Monate nach diesem Ereignis weiter fort. Manche sozialistische Politiker erkannten nicht die Bedeutung der Sowjets und wurden von diesen hinweggeschwemmt. Dasselbe wäre der Fall gewesen mit den Bolschewiki, wenn sie versucht hätten, sich der anschwellenden Flut dieser Bewegung entgegenzustemmen. Doch Lenin ist ein schlauer und listiger Jesuit, und so machte er den allgemeinen Schrei des Volkes: "Alle Macht den Räten!" zu seinem eigenen Motto. Erst als er und seine jesuitischen Gefolgsleute sich fest im Sattel fühlten, begann die Abtragung der Sowjets. Heute sind sie, wie alle anderen Dinge in Rußland, nur noch ein Schattengebilde, dessen körperliche Substanz entschwunden ist.

Die Sowjets bringen heute bloß noch die Entscheidungen der Kommunistischen Partei zum Ausdruck. Keine andere politische Meinung hat die Möglichkeit, gehört zu werden. Die Wahlmethoden der Kommunisten müßten sogar den Neid von Tammany Hall erwecken. Bald nach meiner Ankunft in Rußland sagte mir ein führender Kommunist: "Meister Murphy und Tammany Hall können uns nicht an den Wimpern klimpern." Natürlich dachte ich, der Mann scherze.

Allein ich überzeugte mich sehr bald, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. Jeder erdenkliche Kunstgriff wird von den Bolschewiki in Anwendung gebracht, um die kommunistischen Stimmen anschwellen zu lassen. Falls die gewöhnlichen Methoden nicht verfangen wollen, droht man mit der Entziehung der Rationen und mit Verhaftung. Die Tscheka ist wie das Schicksal allgegenwärtig, und die Wähler wissen, was ihrer harrt. Es ist darum leicht zu verstehen, warum die Kommunisten bei jeder Wahl unwiderruflich eine Majorität zusammenbringen. Trotzdem kommt es von Zeit zu Zeit vor, daß auch Menschewisten, Linke Sozialisten, Revolutionäre und sogar Anarchisten einen Vertreter durchbringen, was keine Kleinigkeit ist im bolschewistischen Rußland. Ohne Presse, ohne freie Rede  und ohne die gesetzÜche Erlaubnis der Propaganda in den Fabriken grenzt es geradezu an ein Wunder, wenn es den Oppositionsparteien gelingt, einige Vertreter in die Sowjets zu wählen. Aber die Möglichkeit, sich dort Gehör zu verschaffen, ist überhaupt nicht gegeben. Die kommunistischen Claqueure (gedungenen Beifallklatscher) sorgen schon dafür, daß außer Kommunisten kein anderer gehört wird.

Wenn hie und da ein Anarchist in den Sowjet gewählt wird, so weigert sich die Regierung gewöhnlich, das Mandat anzuerkennen, oder man findet irgendeinen Vorwand, die Tscheka gegen den Erwählten einschreiten zu lassen. 1920 wohnte ich einer Wahlversammlung in einem der Fabrikklubs in Moskau bei. Es war das zweite Mal, daß die Regierung dem Kandidat der Arbeiter, einem Anarchisten, seinen Sitz verweigert hatte. Obwohl man ihm als Gegenkandidat Semaschko, den Kommissar für öffentliche Gesundheitspflege, gegenüberstellte, wählten die Arbeiter zum dritten Mal den Anarchisten. Vergeblich bemühte sich Semaschko, seinen Gegner persönlich zu verunglimpfen und zu mißkreditieren, vergebens drohte er den Wählern mit der Faust und sprach den Bann aus über sie. Die Arbeiter lachten ihn aus, schrien ironisch Bravo und wählten den Anarchisten zum dritten Mal. Einige Monate später verhaftete man ihn unter irgendeinem Vorwand. Erst nach einem langen Hungerstreik wurde er wieder entlassen, und zwar geschah dies ausschließlich, weil die Britische Arbeitermission zu jener Zeit in Moskau weilte und die Bolschewiki einen Skandal vermeiden wollten. Kurz bevor ich Moskau am 1. Dezember 1921 verlassen habe, wurden drei Anarchisten, Mitglieder des Moskauer Sowjets, verhaftet. Einen von ihnen verbannte man von der Hauptstadt, gegen die beiden anderen hat man, wie ich später erfahren habe, Anklage wegen "Banditismus und unterirdischer Tätigkeit" erhoben, eine sehr schwere Anklage, die gewöhnlich mit Erschießen ohne Verhör oder Prozeß geahndet wird. Diese Männer waren zu freimütig im Sowjet aufgetreten; deshalb mußten sie "entfernt" werden. Es ist also leicht zu ersehen, daß weder der Moskauer Sowjet, noch irgendein anderer Sowjet in Rußland ein Selbstbestimmungsrecht oder Unabhängigkeit in ihren Funktionen besitzen. Sogar ein gewöhnliches Mitglied der Kommunistischen Partei hat dort keine besonders großen Möglichkeiten, seiner Meinung Ausdruck zu geben. In den Sowjets sowohl als in der ganzen bolschewistischen Regierung befindet sich die "Diktatur des Proletariats" in den Händen einer sehr kleinen Gruppe - es ist dies der innere Kreis, der allein Rußland und das russische Volk beherrscht.

Was einst ein Ideal war - der freie Meinungsaustausch der Arbeiter, Bauern und Soldaten - , wurde zur gewöhnlichen Komödie, die das Volk nicht begehrt, und zu der es jeden Glauben verloren hat.

Die Mobilisation der Arbeit, die in der Wirklichkeit Arbeitszwang ist, wurde der Welt als der wichtigste Bestandteil des kommunistischen Systems gepriesen. "Alle müssen heute in Sowjet-Rußland arbeiten. Es gibt keine Parasiten mehr." Obzwar Lenin niemals öffentlich zugegeben hat, daß diese Methode wie so viele andere ähnlichen Experimente, die man dekretiert hatte, um Rußland wieder aufzubauen, ein Irrtum gewesen ist, glaube ich trotzdem, annehmen zu dürfen, daß er sich vollständig darüber klar geworden ist, daß die Zwangsarbeit absolut nichts ausgerichtet hat, um die Produktion der Arbeiter ergiebiger zu gestalten. Während ihrer Existenz war sie bloß im Stande, eine allgemeine Herdensklaverei zu errichten und den bürgerlichen Schmarotzer durch den Apparat des bolschewistischen Schmarotzertums zu ersetzen.

Ihre Aufgabe war, die Arbeiter zur Arbeit anzutreiben, sie bei ihrer Beschäftigung zu beaufsichtigen, sie zu verhaften und gelegentlich sogar zu erschießen, wenn sie ihre Arbeit ohne Erlaubnis verlassen hatten. Die große Mehrheit der Arbeiter ging auch in die Betriebe, aber nicht um zu arbeiten, sondern um dort müßig herumzulungern, und um unter der Hand einige Artikel herzustellen, die ihre Frauen und Kinder auf dem Land für Mehl und Kartoffeln austauschen konnten. Es war dies der einzige Weg für sie, um nicht verhungern zu müssen.

Über die Möglichkeit, etwas vom Lande in die Stadt zu bringen, könnte man allein ein ganzes Buch füllen. Zusammen mit dem Verbot des Handels wurde die Sagrjaditelni otrjad eingeführt, das heißt Abteilungen von Soldaten und Tschekisten, die auf jeder Eisenbahnstation postiert waren, um alles zu konfiszieren, was von Privatpersonen nach der Stadt gebracht wurde. Die unglücklichen armen Teufel, die sich endlich unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten eine Reiseerlaubnis verschafft hatten, die Tage und Wochen auf den Stationen geduldig ausharren mußten, bis sich ihnen eine Fahrgelegenheit bot, und die endlich nach einer schauerlichen Reise in schmutzigen und überfüllten Wagen oder auf den Dächern und Trittbrettern derselben glücklich ein Pud Mehl oder Kartoffeln ergattert hatten, mußten es ruhig über sich era gehen lassen, wenn ihnen am Endziel ihrer Reise alles von der Otrjad abgenommen wurde. In den meisten Fällen verteilten die Verteidiger des kommunistischen Staates die konfiszierten Dinge unter sich. Die armen Opfer durften sich noch glücklich schätzen, wenn ihnen aus der ganzen Geschichte keine weiteren Unannehmlichkeiten entstanden, denn sehr oft beraubte man sie nicht nur ihrer kostbaren Bürde, sondern warf sie auch außerdem noch wegen "Spekulation" ins Gefängnis. Die Zahl der wirklichen Spekulanten, die verhaftet wurden, war unbedeutend im Vergleich mit den Scharen unglücklicher Menschenkinder, welche die Gefängnisse Rußlands füllten, weil sie versucht hatten, sich vom Hungertode zu retten.

Eines muß man den Bolschewiki lassen - sie machen keine halbe Arbeit. Sobald die Zwangsarbeit Gesetz geworden war, wurde sie unbarmherzig zur Ausführung gebracht. Männer und Frauen, jung und alt, alle dünn bekleidet, in zerrissenen Schuhen oder die Füße in schmutzige Lappen gewickelt, wurden unterschiedslos in Frost und Schnee hinausgetrieben, um Schnee zu schaufeln oder Eis zu brechen. Manchmal sandte man sie in Gruppen in die Wälder, um Holz zu schlagen. Rippenfellentzündung, Schwindsucht und Lungenentzündung waren das Ergebnis. Erst nach diesen Resultaten schufen die Weisen im Kreml ein neues Ressort für die Verteilung der Arbeit. Dieses Ressort entschied über die körperliche Befähigung der Arbeiter und klassifizierte und verteilte sie ihren Berufen gemäß.

Man darf sich nicht wundern, wenn unter solchen versklavenden und menschenunwürdigen Bedingungen die Menschen sich der Arbeit zu entziehen suchten, da ihnen die Methoden, wie sie dazu getrieben wurden, in der Seele verhaßt waren. Die Menschen fingen an, in dem kommunistischen Staat den Blutegel zu sehen, der ihnen die Lebenskraft aus den Adern saugt. War es ein Wunder, daß selbst die Arbeiter von Petrograd, die revolutionärsten in ganz Rußland, die den ganzen Anprall des langen Kampfes zu bestehen hatten, die so heroisch die Stadt gegen die Horden Judenitschs verteidigten und die Ungeheuerliches durch den Hunger und die Kälte zu leiden hatten, war es ein Wunder, daß selbst sie die falschen Revolutionäre und alles was mit ihnen verbunden war, zu verabscheuen anfingen? Nicht ihr Fehler war es, es war die grausame bolschewistische Staatsmaschine, die ihre Ideale und ihren Glauben untergraben hat. Sie war es, die in den Massen ein gegenrevolutionäres Empfinden erzeugt hat, das nur sehr langsam zu überwinden sein wird.

Eine gewisse Szene wird mir stets unvergeßlich bleiben, die in einer Versammlung des Petrograder Sowjets ihren Ausdruck fand. Es war in jener Nacht, als das Schicksal von Kronstadt entschieden werden sollte. Nach den langen Reden der kommunistischen Führer forderten einige Arbeiter und Matrosen das Wort. Ein Arsenalarbeiter sprach. Sein Gesicht war dem Vorsitzenden, nicht der Zuhörerschaft zugewendet. Seine Stimme zitterte vor innerer Erregung, seine Augen blitzten und seine ganze Gestalt bebte. Er sprach zu Sinowjew, dem Vorsitzenden des Petrograder Sowjets: - "Vor drei und einem halben Jahr wurden Sie als deutscher Spion, als Verräter an der Revolution gebrandmarkt und von den Schergen gehetzt und verfolgt. Wir, die Arbeiter und Matrosen von Petrograd, haben Sie gerettet, kämpften für Sie, bluteten für Sie und stellten Sie endlich an den Platz, den Sie heute einnehmen. Wir taten dies, da wir glaubten, daß Sie den Wünschen des Volkes Ausdruck geben würden. Von da ab haben Sie und Ihre Regierung sich von uns entfernt. Und nun schleudern Sie uns Beleidigungen ins Gesicht und besitzen die Stirn, uns als Gegenrevolutionnäre zu verschreien. Sie werfen uns ins Gefängnis und erschießen uns, weil wir von ihnen die Einlösung der Versprechen, die Sie uns in der Oktober-Revolution gegeben haben, fordern."

Ich weiß nicht, was aus dem Mann geworden ist. Vielleicht brachte ihn seine Kühnheit ins Gefängnis, vielleicht ins Grab. Sein Aufschrei fand nur taube Ohren. Und doch war es der Aufschrei einer Seele, die mit dem Tode rang, der Aufschrei der ganzen russischen Volksseele, die während der Revolution einen so außergewöhnlichen Grad der Begeisterung erstrebte und erreichte, und welche der bolschewistische Staat nun in Ketten geschlagen hat.

Die Tscheka, die Allrussische Außergewöhnliche Kommission, ist zweifellos die dunkelste Institution des bolschewistischen Regimes. Sie wurde bald nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki ins Leben gerufen, um die Gegenrevolution, die Sabotage und die Spekulation zu bekämpfen. Anfangs wurde die Tscheka durch das Kommissariat des Innern, die Sowjets und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei kontrolliert. Nach und nach aber entwickelte sie sich als die mächtigste Organisation in ganz Rußland. Die Tscheka ist heute nicht mehr ein Staat im Staate, sondern ein Staat über dem Staate. Ganz Rußland, bis zu den entlegensten Dörfern, ist mit einem Netze von Tschekas bedeckt. Jede Abteilung des ausgebreiteten bürokratischen Systems hat ihre außergewöhnliche Kommision, deren Allmacht über Leben und Tod des russischen Volkes entscheidet. Man müßte die Feder eines Dante besitzen, um der Welt die Hölle, die durch diese Organisation geschaffen wurde, in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit vor Augen führen zu können: die verrohende, charakterzersetzende Wirkung, die sie auf ihre eignen Werkzeuge ausübt, den Schrecken, das Mißtrauen, den Haß, die Leiden und Todesqualen, die sie über Rußland gebracht hat.

Der Kopf der Allrussischen Außergewöhnlichen Kommission ist Dserschinsky. Er, zusammen mit den Mitgliedern seines Präsidiums, sind "erprobte" Kommunisten. In einem öffentlichen Bericht erklärte Dserschinsky: "Wir sind die Vertreter des organisierten Schreckens. Wir terrorisieren die Feinde der Sowjetregierung. Wir haben die Macht, Haussuchungen vorzunehmen, Gegenstände und Kapitalien zu konfiszieren, Verhaftungen anzuordnen. Untersuchungen einzuleiten, diejenigen, die wir als schuldig erachten, zu prozessieren und zu verurteilen und die Todesstrafe auszusprechen." - Mit anderen Worten - die Tscheka ist Spion, Polizist, Richter, Kerkermeister und Henker in einer Person. Sie ist die höchste Macht, gegen die es keinen Einspruch gibt und der nur selten einer entschlüpft. Sie nimmt ihre Aktionen fast stets bei Nacht vor. Das plötzliche Aufflammen einer Lichtflut in einem Distrikt, der Lärm der mit wahnsinniger Schnelligkeit fahrenden Automobile der Tscheka sind die Signale, um die Bevölkerung zu alarmieren und in Schrecken zu versetzen. Die Tscheka ist wieder an der Arbeit. Wer sind die Unglücklichen, die man diese Nacht verhaftet hat? Wer wird der nächste sein? Die Tscheka wurde ins Leben gerufen, um die Gegenrevolution zu bekämpfen, allein auf jede wirkliche Verschwörung, die sie entdeckt hat, kommen neue, imaginärer Scheinnatur, oder die sie selbst angezettelt hat. Man darf nie vergessen, daß der wichtigste Bestandteil der Tscheka ihre Spitzel und Provokateure sind. Wie die Typhusplage, so vergiften sie die ganze Atmosphäre Rußlands. Sie schrecken vor keinem Mittel zurück, wie infam und grausam es immer sein möge, um ihr Opfer zu umstricken und dieselben als gefährliche Gegenrevolutionäre und Spekulanten zu verurteilen. In der Wirklichkeit aber ist die Tscheka selbst ein wahres Treibhaus für gegenrevolutionäre Anschläge und fabelhafte Spekulationen.

Jeder Kommunist ist durch die Disziplin seiner Partei verpflichtet, zu jeder Zeit in der Tscheka Dienste zu tun. Die Mehrheit der Tschekisten jedoch sind gewesene Mitglieder der alten zarischen Ochrana, der Schwarzen Hundert und frühere hohe Offiziere der Armee. Sie sind die Eingeweihten in der Anwendung barbarischer Methoden. Die westlichen Länder wurden gespeist mit glänzenden Berichten über die Volkstribunale in Rußland, an deren Spitze Arbeiter und Bauern figurieren sollten. Im Bereiche der Tscheka sind solche Gerichtshöfe unbekannt. Die Verhandlungen sind geheim. Die sogenannten Verhöre, wenn solche überhaupt stattfinden, sind eine groteske Entstellung jeder Gerechtigkeit. Der "Angeklagte" steht vorher fabrizierten Beweisen gegenüber, er hat keine Zeugen, noch ist ihm eine Verteidigung gestattet. Wenn man ihn hinaus aus der Schreckenskammer führt, weiß er nicht, ob er entlassen oder verurteilt ist. Er befindet sich die ganze Zeit in einer nervenzerrüttenden Ungewißheit, bis man ihn in einer Nacht abholt und nicht wieder zurückbringt. Am anderen Morgen holt ein Tschekist seine paar Habseligkeiten ab, und die übrigen Gefangenen wissen dann, daß die endlose Serie von kaltblütigen Ermordungen um einen neuen Mord bereichert wurde.

Und die Verwandten und Freunde der Unglücklichen? Sie stehen Tag nach Tag und Woche nach Woche in Reihen geordnet in der Ljubianka, der Straße, wo die furchtbare Tscheka ihren Sitz hat, und warten ungeduldig auf ein Wort ihres Angehörigen, bis man ihnen endlich mitteilt, daß der Betreffende in der vorhergehenden Nacht erschossen wurde. So fügt man der Tragödie und dem Schmerz der Leidtragenden noch die Beleidigung hinzu.

Wie die alte Ochrana des Zarismus, so hält auch die bolschewistische Ochrana das Publikum über ihre Schandtaten im Dunkeln. Doch die Wahrheit wird eines Tages ans Licht kommen. Ein ziemlich bedeutendes gedrucktes Material über die Schreckenstaten hinter den Mauern der Tscheka - die brutalen Folterungen, die Bestechungen und die weitverbreitete Spekulation - ist heute schon vorhanden. Um sich über diese Dinge zu unterrichten, ist es gar nicht nötig, bei den Gegnern der Bolschewiki vorzusprechen. Die Tscheka selbst versorgt uns gelegentlich mit solchem Material. So findet sich z.B. in Nummer 3 des wöchentlichen Organs der Tscheka ein Artikel, der die Notwendigkeit der Folter vertritt. Dieser Artikel, der die Aufschrift "Genug Sentimentalität" trägt, sagt unter anderem wörtlich: "Im Vorgehen gegen die Feinde Sowjet-Rußlands ist es notwendig, die Tortur in Anwendung zu bringen, um Geständnisse aus ihnen herauszupressen und sie nachdem in eine andere Welt zu befördern." - Der Leser darf sich keinesvegs einbilden, daß die Tscheka seit 1918 progressiver geworden ist. Vergangenen Sommer, als das angebliche Komplott des Professor Tagantseff in Petrograd entdeckt wurde, schlug man die Gefangenen, folterte sie, indem man ihnen nichts zu trinken gab und brachte andere ähnliche eminent "revolutionäre" Mittel gegen sie zur Anwendung. Ich habe diese Informationen nicht etwa von Gegenrevolutionären, sondern verdanke sie einem sehr aufrichtigen Kommunisten, der sich unter den Verhafteten befand und Zeuge der Erfolge der tschekistischen Methoden war.

Ein Kommunist unter verhafteten Gegenrevolutionären? Wie ist das möglich? Sehr einfach. Wenn die Tscheka ihr Netz auswirft, fängt sie die Unschuldigen zusammen mit den Schuldigen, in der Tat meistenteils die Unschuldigen. Denn wie z.B. können 68 Personen an einer Verschwörung beteiligt sein, ohne daß die ganze Stadt darum wissen sollte? Und doch wurden 68 Personen letzten Sommer in Petrograd erschossen, in Verbindung mit dem Tagantsewschen "Komplott". Und dies war bloß ein geringer Prozentsatz der unschuldigen Männer, Frauen und sogar Minderjährigen, die in den unterirdischen Räumen der Tscheka zu Tode befördert wurden.

Wiederholt stellte man an die Regierung die Forderung, die Macht dieser furchtbaren Organisation einzudämmen. Ein solcher Versuch wurde im Herbst 1920 gemacht. Aber sofort mehrten sich die Verbrechen in Moskau, und die "Verschwörungen" wurden häufiger. Die Tscheka mußte natürlich beweisen, daß sie dem bolschewistischen Staate unentbehrlich war. Daraufhin sprach man Dserschinsky eine öffentliche Dankerklärung aus und veröffentlichte dieselbe in der "Prawda".

In einer der Sitzungen des Petrograder Sowjets erklärte Sinowjew Dserschinsky für "einen Heiligen, der sich der Revolution geweiht habe". Die Geschichte des schwärzesten Mittelalters ist voll von solchen Märtyrern. Wie furchtbar, daß die Bolschewiki die dunkelste Vergangenheit der menschlichen Geschichte nachahmen mußten.

Bei dieser Gelegenheit ist es interessant, sich der Stellung zu erinnern, welche die Bolschewiki im Jahre 1917 eingenommen haben, als die Provisorische Regierung den Versuch machte, die Todesstrafe für Deserteure einzuführen. Zu jener Zeit protestierten die Bolschewiki auf das heftigste gegen solche Brutalität. Sie führten aus, wie barbarisch und degradierend für die Menschheit die Todesstrafe ist. Auf dem zweiten Allrussischen Kongreß der Sowjets, kurz nach der Oktober-Revolution, stimmten die Bolschewiki, zusammen mit anderen revolutionären Elementen, für die Abschaffung derselben. Heute aber sind die Razstrels (Erschießungen) die beliebteste Methode der Tscheka, eine Methode, über die ein kommunistischer Heiliger zu verfügen hat und die vom kommunistischen Staate sanktioniert werden.

Was wird aus dem Marxismus, der da predigt, daß die soziale Revolution der Geburtsakt eines neuen gesellschaftlichen Lebens ist? Ist in den bolschewistischen Prinzipien und Methoden, wie sie in Rußland zur Anwendung gelangen, irgend ein Anzeichen dafür vorhanden? Der bolschewistische Staat hat den Beweis erbracht, daß er für die russische Revolution eine Verschwörung von vernichtender Bedeutung gewesen ist und noch ist.

Die Gewerkschaften in Rußland

Die vielgepriesenen Errungenschaften der Bolschewiki auf dem Gebiete des Gewerkschaftswesens erinnern mich an die Worte der Frau Alving in Ibsens Gespenster: "Nur an einem einzigen Knoten wollte ich zupfen; als ich den aber auf hatte, da gab die ganze Geschichte nach. Und da merkte ich, daß es nur Maschinennaht war."

Unter den Dingen, die dem neuen Ankömmling in Rußland besonders auffallen, stehen die Gewerkschaften an erster Stelle. Man denke nur: sieben Millionen Arbeiter organisiert in einer gewaltigen Körperschaft mit herrlichen Arbeitsstempeln, eigenen Lehrgängen, Versammlungen und Konzerten. Welch anderes Land hat solche Dinge aufzuweisen? Man ist einfach überwältigt. Aber sobald man anfängt, an einem einzigen Knoten zu zupfen, geht die ganze Naht auf, und man bemerkt plötzlich, daß die Gewerkschaften, mehr noch wie jede andere bolschewistische Institution, Maschinennaht sind, von der kommunistischen Staatsmaschine angefertigt.

In der Tat ist es eine ganz irreführende Auffassung, unter dem bolschewistischen Regime überhaupt von Gewerkschaften zu reden. Die Gewerkschaft verkörpert einen bestimmten historischen Begriff; wenigstens ist dies bei den Arbeitern, die jenseits der Grenzen des bolschewistischen Rußlands leben, der Fall. Sogar in ihrem konservativen Sinne repräsentieren sie die Kampfarena der organisierten Arbeit für wirtschaftliche Verbesserungen, im revolutionären Sinne sind die Gewerkschaften oder, besser gesagt, die industriellen und syndikalistischen Verbände, die wirtschaftliche Erziehungsschule für die kämpfenden Massen, um der Ausbeutung ein Ende zu bereiten, und in einer befreiten Gesellschaft die Verwaltung der Produktion in die Hände der Arbeiter selbst zu legen.

In Rußland jedoch vertreten die Gewerkschaften weder im konservativen und noch weniger im revolutionären Sinne die Bedürfnisse der Arbeiter. Sie sind dort nicht mehr wie das untergeordnete und militaristisch ausgebildete Werkzeug des bolschewistischen Staates. Die "Schule des Kommunismus", wie Lenins These über die Aufgabe der Gewerkschaften lautet. Aber sie sind sogar das nicht. Eine Schule setzt den freien Meinungsausdruck und die Initiative des Schülers voraus, während die Gewerkschaften in Rußland bloß militarische Kasernen für mobilisierte Arbeiterarmeen sind, denen jeder auf Kommando des Staates beizutreten gezwungen ist.

Die russischen Gewerkschaften, obzwar noch sehr jung (sie datieren von 1905 an), waren sehr kämpffreudige Organisationen. Sie mußten es sein, um den grausamen Verfolgungen unter dem zarischen Regime widerstehen zu können. Obwohl sie meistenteils eine unterirdische Existenz führen mußten, waren sie nichtsdestoweniger ein wichtiger Faktor in den Kämpfen der russischen Arbeiterschaft. Diese Tatsache bekundete sich in machtvoller Weise gleich nach dem Ausbruch der Februar-Revolution.

Die Gewerkschaften, durchdrungen von dem neuen Geiste, der über Rußland gekommen war, gaben sich nicht mit ausschließlich politischen Veränderungen zufrieden. Ihr Ziel war, die Arbeiter in den Besitz der ganzen wirtschaftlichen Struktur des Landes zu setzen. Noch ehe die Arbeiter zur Expropriation der Betriebe schritten, hatten die Gewerkschaften bereits ihre Betriebsräte organisiert, um das industrielle Leben des Gemeinwesens zu kontrollieren. Aus diesen Betriebsräten entwickelte sich später der Allrussische Gewerkschaftssowjet, der im engsten Zusammenhang mit allen anderen Sowjets seine Tätigkeit ausübte. Mit anderen Worten, die Gewerkschaften waren noch vor der Etablierung des bolschewistischen Regimes der organisierte Ausdruck der Forderungen und Bestrebungen der Arbeiterschaft. So waren auf dem dritten Kongreß der russischen Gewerkschaften im Juli 1917 bereits 210 Delegierte anwesend, die zusammen eine Mitgliedschaft von 1.475.425 vertraten.

Der Anbruch der Diktatur des Proletariats machte sich bald in den Gewerkschaften bemerkbar. Die Zugehörigkeit zu den Arbeiterorganisationen wurde obligatorisch. Jeder, der arbeitete, wurde automatisch in die Mitgliedsliste der Gewerkschaft eingetragen und mußte für das Vergnügen bezahlen, ob es ihm angenehm war oder nicht. Die drei Prozent für die Beiträge wurden ihm einfach vom Lohne abgezogen, so daß der russische Arbeiter gezwungen war, dieselben Organisationen aushalten zu müssen, die jedes Symptom von Initiative und Selbstbestimmung in den Gewerkschaften erdrosselt hatten.

Der Allrussische Gewerkschaftssowjet besteht aus 120 Mitgliedern. Sein Zentrales Exekutivkomitee umfaßt elf Mitglieder, tatsächlich können nur Kommunisten in diese Körperschaften gewählt werden. Die Folge war, daß die Gewerkschaften einfache Abteilungen der Staatsmaschine geworden sind, deren ganze Taktik und Tätigkeit von dieser vollständig kontrolliert und geleitet werden. Das Durchschnittsmitglied hat in Bezug auf die Tätigkeit seiner Gewerkschaft überhaupt nichts zu sagen, noch gibt es regelmäßige Gewerkschaftsversammlungen im westeuropäischen Sinne, ausgenommen solche, die von der bolschewistischen Fraktion in jeder Gewerkschaft vollständig beherrscht und geführt werden.

Wagt es irgendeine Gewerkschaft, eine wirkliche gewerkschaftliche Tätigkeit ausüben zu wollen, so gibt man ihr bald zu verstehen, daß was immer die Gewerkschaften in Europa und Amerika tun, dieselben im kommunistischen Staate sich dem Gesetz zu unterwerfen und im übrigen den Mund zu halten hätten.

Dafür ein Beispiel: Die Bäcker Moskaus, die in einer großen und kampflustigen Gewerkschaft vereinigt sind, gingen im Sommer 1920 in den Streik, um eine Erhöhung ihrer Brotration zu erwirken. Die Regierung kümmerte sich nicht viel um die Sache. Die Ortsgruppe wurde aufgelöst, die Führer ausgeschlossen und die aktivsten Mitglieder verhaftet. Den einflußreicheren Wortführern der Streikenden verbot man, an irgendeiner Gewerkschaftsversammlung teilzunehmen und beraubte sie des Rechts, einen Posten zu bekleiden. Eine ähnliche Methode befolgten die Bolschewiki bei verschiedenen anderen Streiks. Ein interessanter Zwischenfall dieser Art fand in Moskau anläßlich der Differenzen mit den Buchdruckern statt. In diesem Falle handelte es sich sogar um keinen Streik. Die  Buchdrucker waren "unverschämt" genug, eine Versammlung einzuberufen, zu der man Mitglieder der englischen Arbeitervertreter eingeladen hatte, die zu jener Zeit in Moskau weilten. In dieser Versammlung traten Tschemow, der Führer der Partei der Sozialrevolutionäre, und Dan, ein prominenter Menschewist, auf und begingen die unverzeihliche Sünde, den britischen Delegierten einiges über die russischen Gewerkschafts- und Arbeitsverhältnisse mitzuteilen. Bald darauf wurden sämtliche Angestellte der Buchdruckergewerkschaft entlassen und einige von ihnen ins Gefängnis gesteckt. Im ganzen Lande und in allen offiziellen Organen wurden die Moskauer Buchdrucker als Konterrevolutionäre, Verräter und "Schinder" verschrien, um das übrige Proletariat des Landes dadurch in Furcht und Schrecken zu jagen.

So absolut und zermalmend ist die Tyrannei über die Gewerkschaften, daß der geringste Protest als ein Bruch der Arbeitsdisziplin und als Verbrechen gegen die Revolution denunziert wird. Als während des Petrograder Streiks im Februar 1921 die Arbeiter der Baltischen Betriebe gegen die Verhaftung von 22 ihrer Kameraden protestierten, erklärte ihnen Antselowitsch, der Vorsitzende der Petrograder Gewerkschaften, daß sie verdienten, alle der Tscheka übergeben zu werden. Einige Tage später fand in den erwähnten Betrieben eine Haussuchung statt, wobei zahlreiche Arbeiter verhaftet wurden.

Kurz gesagt, die Gewerkschaften im bolschewistischen Rußland sind gänzlich vom Staate aufgesaugt worden, und ihre ganze Aufgabe erschöpft sich darin, für den Staat Polizeidienste zu leisten.

Natürlich konnte ein solcher Zustand nicht lange anhalten, ohne bei den Arbeitern bitterste Unzufriedenheit hervorzurufen. In der Tat nahm die Unzufriedenheit 1920 einen so allgemeinen und bedrohlichen Charakter an, daß die Regierung gezwungen war, die Lage ernsthaft zu betrachten. Der Streit über die Aufgabe der Gewerkschaften wurde Ende 1920 aufgenommen, und es stellte sich bald heraus, daß selbst innerhalb der Kommunistischen Partei die widersprechendsten Ansichten über diese so wichtige Frage vorhanden waren. Alle kommunistischen Führer nahmen Anteil in dieser heißen Debatte, die über das Schicksal der Gewerkschaften entscheiden sollte. Die Thesen, die man aufstellte, vertraten vier Hauptrichtlinien.

Da war zunächst die Fraktion Lenin/Sinowjew, die den Standpunkt vertrat, "daß die Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats nur eine Aufgabe hätten, nämlich die, als Schulen des Kommunismus zu dienen".

Die zweite Richtung wurde von Rjäsanoff und seinen Anhängern vertreten, die der Meinung waren, daß die Gewerkschaft ihre Aufgabe als Forum und wirtschaftlicher Beschützer der Arbeiter fortsetzen müsse.

Die dritte Richtung war die von Trotzki, dem militärischen Genius, der nur noch in militärischen Formen denken kann. Er vertrat den Standpunkt, daß die Gewerkschaften sich mit der Zeit als die Verwalter und Kontrolleure der Industrie entwickeln würden, daß aber heute die Gewerkschaftsverwaltung nach militärischen Methoden ernannt werden müßte.

Die letzte und wichtigste Richtung war die "Arbeiteropposition", die von Frau Kollantaj und Schlappnikow geführt wurde, und die die wirkliche Meinung der Arbeiter vertritt und von ihnen unterstützt wird.

Diese Opposition besteht darauf, daß die Militarisierung der Gewerkschaften das Interesse der Arbeiter an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes erstickt und ihre produktiven Fähigkeiten gelähmt hat. Sie fordert die Befreiung der Massen vom Joche des bürokratischen Staates und seinem korrupten Beamtentum und die Möglichkeit für die schöpferische Betätigung der Volkskräfte.

Die Arbeiteropposition führte aus, daß die Oktober-Revolution gemacht wurde, um den Massen die Möglichkeit zu geben, die Kontrolle des gesamten industriellen Lebens in ihre Hände zu nehmen. Mit einem Wort, die Arbeiteropposition ist das Sprachrohr des Protestes und der allgemeinen Unzufriedenheit, die sich in den Reihen des aktiven Teils der russischen Arbeiterschaft angehäuft haben.

Ein Hauptkampf fand zwischen Trotzki und Sinowjew statt, die sich gegenseitig in separaten Sonderzügen im Lande herum nachjagten, um einer den anderen zu widerlegen. In Petrograd z.B. war Sinowjews Einfluß so mächtig, daß ein großer Kampf nötig war, ehe man Trotzki gestattete, seine Ansichten über die strittige Frage vor der dortigen kommunistischen Ortsgruppe zu entwickeln.

Der Streit erzeugte viel böses Blut und hätte bald zu einem Bruch in der Kommunistischen Partei geführt. Allein Gott hat Lenin ins Herz geschlossen. Jedesmal, wenn das Gebäude, das er errichtet hat, zu wanken anfängt, schickt ihm der Herr eine Stütze. Die großen Arbeiterunruhen, die zahlreichen Streiks in Petrograd im Februar 1921 und der Aufstand in Kronstadt mußten diesmal als Stütze herhalten. Die kommunistische Einheit mußte erhalten werden um jeden Preis. Und so nahm Väterchen seine ungebärdigen Kinder eines nach dem anderen beim Ohr und brachte ihnen Manieren bei.

Lenin klagte die Arbeiteropposition des Anarchosyndikalismus und kleinbürgerlicher Ideengänge an und dekretierte ihre Unterdrückung. Schlapnikow, einer der einflußreichsten Führer der Opposition, wurde von Lenin als ein "verärgerter Kommissar" hingestellt und bald zum Schweigen gebracht, indem man ihn zum Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei beförderte.

Frau Kollantaj forderte man auf, ihre Zunge im Zaum zu halten, anderenfalls man sie aus der Partei ausschließen würde. Ihre Broschüre, die den Standpunkt der Opposition zum Ausdruck brachte, wurde unterdrückt.

Einigen kleineren Lichtern der Arbeiteropposition gab man Ferien bei der Tscheka, und sogar ein so alter und erprobter Kommunist wie Rjäsanow wurde sechs Monate lang von jeder gewerkschaftlichen Tätigkeit suspendiert. Was Trotzki anbetrifft, den Lenin dem Spotte der Partei preisgab, indem er ihn als "Ignoramus (vollständig Unwissenden) in den Grundprinzipien des Marxismus" hinstellte, so schickte man ihn gegen Kronstadt, um dort den "Frieden von Warschau" herzustellen. Lenin und sein Saint Just Sinowjeff errangen den Sieg, und die Gewerkschaften blieben auch fernerhin "die Schule des Konmiunismus".

Die neue Wirtschaftpolitik formt rasch die ganze Struktur Rußlands um, und die Gewerkschaften waren mit die ersten, welche die Wirkungen dieser Umformung zu fühlen bekamen. In einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, die im Dezember 1921 in Moskau stattfand, sprach man auch über die Betätigung der Gewerkschaften unter der neuen Wirtschaftspolitik. Eine Kommission, bestehend aus Lenin, Rudsjutak und Andrejew, wurde gewählt, um Satzungen über diese Frage vorzubereiten, die später von dem Allrussischen Zentralsowjet der Gewerkschaften, wie gewöhnlich, einstimmig angenommen wurden. Diese Satzungen sprechen Bände für Lenins Fähigkeit, die Haut zu wechseln. Unter anderem enthalten sie die folgenden Punkte:

  1. Die obligatorische Registrierung der Arbeiter in den Gewerkschaften führte zu einer bürokratischen Entartung dieser Körperschaften und entfremdete sie den Massen. Es ist daher notwendig, von nun an freiwillige Mitgliedschaft in den Gewerkschaften einzuführen. (Dabei darf man nicht vergessen, daß viele Arbeiter als Konterrevolutionäre und "Schinder" gebrandmarkt und von der Tscheka ins Gefängnis gesetzt wurden, weil sie dieselben Dinge zu behaupten wagten.)
  2. Die Arbeiter, welche den Gewerkschaften beitreten, dürfen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung wegen nicht belästigt noch beunruhigt werden. (Und was ist mit den zahllosen Opfern, die zurückgesetzt und eingeschüchtert wurden, weil ihre politischen Anschauungen den Bolschewiki nicht sympathisch waren?)
  3. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Rußlands erfordert die strikteste Konzentration der Macht in den Händen einer persönlichen Verwaltung. Aus diesem Grunde dürfen die Gewerkschaften nicht danach trachten, diejenigen Industrien zu kontrollieren, die von Privatkapitalisten als Eigentum erworben oder gepachtet sind.


Es ist zweifellos, daß die neue Wirtschaftpolitik, die durch Lenins Satzungen über die Rolle der Gewerkschaften unterstützt wird, die Tür für neue Arbeitsprobleme und unvermeidliche Konflikte weit öffnet. Die Beilegung aller kommenden Konflikte zwischen Arbeiter und Unternehmer soll in die Hände einer "Höheren Körperschaft" außerhalb der Gewerkschaften gelegt werden. Lenins Kommission hat bereits angedeutet, daß diese "höchste Autorität" obligatorischer Schiedsgerichte im Falle von Arbeiterdifferenzen keine andere als die Kommunistische Partei und die Dritte Internationale sein soll.

Es tritt hier klar zutage, daß die Kommunistische Internationale gewillt ist, ihre Beherrschung über die russische Arbeiterbewegung aufrechtzuerhalten, während sie in derselben Zeit alles aufwendet, um die Arbeiterorganisationen in Europa und Amerika unter ihre Kontrolle zu bekommen.

Währenddessen ist der russische Arbeiter unter der neuen Wirtschaftspolitik noch schlechter bestellt als seit dem Ausbruch der Revolution. Er hat nun sogar die wenigen Garantien verloren, die ihm als Ergebnis des revolutionären Umschwunges noch übrig blieben. Besonders ist dies der Fall in Bezug auf die Zahl der Arbeitsstunden.

Der Achtstundentag, der für die letzten vier Jahre eine nahezu allgemeine Einrichtung in Rußland gewesen ist, besteht de facto heute nicht mehr. Dem offiziellen Organ, der Moskauer "Prawda", vom Dezember 1921, nach liegt das Verhältnis jetzt so: Nur in 86 von 695 industriellen Betrieben besteht heute noch der Achtstundentag. In den meisten übrigen Betrieben arbeitet man neun Stunden täglich. In 44 Betrieben wird 10 bis 12 Stunden gearbeitet, in 11 Betrieben 14 bis 16 Stunden, in 44 Betrieben besteht überhaupt keine bestimmte Arbeitszeit. In manchen Betrieben fand man sogar Kinder, die 12 bis 14 Stunden den Tag arbeiteten.

Die Bäcker werden am schlimmsten ausgebeutet und arbeiten 12 bis 18 Stunden pro Tag. Diese Zahlen haben nur Bezug auf die Arbeitsbedingungen in Moskau, der Hauptstadt Rußlands. In der Provinz ist die Lage noch schlimmer. So arbeiten die Bergleute des Doner Kohlendistrikts 16 bis 17 Stunden ohne Unterbrechung. In der staatlichen Lederfabrik von Witebsk besteht ein normaler Arbeitstag von zwölf Stunden. In den Fischereien von Astrachan ist die Arbeitszeit, nach dem Bericht des dortigen Vertreters der Zweiten Allrussischen Konferenz für Arbeitsschutz, in der Wirklichkeit überhaupt unbeschränkt.

Man kann aus diesen Beispielen ersehen, welche Segnungen dem russischen Arbeiter aus der neuen Politik des Staats- und Privatkapitalismus erwachsen sind.

Trotzdem ist die russische Revolution nicht im ganzen umsonst gewesen. Sie hat im Schoße der Massen viele alte Begriffe und Vorstellungen entwurzelt, und der russische Arbeiter ist heute nicht mehr der folgsame Sklave, der er früher war. Man hat ihn bis zum Überdruß mit Politik gefüttert, nun glaubt er nicht länger daran. Jetzt, wo er imstande sein wird, sich mit seinen Kameraden in neuen Arbeiterorganisationen zu vereinigen, wird er ohne Zweifel zu direkten Methoden seine Zuflucht nehmen.

Lenin und seine Gefolgsleute fühlen die Gefahr. Ihre Angriffe auf die Arbeiteropposition und die Verfolgungen der Anarchosyndikalisten nehmen fortgesetzt zu an Schärfe und Heftigkeit. Wird der Stern des Anarchosyndikalismus im Osten aufgehen? Wer weiß - Rußland ist das Land der Wunder.

Die Lage des Kindes in Rußland

Die üblen Ergebnisse, die dem verhängnisvollen Zirkel, den der bolschewistische Staat geschaffen hat, entspringen, und an dem die ernsthaftesten Bestrebungen nach irgend einer Richtung hin notwendigerweise zugrunde gehen müssen, treten nirgends so offensichtlich zutage als auf dem Betätigungsfelde der Bolschewiki zur Hebung des Kindes. Obwohl viele Berichte über das Leben des Kindes in Rußland rein legendärer Natur sind, muß man zugeben, daß ein großer Versuch auf diesem Gebiete gemacht worden ist. Was ist die Ursache, daß dieser Versuch fehlschlagen mußte?

Ich erinnere mich noch lebhaft, welchen Eindruck die Ausführungen eines Redners in einer Versammlung am zweiten Jahrestage der Oktober-Revolution, in Madison Square Garden in New York, bei mir auslösten. Der Mann kam gerade von Rußland zurück. Seine Worte über die Behandlung und die Sorgfalt, die man den Kindern in Rußland angedeihen läßt, entfachten die helle Begeisterung der Zuhörer. Und mein Herz schlug dem Volke jenes Landes warm entgegen, den Massen, die das Joch von Jahrhunderten von ihren Schultern warfen und die nun "an der Hand eines Kindes" ihren Weg verfolgten. Es war zu wundervoll.

Während meiner ganzen Reise auf unserem schwimmenden Gefängnis, dem Buford, hielt mich der Gedanke an das, was an den russischen Kindern getan wurde, aufrecht und erwärmte meine Seele. Wie vielversprechend lag die Zukunft vor mir, wie köstlich war das Gefühl, an diesem herrlichen neuen Leben teilnehmen zu dürfen! Aber in Rußland angekommen, mußte ich erkennen, daß ich meine Rechnung ohne den Sozialistischen Staat gemacht hatte, der in seinem verhängnisvollen Kreise jede Anregung, jeden Versuch erstickte.

Es ist wahr, daß die Bolschewiki in Bezug auf das Kind und die Erziehung ihr möglichstes getan haben. Es ist auch wahr, daß, wenn es ihnen nicht gelungen ist, den Nöten der Kinder in Rußland Einhalt zu gebieten, dieses mehr die Schuld der Feinde der russischen Revolution als ihre eigene Schuld gewesen ist. Die furchtbaren Folgen der Intervention und der Blockade fielen am schwersten auf die schwachen Schultern der Kinder und Kranken. Aber sogar unter günstigeren Bedingungen würde das bürokratische Monstrum des bolschewistischen Staates die besten Absichten und die gewaltigsten Anstrengungen, welche die Kommunisten zugunsten des Kindes und der Erziehung bekundeten, gelähmt und vereitelt haben.

Erst nachdem einige Wochen seit meiner Ankunft in Rußland verflossen waren, hatte ich die Gelegenheit, der ersten Schule - der besten in Petrograd - einen Besuch abzustatten. Man nennt sie "Kasatelnaja Schkola" - Modellschule oder wörtlich übersetzt: "Ausstellungsschule". Der Sinn davon kam mir erst später zum Bewußtsein. Diese Schule befand sich im Hotel de l'Europe, und das Gebäude mit seinen geräumigen Zimmern, den herrlichen Kronleuchtern und der luxuriösen Ausstattung hatte noch viel von seiner ehemaligen Eleganz bewahrt.

Im Winter 1920 war der Mangel an Brennmaterial in Petrograd so groß, daß die Bevölkerung nahezu zu Grunde ging. Es war daher notwendig, daß die Kinder in so wenig Zimmern als nur irgend möglich, untergebracht wurden. Allein die Räumlichkeiten waren rein, gut in Stand gehalten und bequem. Die Kinder, durchschnittlich von sechs bis dreizehn Jahre alt, sahen gesund, gut genährt und zufrieden aus. Der diensttuende Arzt führte mich durch die umfangreichen Räumlichkeiten, die Küche mit ihrem prachtvollen, blankgeputzten Kupfergeschirr mit eingeschlossen, und erklärte mir alle Einzelheiten.

Die Schule war eine Art Zentrum, wo die Kinder empfangen und verteilt wurden. Man brachte Kinder aus allen Teilen Rußlands, meistenteils vom Lande, hierher. Sie kamen hier abgezehrt und krank an und in Kleidern, die von Ungeziefer wimmelten. Hier wurden sie gebadet, abgewogen, gemessen, aufgefüttert und ärztlich behandelt. Eine kurze Zeit blieben sie in der Schule, erhielten dort Elementarunterricht, und wurden danach in anderen Kinderschulen untergebracht. - Was ich hier sah, machte einen gewaltigen Eindruck auf mich. In der Tat, hier hatte ich den Beweis, daß die Berichte über die großen Dinge, die an den russischen Kindern getan wurden und die wir in Amerika empfangen hatten, durchaus der Wahrheit entsprachen.

Nur eine Note störte das herrliche Gemälde. Aus einer beiläufigen Bemerkung meiner Führerin, der Ärztin, erfuhr ich, daß man gewisse Kinder nicht sehen könne, "da sie isoliert gehalten würden". "Wahrscheinlich liegen ansteckende Krankheiten vor"? fragte ich. "Nein," sagte die Dame, "es sind kleine Diebe, die wir von den anderen Kindern fernhalten müssen."

Ich war sprachlos. Ich sah vor mir Tolstoi als Lehrer, wie ihn Ernest Crosby beschrieben hat. Eines der Kinder in der Schule hatte etwas gestohlen. Die übrigen Kinder hatten es als Dieb angezeigt und baten den Lehrer, daß er es bestrafen sollte. Schüler und Lehrer kamen überein, daß man dem kleinen Übeltäter ein Schild um den Hals hängen sollte, das die Aufschrift "Dieb" trug.

Als Tostoi sich anschickte, dem Knaben das Schild umzuhängen, fühlte er sich plötzlich betroffen durch einen Blick aus des Kindes Augen, ein Blick, in dem Erniedrigung und stumme Anklage sich paarten. Nein, nicht das Kind war der Übeltäter. Der Übeltäter war er, Tolstoi, und die übrigen Kinder - die ganze Gesellschaft, die so grausam sein konnte, ein Kind als Dieb zu brandmarken.

Von damals an wurde kein Kind mehr in Tolstois Schule bestraft. Und hier, im großen, freien und revolutionären Rußland bestrafte man Kinder, sonderte sie ab von den übrigen und sprach von ihnen fortgesetzt als von "moralisch Defekten". Das störte mich und machte mich stutzig. Jedoch ließ ich mir dadurch das schöne Bild, das ich im Hotel de l'Europe gesehen hatte, nicht verdunkeln.

Bald danach besuchte mich eine Frau, die mir von Amerika her seit langem bekannt war. Kurz nach der Februar-Revolution war sie mit ihrem Gatten und ihrem jungen Sohne nach ihrem Geburtsland zurückgeeilt. Sie hatte Anteil genommen an den großen Ereignissen der Oktobertage und war seitdem mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt gewesen; doch konzentrierte sich ihr Hauptinteresse auf die Pflege der Kinder. Zur Zeit, da sie mich besuchte, war sie Vorsteherin in einem "Internat", einer Elementarschule für Mädchen. Die Frau erzählte mir viel von ihrer Arbeit, von den Kindern und sprach von dem schweren Kampf, den sie stets führen mußte, um die notwendigsten Dinge für ihre Schule zu erhalten. Ihre ganze Geschichte stand in einem so offenbaren Widerspruch mit allem, was ich im Hotel de l'Europe gesehen hatte, daß es mir unmöglich war, ihr zu glauben. Und doch wußte ich, daß meine Freundin eine durchaus ehrliche und glaubwürdige Person war. Die Sache schien mir unerklärlich.

Ich lud meine Freundin zum Abendbrot ein. Wir sprachen über gemeinsame Bekannte aus Amerika, über die Oktober-Revolution und ihren Einfluß auf die unterdrückten Klassen anderer Länder, während ich in meiner improvisierten Küche damit beschäftigt war, Kartoffeln zu schälen. - "Werfe die Schalen nicht fort," warnte mich meine Freundin. - "Warum nicht? Was willst Du damit anfangen?" fragte ich. - "Die Kinder machen Kartoffelkuchen davon und sind so zufrieden damit," entgegnete sie. - "Die Kinder?" fragte ich verwundert. Aber wie ist das möglich? Bekommen sie denn nicht die ersten Rationen?" - Ich sah mich wieder im Hotel de l'Europe, wo die Kinder mit Milch, Kakao. Reis, Hafermehl und sogar mit Fleisch genährt wurden.

Meine Freundin lächelte. "Komme in meine Schule und überzeuge Dich selbst," sagte sie.

Ich habe sie dort nicht einmal, sondern öfter besucht und sah nun die Kehrseite des Bildes. Aber noch immer ließ ich mich nicht so leicht überzeugen. Die Schule meiner Freundin wurde von 65 Kindern besucht. Die Nahrung der Kinder war kärglich und von minderwertiger Qualität. Die meisten von ihnen wurden am Leben gehalten durch das, was ihre Eltern oder Verwandten ihnen vom Lande schickten. Sie hatten wenig warme Kleider, und die meisten von ihnen waren ohne Schuhe. Meine Freundin mußte einen großen Teil ihrer Zeit und ihre ganze Energie in den verschiedenen Abteilungen des Erziehungsausschusses vertrödeln. Es dauerte zwei Wochen, bis sie für ihre 65 Kinder zwanzig Holzlöffel erhalten konnte. Nach einem ganzen Monat von Anstrengungen aller Art, zu denen auch das In-der-Reihe-stehen, bis man bei den höheren Beamten vorgelassen wird, gehörte, gab man ihr endlich 25 Paar Schneeschuhe. Es erforderte viel Vernunft und großes Taktgefühl, um diese zwischen 65 Kindern zu verteilen, ohne Neid, Haß und Streit unter denselben hervorzurufen.

Je öfter ich diese Schule besuchte, desto mehr überzeugte ich mich, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein mußte. Wie anders konnte man sich sonst den Unterschied erklären, der in der Verpflegung der Kinder im Hotel de l'Europe und denen in der Schule des Kronwerski Prospekt vorhanden war? Dort gab man den Kindern von allem das Beste - Nahrung, Kleider, Räumlichkeiten, Konzerte, Tänze - in der Tat zuviel in Anbetracht der allgemeinen Lage. Hier aber hatten die Kinder so wenig, daß sie andauernd hungrig waren, und sogar das wenige, das man ihnen zukommen ließ, war nur unter den größten Schwierigkeiten zu erlangen.

Sehr schnell wurde ich mit zwei Dingen vertraut: Es war in Rußland nicht genug Nahrung und Kleidung vorhanden, um alle Kinder damit genügend zu versorgen. Die Bolschewiki aber hielten es für notwendig, in jeder Stadt einige "Ausstellungsschulen" zu errichten, die für Missionen, Delegationen und Reporter als Aushängeschild dienen mußten. Diese Schulen erhielten das Beste von allem. Was übrig blieb, bekamen die anderen Schulen, die natüdich die große Mehrzahl bildeten.

Personen, die nur Gelegenheit hatten, die sogenannten Ausstellungsschulen in Augenschein zu nehmen und nach diesen die Pflege, die das Kind in Rußland empfängt, beurteilten, verließen das Land, ohne von den wahren Zuständen, unter denen die große Mehrheit der russischen Kinder unter dem bolschewistischen Regime zu leben gezwungen ist, die kleinste Ahnung zu haben.

Die Intervention (Eindringen) der Alliierten und die Blockade sind hauptsächlich verantwortlich für das schreckliche Elend in Rußland. Allein, was immer vorhanden war, um die Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen, konnte ebenso gut gleichmäßig zwischen diesen verteilt werden. Das bolschewistische System selbst schuf in Bezug auf die Kinder dieselbe Ungleichheit, dieselben Unterschiede, die es in der Behandlung der Arbeiter geschaffen hat. Für die letzteren bestanden verschiedene Kategorien in Bezug auf die Rationen, die offiziell bestimmt und zur Ausführung gebracht wurden.

In der Praxis bestand für die Kinder dieselbe Lage, nur daß sie einen mehr inoffiziellen Charakter hatte. In erster Linie war das System der "Ausstellungsschule" an und für sich von zersetzender und demoralisierender Wirkung und entwickelte besondere Vorrechte. Und dieser Zustand der Dinge wiederum entwickelte eine Atmosphäre des leeren Scheins, der Falschheit und der absichtlichen Täuschungen, die sowohl auf die Lehrer als auf die Kinder ihren verhängnisvollen Einfluß ausüben mußten.

Hauptsächlich aber war es die staatliche Zentralisierung mit ihrem daraus entstehenden verwickelten Mechanismus eines bürokratischen Beamtentums, welche die besten Versuche der Bolschewiki auf diesem und auf anderen Gebieten unfruchtbar und wirkungslos machten.

Vor hundert Jahren brachte Gogol mit seinem großen Werke "Tote Seelen" seine Landsleute in Aufregung. Es war eine vernichtende Anklage gegen den russischen Feudalismus und das Schmarotzertum, das er erzeugte. Die "Toten Seelen" sind heute in Rußland zu neuem Leben erwacht, aber es fehlt ein Gogol, der sie an den Pranger stellen könnte. Aber wenn sogar ein solcher vorhanden wäre, so würde er im heutigen Rußland viel weniger Beachtung finden, als Gogol im Rußland seiner Zeit gefunden hat.

Wo finden sich die "Toten Seelen" unserer Tage? Ein Beispiel wird es uns am besten zeigen. Jedes Kinderheim, jede Elementarschule, jede Erziehungsanstalt, in Wahrheit jede Institution, die Kinder oder Erwachsene beherbergt, ist berechtigt zu soviel Rationen Lebensmittel und Kleider, als sie Insassen zählt. Alle Institutionen sind abhängig von der zentralen Verteilungsstelle (in Petrograd die Pterokommune, in Moskau die Moskommuna usw.), die sie mit allen vorhandenen Dingen versorgt. Eine Menge von verschiedenen Papieren, gezeichnet und gegengezeichnet von ganzen Armeen von Tschinowniki (Beamten), ist nötig, damit eine gegebene Institution sich mit allem versehen kann, was sie notwendig hat.

Die Tschinowniki aber verzögern systematisch jede Bestellung, wenn sie nicht ein Geschenk erhalten. So ergibt sich die Notwendigkeit, daß tatsächlich mehr Bestellungen aufgegeben werden müssen, als sich Insassen in einer Institution befinden, damit einige "Extras" für die Beamten, wie auch für die hungrigen Freunde des "Wirtschaftsverwalters" der betreffenden Institution übrig bleiben.

Die Schule meiner Freundin z.B. zählte 65 Kinder. Alle früheren Vorsteherinnen fügten dieser Zahl noch eine Anzahl fiktiver Namen bei - Tote Seelen - und wurden infolge der ergatterten Extrarationen, die zur Bestechung verwendet wurden, prompt abgefertigt. Nachdem sie sich auf diese Weise in den verschiedenen Verwaltungsabteilungen "Einfluß" verschafft hatten, konnten sie sich ruhig erlauben, ihre Schule zu vernachlässigen, die Kinder selbst zu mißhandeln und sehr oft mit den Rationen der Insassen zu spekulieren. Sie hatten eben "ihre Freunde oben".

Das Ergebnis dieser angenehmen Einrichtung, die in Rußland allgemein verbreitet ist, liegt auf der Hand. Meine Freundin jedoch wollte an solchen Praktiken keinen Anteil haben und weigerte sich, ihrer Liste "Tote Seelen" beizufügen. Wußte sie doch, daß jede Tote Seele auf die Kosten der ohnehin schon ungenügenden Rationen einiger Kinder ihr Leben fristete.

Sie weigerte sich, die zahllosen Inspektoren, Kontrolleure und Korrektoren ihres Distriktes mit durchzufüttern. Das Ergebnis war ein langer bitterer Kampf gegen den korrupten Kreis der Interessierten, ein Kampf, der ihre Gesundheit untergrub und damit endete, daß man sie ihrer Stellung enthob und sie buchstäblich auf die Straße setzte. Vergeblich versuchte sie die Aufmerksamkeit der "Genossin", die der Spitze der Petrograder Abteilung für Erziehung stand, auf ihren Fall zu lenken. Frau Lilina war nicht zu sprechen und besuchte niemals die Schule meiner Freundin. Die "Ausstellungsschulen" nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Auch würde Frau Lilina wohl schwerlich den Fall meiner Freundin aufgenommen haben. Es ist nicht üblich, "Außenstehenden" Beachtung zu schenken, die gegen Kommunisten Beschwerde führen. Außerdem ist es auch nicht ohne Gefahr, sich in solche Dinge einzumischen.

Ich habe Frau Lilina später kennengelernt und habe den Eindruck gewonnen, daß sie eine ernste Frau ist, die ihrem Werke ergeben ist. Aber sie ist in derselben Zeit eine blinde Anhängerin ihrer Partei, der jedes breitere Gesichtsfeld abgeht. In ihren Informationen über die Bedingungen in den Schulen ist sie ganz und gar abhängig von ihren Hauptuntergebenen, die alle Kommunisten sind. Der Nachweis für die Tauglichkeit und Wahrhaftigkeit einer Person in Rußland wird erbracht durch ihre Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei. Es ist wohl kaum nötig, die notwendigen Ergebnisse eines solchen Zustandes hier noch besonders zu betonen.

All das, was ich über den teilweisen Hungerzustand der Kinder in den Schulen der Bolschewiki in Erfahrung brachte, kam mir erst nach und nach peinvoll zum Bewußtsein. Ich sträubte mich zuerst mit aller Macht, zu glauben, daß die Methode der "Toten Seelen" allgemein üblich sei. Aber die Beweise dafür waren so zahlreich, daß ich ihnen zuletzt nicht länger widerstehen konnte. Neben mir, im Hotel Astoria, dem "Ersten Haus der Sowjets", wohnte eine kleine Frau mit ihren zwei Kindern. Sie war Kommunistin, aber eine, welche die Methode der "Toten Seelen" aufs schärfste bekämpfte. Sie arbeitete in verschiedenen Kinderinstitutionen und bestätigte nicht nur alles, was ich in der Schule auf dem Kronwerskisprospekt gesehen hatte, sondern zeigte mir selbst noch viele andere Schulen, in denen dieselben Gepflogenheiten üblich waren.

Überall lebten "Tote Seelen" auf Kosten halbverhungerter Kinder. Meine Nachbarin erzählte mir von den Erfahrungen, die sie mit ihren eigenen Kindern -  einem Knaben von drei und einem Mädchen von neun Jahren - durchmachen mußte. Beide hatte man in einer Kolonie untergebracht. Von ihrem eigenen mageren Verdienst war die Mutter gezwungen, ihnen regelmäßig Lebensmittel zu senden, da sie dort nicht genug Nahrung erhielten. Nach sechs Monaten wurden beide Kinder krank und mußten nach Hause geschickt werden, wo sie das einzige Zimmer mit ihrer Mutter teilen mußten. Das Mädchen hatte einen, bösartigen Ausschlag bekommen, und der Knabe war furchtbar heruntergekommen. Beide Fälle schrieb man den Folgen der Unterernährung zu.

Ich wurde mit meiner Nachbarin befreundet, die eine ernste und schwer arbeitende Kommunistin war. Durch sie habe ich sehr viel über den allgemeinen Zustand der Kinder erfahren. Mehr und mehr mußte ich erkennen lernen, daß die Bolschewiki tatsächlich versuchten, alles, was in ihrer Kraft stand, für das Kind zu tun, daß aber alle ihre Bemühungen von der schmarotzenden Bürokratie zunichte gemacht wurden, die ihr Staat selbst ins Leben gerufen hatte. Vor allem aber erwies sich ihre Auffassung, daß selbst das Kind für Propagandazwecke zu verwenden sei, als verhängnissvoll und verderblich.

Die "Ausstellungsschulen" hatten den übelsten Einfluß, besonders auf die Kinder außerhalb. Sie züchteten in des Kindes Herz ein Gefühl von verletzter Gerechtigkeit und willkürlich getroffener Unterschiede. Denn das Kind erkennt rascher und sicherer als der Erwachsene Lug und Schein. Und während diese "Ausstellungsschulen" dazu dienten, die ausländische Presse mit Stoff zu versehen, wurde die große Mehrheit der Kinder in Rußland ebenso vernachlässigt, wie die Proletarierkinder in allen übrigen Teilen der Welt. Überall sind es die privilegierten Wenigen, die alle Vorteile genießen. Das bolschewistische Rußland macht von dieser grausamen Regel keine Ausnahme.

Ich habe bereits am Anfang dieser Abhandlung erklärt, wie tief ich berührt wurde, als ich hören mußte, daß man Kinder als "Diebe" und "moralischer Defekte" halber von den übrigen absonderte. Damals führte ich diese Handlung auf die altmodische Auffassung der diensttuenden Ärztin im Hotel de l'Europe zurück. Ein Artikel in dem Regierungsorgan Prawda, und die Unterredungen, die ich mit vielen führenden Kommunisten - unter anderen mit Maxim Gorki und Frau Lilina - hatte, überzeugten mich jedoch, daß fast alle von ihnen an eine "vererbte moralische Verkommenheit" glaubten. Einige hochstehende Pädagogen befürworteten sogar das Gefängnis für solche mit "ererbter moralischer Verkommenheit" Belasteten. Doch dies war schon zu viel für Lunatscharski, den Kommissar für öffentliche Erziehung, Gorki und die fortgeschritteneren Elemente, die bei den orthodoxen Kommunisten als Sentimentalisten verschrieen sind. Lunatscharski bekämpfte den barbarischen Vorschlag und trug glücklichenveise den Sieg davon. Trotzdem befanden sich noch im September 1921 zweihundert Jugendliche, darunter ein Kind von acht Jahren, im Tagankagefängnis von Moskau.

Ich bin überzeugt, daß weder Lunatscharski noch Gorki davon eine Ahnung hatten. Aber darin liegt ja gerade der Fluch des ganzen verhängnisvollen Systems. Es nimmt denen, die an der Spitze stehen, die Möglichkeit, zu wissen, was der Schwarm ihrer Untergebenen tut. Die Anwesenheit der Kinder im Tagankagefängnis kam durch politische Gefangene ans Tageslicht, die man dahin befördert hatte. Sie machten ihren Freunden draußen davon Mitteilung, und diese, zusammen mit Lunatscharski, nahmen sich der Sache an. So wurden denn die Kinder endlich aus dem Gefängnis entfernt.

Die Schulen und Kolonien, wo man die "moralisch Defekten" unterbringt, sind nicht viel besser als Gefängnisse. Eine Untersuchung, die von der Kommunistischen Jugend veranstaltet wurde, brachte peinvolle Dinge über die Zustände in manchen dieser Schulen in Petrograd ans Licht. Der Bericht wurde im Mai 1920 in der Petrograder Prawda veröffentlicht. Er bestätigte die Anschuldigungen, die des öfteren erhoben wurden - unter anderen die allgemeine Praxis der "Toten Seelen", die Vermehrung der Aufseher auf die Kosten der Kinderrationen und andere Gepflogenheiten der Korruption und Unfähigkeit. So fand die Kommission z.B. in einer Schule 138 Aufseher für 125 Kinder, in einer anderen 38 Aufseher für 25 Kinder. Und diese Fälle waren keineswegs Ausnahmen.

Außerdem ging aus dem Bericht der Kommission hervor, daß die Kinder furchtbar vernachlässigt, in schmutzige Lumpen gekleidet waren und in vor Schmutz starrenden, übelriechenden Betten ohne Überzüge schlafen mußten. Einige Kinder hatte man bestraft, indem man sie nachts über in dunkle Räume einsperrte, anderen entzog man das Abendbrot und noch andere wurden sogar körperlich gezüchtigt. Der Bericht erregte in offiziellen Kreisen großes Aufsehen. Eine besondere Untersuchung wurde angeordnet, die, wie das in ähnlichen Dingen auch in Amerika üblich ist, mit einer Weißmachung der Schuldigen ihr Ende fand. Die Untersuchungskommission der Kommunistischen Jugend wurde wegen "Übertreibung" zurechtgewiesen. Man erklärte, daß der Artikel in der Prawda niemals hätte erscheinen dürfen, da er den Konterrevolutionären bloß Wasser auf ihre Mühle lieferte usw.

Ich sprach über die Angelegenheit mit einigen Kommunisten. "Wie ist es möglich, daß solche Dinge in Sowjet-Rußland vorkommen können?" fragte ich. Auf diese Frage erhielt ich stets dieselbe stereotype Antwort: "Mangel an zuverlässigen und fähigen Arbeitern!" Ich erklärte, daß ich bereit wäre, die Arbeit unter diesen unglücklichen Kindern aufzunehmen, die man als "moralisch defekt" gebrandmarkt hatte. "O, Sie müssen die Genossin Lilina sehen," belehrte man mich. "Es wird ihr höchst erwünscht sein, Sie als Mitarbeiterin zu bekommen."

Ein paar Tage später wurde ich zu der Genossin Lilina eingeladen. Sie ist eine schwächliche Frau mit harten Gesichtszügen - die typische amerikanische Schulmamsell, wie man sie vor fünfzig Jahren sehen konnte. Sie versicherte mir, daß sie mit den besten Methoden der Pädagogik und Psychologie wohl vertraut sei. Ich erkühnte mich, ihr zu sagen, daß ich der Theorie von der sittlichen Verkommenheit bei Kindern keinen Glauben beimesse, daß kein moderner Erzieher einen so veralteten Standpunkt vertrete, und daß man meiner Ansicht nach selbst sittlich defekte Kinder nicht bestrafen und als Degenerierte brandmarken dürfe. Ich sprach mit ihr über moderne Methoden der Erziehung und über die Versuche, die in Amerika von Richter Lindsay und anderen, die den moralischen Begriff von Sündern und Heiligen nicht anerkennen, mit verbrecherisch veranlagten Kindern gemacht wurden. O ja, das wäre alles ganz gut und schön in einem kapitalistischen Lande, wo Nahrungsmittel und alles andere im Überfluß vorhanden sind; allein in dem ausgehungerten Rußland wären moralisch defekte Kinder die unvermeidlichen Folgen des langen Krieges, der Revolution und des Hungers.

Diese Unterredung überzeugte mich, daß alle meine Bemühungen unter den kleinen Opfern auf Schritt und Tritt von dieser steifen, dogmatischen Frau durchkreuzt werden würden. Sie wieder dachte wahrscheinlich, daß es nicht ratsam sei, die Pflege der Kinder im kommunistischen Staate einer Anarchistin anzuvertrauen. Auf jeden Fall wurde nichts aus meinem Vorhaben.

Ich führe dies nur als Beispiel an, um zu zeigen, daß die von den Bolschewisten so oft wiederholte Behauptung, der zufolge alle Korruption, aller Amtsmißbrauch und jede Unfähigkeit innerhalb ihres Systems auf den Mangel an zuverläsigen Kräften zurückzuführen sei, jeder Grundlage entbehrt. Während meines Aufenthalts in Rußland kam ich mit einer überraschend großen Zahl von Personen zusammen, die willens waren, sich auf dem Gebiete der Erziehung, der Wirtschaft und anderer nicht politischen Felder zu betätigen. Aber da sie keine Kommunisten sind, sehen sie sich überall zurückgesetzt, entmutigt und von einem Spionagesystem umzingelt, das jede Initiative und jeden Versuch zur Unfruchtbarkeit verdammt.

Während meiner viermonatlichen Reise durch die Ukraine hatte ich genug Gelegenheit, Kinderheime, Elementarschulen, Kindergärten und Kolonien zu besuchen - inoffiziell, natürlich. Und überall fand ich dieselben Zustände: eine "Ausstellungsschule" mit gut genährten und in jeder Beziehung wohlversorgten Kindern, während in den anderen Institutionen die Kinder hungern mußten. Und oft habe ich gesehen, wie Männer und Frauen, die in diesen Instituten beschäftigt waren, gegen die bürokratische Maschine Sturm liefen, von dem ernsten Willen beseelt, die Interessen der Kinder zu verteidigen. Aber alle ihre Bemühungen waren vergebens und endeten damit, daß sie von der allmächtigen Maschine ausgeschaltet wurden.

Ein schlagendes Beispiel, wie man in einem solchen Fall vorzugehen pflegt, hatte ich kurz vor meiner Abreise in Moskau Gelegenheit zu beobachten. In einem gewissen Distrikt dortselbst befindet sich ein Modellkinderheim, die best organisierte und vortrefflichst ausgestattete Institution dieser Art, die ich in Rußland gesehen habe. Die Vorsteherin war eine äußerst seltene Frau, eine Idealistin, eine Erzieherin mit langjährigen Erfahrungen und unermüdlich tätig. Sie wandte sich entschlossen gegen die Methode der "Toten Seelen" und wollte nicht Paul berauben, um Peter füttern zu können. Es kam ihr nicht in den Sinn, die kleinen Beamten der unteren Abteilung durch Bestechungen zu gewinnen.

Wie es in solchen Fällen üblich ist, setzte bald eine Kampagne gegen sie ein. Der führende Geist in dieser gemeinen Attacke war der Arzt des Kinderheims, ein Kommunist. Man brachte alle nur erdenklichen Beschuldigungen gegen die Vorsteherin vor, von welchen keine einzige irgendwelche Basis hatte. Aber die Machinationen kamen nicht eher zur Ruhe, bis man die Frau aus ihrer Stellung hinausgezwungen hatte. Das bedeutete in derselben Zeit, daß sie ihres Zimmers verlustig ging. Die Frau war Mutter eines vier Monate alten Kindes. Es war im November, das Wetter war kalt, eine feuchte, durch Mark und Bein dringende Kälte. Nichtsdestoweniger befahl man der Vorsteherin, die für das Institut gekämpft hatte, das Heim zu verlassen. Um das Leben ihres Kindes besorgt, weigerte sie sich, dem Befehle Folge zu leisten, solange man ihr kein anderes Zimmer in dem Gebäude anweisen würde. Daraufhin gab man ihr ein dunkles, feuchtes Zimmer im Erdgeschoß, das wohl seit drei Jahren nicht geheizt war. In diesem Grabe wurde der Säugling krank und ist seitdem leidend.

Sind Lunatscharski solche Fälle bekannt? Wissen andere führende Kommunisten davon? Manche zweifellos. Aber sie sind so sehr mit "wichtigen Staatsangelegenheiten" beschäftigt. Außerdem sind sie gegen solche "Kleinigkeiten" unempfindlich geworden. Und dazu sind sie selbst in denselben verhängnisvollen Kreis hineingebannt, ist doch jeder von ihnen nur ein Teil des großen bolschewistischen Beamtenapparates. Sie wissen, daß die Zugehörigkeit zur Partei eine Menge Sünden zudeckt.

Während meines zweijährigen Aufenthalts in Rußland besuchte ich eine große Anzahl von Institutionen, aber ich bin nur ganz wenigen glücklichen Kindern begegnet. Nur einmal in Archangelsk hörte ich ein Kind herzlich lachen. Im allgemeinen machen die meisten Kinder in den bolschewistischen Institutionen einen farblosen und stereotypen Eindruck, ähnlich wie dies mit Kindern, die in Waisenhäusern aufwachsen, der Fall ist.

Es liegt etwas Bedrücktes auf diesen Kindern; sie hungern nicht bloß nach Brot, sondern auch nach Zärtlichkeit - es sind einsame Kinder. Ich weiß, daß meine Ausführungen nicht übereinstimmen mit all den Märchen, die im Umlauf sind und von dem Jahrhundert des Kindes in Rußland zu erzählen wissen. Aber es ist gar nicht meine Absicht, diese Märchen verewigen zu helfen.

Es gab noch einen anderen Faktor, der den bolschewistischen Staat über andere Regierungen erhob - die Abschaffung der Kinderarbeit. Es war dies die bedeutsamste Errungenschaft, für die man den Kommunisten zum Dank verpflichtet war. Heute aber, wo Lenins neue Wirtschaftspolitik das Tote schnell wieder auferstehen läßt, heute, wo Kapitalismus und Privatausbeutung langsam aber sicher in Rußland wieder ihren Einzug halten, wird die bolschewistische Regierung mit den übrigen zivilisierten Regierungen auch in dieser Hinsicht bald wieder auf gleicher Stufe stehen und die Kinderarbeit als große Quelle des nationalen Reichtums schätzen lernen.

Erinnerungen an Kropotkin

Unter denen, die ich nach meiner Ankunft in Rußland im Januar 1920 am sehnlichsten zu sehen begehrte, war Peter Alexewitsch Kropotkin. Ich erkundigte mich sofort, wie ich ihn erreichen könnte und erfuhr, daß ich zu diesem Zwecke nach Moskau fahren müßte, da Kropotkin in Dmitrow wohnte, einem kleinen Städtchen, sechzig Werst von dieser Stadt entfernt. Nun reiste man in einem Lande wie Rußland, das vom Kriege und von der Revolution so furchtbar mitgenommen war und in dem der Staat jeden Atemzug kontrollierte, nicht nach eigenem Willen. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich mir eine Gelegenheit, nach Moskau zu reisen, bieten würde. Glücklicherweise bot sich mir eine solche Gelegenheit sehr bald.

Früh im März reisten einige prominente Kommunisten, unter ihnen Radek und Gorki, nach Moskau, und man erlaubte mir, in ihrem Wagen mitzufahren. In Moskau angekommen, suchte ich Mittel und Wege, Dmitrow zu erreichen. Aber hier trat eine neue Verzögerung ein. Ich erfuhr, daß es fast unmöglich war, auf dem gewöhnlichen Wege dorthin zu reisen. Der Typhus grassierte in jener Zeit im Lande. Alle Eisenbahnstationen waren überfüllt von Menschen, die Tage und Wochen dort lagen und auf eine Gelegenheit lauerten, weiterzukommen. Da war ein fortgesetztes Gebalge um jeden Fußbreit Raum. Fünfhundert unglückliche Menschen drängten sich in einem Wagen zusammen, in dem nur Platz für fünfzig vorhanden war. Hungrig und abgehetzt suchten sie selbst auf den Dächern und Trittbrettern der Wagen ein Plätzchen zu ergattern, ungeachtet der furchtbaren Kälte und der unmittelbaren Gefahr, abgeworfen zu werden. Es verging keine Reise, ohne daß Menschen dabei erfroren oder vom Zuge herabgeschleudert wurden.

Ich war in Verzweiflung; denn ich hörte, daß Kropotkin diesen Winter krank war, und ich befürchtete, daß er das Frühjahr vielleicht nicht mehr erleben würde. Ich wollte weder um einen besonderen Wagen nachsuchen, noch konnte ich mich entschließen, auf dem gewöhnlichen Wege zu reisen, bis mir auch hier wieder ein unvorhergesehener Zufall zu Hilfe kam.

Der Herausgeber des Londoner "Daily Herald", begleitet von einem seiner Berichterstatter, war vor mir in Moskau eingetroffen und hatte ebenfalls die Absicht, Kropotkin zu besuchen. Da man ihm zu diesem Zwecke einen Extrawagen zur Verfügung gestellt hatte, so hatte ich, zusammen mit Alexander Berkmann und A. Schapiro Gelegenheit, Herrn Lansbury zu begleiten und konnte auf diese Weise die Reise in verhältnismäßiger Sicherheit zurücklegen. Wir kamen zur guten Zeit an. Es war eine sternhelle Nacht, und das ganze Land war mit einer ungeheuren Schneedecke belastet. Unsere Fußtritte hallten wider in der Stille des schlafenden Dorfes.

Kropotkins Häuschen war nach dem Garten zu gelegen und von der Straße entfernt. Nur der schwache Strahl einer Petroleumlampe beleuchtete den Pfad, der zum Hause führte. Ich hörte später, daß Petroleum knapp war in Kropotkins Haushalt und mit Licht gespart werden mußte. Nachdem Kropotkin sein Tagewerk vollendet hatte, wurde die Lampe in das Wohnzimmer gebracht, wo sich die Familie des Abends versammelte. Sophie Kropotkin und die Tochter bereiteten uns einen warmen Empfang und führten uns ins Zimmer, wo wir unseren Großen alten Mann fanden.

Ich hatte ihn das letzte Mal 1907 in Paris gesehen, wohin ich mich nach dem Anarchistischen Kongreß in Amsterdam begeben hatte. Kropotkin, dem Frankreich für viele Jahre verschlossen war, hatte kurz vorher das Recht erhalten, dorthin zurückzukehren. Er war damals bereits 65 Jahre alt, allein er strotzte noch immer von Lebenskraft und war so munter, daß er viel jünger erschien. Er war eine große Inspiration für uns alle, die wir das Glück hatten, mit ihm näher in Berührung zu kommen.

Es war geradezu unmöglich, sich Peter Alexewitsch alt vorzustellen. Nicht so im März 1920. Ich war tief betroffen, so gealtert erschien er mir. Er war furchtbar abgezehrt. Er empfing uns mit derselben anmutigen Freundlichkeit, die so charakteristisch an ihm war. Wir fühlten von Anfang an, daß unser Besuch nicht befriedigend sein würde. Peter würde nicht imstande sein, in der Gegenwart von Fremden, die dazu noch Journalisten waren, offen zu sprechen. Doch wir mußten von der Lage das Beste machen. Nachdem wir uns wohl eine Stunde lang über allgemeine Dinge unterhalten hatten, bat ich Frau Kropotkin und Sascha, die englischen Gäste zu unterhalten, während wir mit Kropotkin in Russisch sprachen.

Nachdem ich mich auf das angelegentlichste nach seiner Gesundheit erkundigt hatte, war ich natürlich in erster Linie darauf erpicht, von ihm Aufklärung über Fragen von vitalem Interesse zu erhalten, die schon damals meinen Geist beunruhigten. Er sollte mir Auskunft geben über die Beziehungen, die zwischen den Bolschewiki und der Revolution bestanden, über die despotischen Methoden, welche die herrschende Partei in Anwendung brachte, und zu denen sie, wie mir jedermann versicherte, durch die Intervention und die Blockade gezwungen war. Ich wollte die Meinung Kropotkins über diese Dinge kennenlernen, wollte wissen, wie sein langes Schweigen zu deuten war.

Ich habe mir keine Notizen gemacht und kann nur die wichtigsten Punkte unseres kurzen Gesprächs hier wiedergeben. Kropotkins Meinung war, daß die russische Revolution das Volk zu großen Höhen emporgetragen und den Weg für eine tiefgründige Veränderung der sozialen Zustände geebnet habe. Hätte man dem Volke die Möglichkeit gegeben, die freigewordenen Kräfte auszunutzen, wären Rußland die furchtbaren Bedingungen,unter denen es jetzt zu leiden hatte, erspart geblieben.

Die Bolschewiki, welche durch die gigantische Welle der Revolution zur Macht emporgetragen wurden, bekamen zuerst das Ohr des Volkes durch extreme revolutionäre Schlagwörter. Auf diese Weise erwarben sie sich das Vertrauen der Massen und die Unterstützung der aktiven Revolutionäre. Schon früh in der Oktoberperiode begannen die Bolschewiki damit, die Interessen der Revolution der Errichtung ihrer Diktatur unterzuordnen. So kam es, daß jede gesellschaftliche Tätigkeit eingeschnürt und gelähmt wurde, Kropotkin führte die Genossenschaften als Beispiel an, die seiner Meinung nach das vorzüglichste Bindeglied hätten abgeben können, um die Interessen der Bauern und Arbeiter zu überbrücken, und die man bald im Anfang zerstört hatte.

Er sprach mit großem Nachdruck über die allgemeine Depression, die Verfolgungen, die Niederhetzung jeder anderen politischen Meinung und gab uns zahlreiche Beispiele von der Not und dem Elend des Volkes. Was er der bolschewistischen Regierung besonders zum Vorwurf machte, war, daß sie den Sozialismus und den Kommunismus in den Augen des russischen Volkes diskreditiert hatte. Es war ein herzzerreißendes Bild, das uns Kropotkin an jenem Abend entrollte.

Wir fragten ihn, warum er seine Stimme nicht erhoben hätte gegen alle diese Übel, gegen die fatale Maschine, welche das Herzblut der Revolution auspumpte. Kropotkin gab uns zwei Ursachen an: Erstens war es, dank der Diktatur, in Rußland unmöglich, seiner Meinung freien Ausdruck zu geben, und in einer Weise, daß sie das Volk erreichen könnte. Zweitens konnte er es nicht über sich gewinnen, in einer Zeit, wenn Rußland von den vereinten Kräften der europäischen Imperialisten überfallen und seine Frauen und Kinder durch die verbrecherische Blockade in den Hungertod getrieben wurden, in das wütende "Kreuzigt ihn!" gewesener Revolutionäre miteinzustimmen. Aus diesen Gründen hatte er es vorgezogen, zu schweigen. An die Regierung zu appellieren, war zwecklos, da sie nur noch darauf erpicht war, ihre Macht um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Sie konnte deshalb vor solchen Kleinigkeiten, wie Menschenleben und Menschenrechte, nicht Halt machen. "Aber haben wir nicht stets auf diese Segnungen des Marxismus in Aktion hingewiesen?" fügte er hinzu. "Warum nun erstaunt sein?"

Ich fragte ihn, ob er seine Eindrücke und Beobachtungen niederschreibe, und betonte die Notwendigkeit und Wichtigkeit, die ein solches Dokument für seine Kameraden, für die Arbeiter, für die ganze Welt haben müßte. Kropotkin sah mich eine Zeitlang an und erwiderte:

"Nein, ich schreibe nichts dergleichen. Es ist unmöglich zu schreiben, wenn man überall von großen menschlichen Leiden und Elend umgeben ist, wenn jede Stunde Kunde bringt von neuem Weh, das man nicht stillen kann. Außerdem gibt es kein Privatleben, keine persönliche Sicherheit mehr. Man muß jeden Moment auf eine Haussuchung gefaßt sein. Die Tscheka erscheint plötzlich in der Nacht, durchstöbert jeden Winkel im Haus, kehrt alles drunter und drüber und nimmt jeden Fetzen Papier mit. Unter solchem fortgesetzten Druck ist es schwer, Buch zu führen. Aber mehr wie alles andere kommt für mich mein Werk über die Ethik in Betracht. Ich kann bloß einige Stunden täglich arbeiten und habe noch immer viel zu tun. Ich bin daher gezwungen, alles andere auszuschließen und meine ganze Kraft auf diesen Gegenstand zu konzentrieren."

Wir hatten bereits die Zeit unseres Genossen zu lange in Anspruch genommen, und obwohl wir noch manches auf dem Herzen hatten, mußten wir uns für diesen Abend bescheiden. Die Unterhaltung nahm nun wieder einen allgemeinen Charakter an. Doch es wurde spät, und unser Wirt war müde. Wir nahmen daher bald Abschied und versprachen, im Frühjahr wiederzukommen, wo wir mehr Zeit haben würden, über Dinge, die uns am Herzen lagen, zu sprechen.

Nach einer zärtlichen Umarmung, die Peter niemals verfehlte, denen zuteil werden zu lassen, die er liebte, begaben wir uns nach unserem Wagen zurück. Mein Herz war voll von der großen russischen Tragödie, mein Geist verwirrt und beunruhigt von all den Dingen, die ich vernommen hatte. Auch machte mir der physische Zustand unseres Kameraden ernste Sorgen. Ich fürchtete, daß er den Frühling nicht erleben würde. Der Winter 1920 war schrecklich. Die Menschen wurden vom Typhus, von Hunger und Kälte hinweggerafft. Der Gedanke, daß Kropotkin sterben könnte, und daß die Welt seine Ansichten über die russische Revolution niemals erfahren würde, war mir unerträglich. Kropotkin hatte dem Despotismus der Zaren und ihrer politischen Ochrana Trotz geboten, warum konnte er jetzt nicht schreiben? Ging es auch ihm wie jenen Alten, die mit ihren Gedanken stets in der Vergangenheit wohnen, während die Gegenwart an ihnen vorüberzieht? Erst viel später lernte ich begreifen, warum Kropotkin unfähig war, über die russischen Ereignisse zu schreiben.

Im Juli 1920 kam ich wieder nach Moskau, diesmal mit der Expedition des Revolutionsmuseums, auf unserem Wege nach der Ukraine. Eines Tages telephonierte mir Sascha Kropotkin. Es war ihr gelungen, ein Auto von einem Regierungsbeamten zu leihen, und nun wollte sie, daß Berkman und ich mit nach Dmitrow kommen sollten. Wir reisten den anderen Tag und erreichten Dmitrow in einigen Stunden. Der Garten, der Kropotkins Heim umgab, war in voller Blüte und verbarg das Häuschen vollständig jedem Blicke.

Peter hielt sein Nachmittagsschläfchen, aber der Klang unserer Stimmen brachte ihn rasch auf die Beine, und er kam schnell, uns zu begrüßen. Er war so munter, so lebhaft, so kraftvoll. Er führte uns sofort nach dem Gemüsegarten, der fast ausschließlich das Werk Sophie Kropotkins, der Stolz Kropotkins und die wichtigste Stütze für die Familie war. Es machte ihm viel Vergnügen, uns eine neue Art Salat zu zeigen, die Sophie gepflanzt hatte - schwere, große Köpfe wie Weißkraut, aber mit Blättern von einem duftigen Grün. - "Ihr müsst welchen zum Mittagbrot haben," sagte Peter jovial. Der Frühling hatte ein Wunder an ihm vollbracht. Er war ein ganz anderer Mensch geworden.

Die ersten sieben Monate meines Aufenthalts in Rußland hatten mich nahezu vernichtet. Ich war angekommen mit so viel Begeisterung im Herzen, ganz und gar beseelt von dem leidenschaftlichen Verlangen, mich in die Arbeit stürzen zu können und mitzuhelfen, die heilige Sache der Revolution zu verteidigen. Aber was ich in Rußland fand, überwältigte mich geradezu. Ich war nicht fähig, irgend etwas zu tun. Das Rad der sozialistischen Staatsmaschine ging über mich hinweg und lähmte meine Energie. Das furchtbare Elend und die Bedrängnis des Volkes, die kaltherzige Ignorierung seiner Wünsche und Bedürfnisse, die Verfolgungen und Unterdrückungen lagen mir wie ein Berg auf der Seele und machten mir das Leben unerträglich.

War es die Revolution, die Idealisten in wilde Bestien verwandelt hatte? Wenn dies der Fall war, so waren die Bolschewiki bloß Schachfiguren in der Hand eines unvermeidlichen Schicksais. Oder war es der kalte, unpersönliche Charakter des Staates, dem es gelungen war, durch verwerfliche und unehrliche Mittel die Revolution in sein Joch zu spannen, um sie nun auf Wege zu peitschen, die ihm unentbehrlich waren? Ich fand keine Antwort auf diese Fragen - wenigstens
nicht im Juli 1920. Vielleicht war Kropotkin dazu imstande.

Als ich Kropotkin das zweite Mal besuchte, waren wir einige Stunden zusammen. Damals entwickelte er mir im einzelnen seine Ansichten über die russische Revolution, über die Rolle der Bolschewiki und die Lehren, welche die Anarchisten und die Welt im allgemeinen daraus ziehen konnten. Er vertrat den Standpunkt, daß die Russische Revolution, was ihre Ziele und Möglichkeiten anbetrifft, größer und umfassender als die Große Französische Revolution war. Es ist zwar richtig, daß das russische Volk im westeuropäischen Sinne nicht so entwickelt ist, dafür aber ist es für eine Neueinteilung des Lebens empfänglicher. Der Geist, der die Massen während der Februar- und Oktober-Revolution beseelte, hat bewiesen, daß sie die großen Veränderungen bestanden, deren Verwirklichung ihre vereinten Kräfte erforderten, und sie waren bereit, ihr Teil zu tun.

Das Volk wußte, daß etwas Gewaltiges vor ihm lag, das es selbst erfassen, organisieren und dem seine Kraft die Wege ebenen mußte. Dieser Geist, obzwar durch Hunger, Entbehrung und Verfolgungen in Banden geschlagen, ist sogar jetzt noch lebendig im Volke. Der Widerstand, den es dem bolschewistischen Joch auf Schritt und Tritt entgegengestellt, ist der beste Beweis dafür. Die Bolschewiki auf ihrem Wege zur Macht, weit entfernt der Vortrupp der Revolution zu sein, wie sie vorgeben, waren vielmehr der Damm, an dem sich die steigende Flut der Volkskraft gebrochen hat.

Mit ihrer festgefaßten Idee, daß nur die Diktatur die Revolution lenken und verteidigen könne, verstärkten sie fortgesetzt ihre furchtbare Staatsmacht, welche heute die Revolution erdrosselt. Als Marxisten konnten sie nicht, noch werden sie jemals begreifen, daß die einzige Garantie für den Erfolg der Revolution in der geistigen Anlage des Volkes, sein eignes Wirtschaftsleben zu organisieren, enthalten ist. Im übrigen erklärte Kropotkin, daß er seine Ansichten über die Russische Revolution in seinem "Brief an die Arbeiter Europas" auseinandergesetzt habe, der, wie ich wohl annehmen darf, eine weite Verbreitung gefunden hat.

Kropotkin sprach auch von dem Anteil, den die Anarchisten an der Revolution genommen haben, von einigen, die ihren Tod fanden, von dem heroischen Kampfe vieler unter ihnen und von der Unverantwortlichkeit einiger wenigen. Vor allem betonte er, daß die Anarchisten sich für die aufbauende Arbeit während der Revolution besser vorbereiten müßten. Ich erinnere mich noch sehr deutlich seiner Worte:

"Wir Anarchisten haben sehr viel von der sozialen Revolution gesprochen. Aber wie wenige von uns haben sich die Mühe genommen, die nötigen Vorbereitungen für die unmittelbare Arbeit, die während und nach der Revolution geleistet werden muß, zu treffen. Die Russische Revolution hat uns die absolute Notwendigkeit solcher Vorbereitungen für praktische konstruktive Arbeit klar vor Augen geführt".

In einem Briefe an einen seiner nahesten Freunde erklärte Kropotkin, daß er zu der Überzeugung gekommen wäre, daß der Syndikalismus die Wirtschaftliche Basis des Anarchismus sei, mit anderen Worten, das Bindeglied für die wirtschaftliche Organisation und der Ausdruck der im Volke schlummernden Kräfte während der revolutionären Periode.

Es war mir ein unvergeßlicher Tag. Leider war es der letzte, den ich in der Gesellschaft unseres großen, alten Mannes verleben sollte. Als man mich während seiner letzten Krankheit ersuchte, den Kranken zu pflegen, erreichte ich Dmitrow eine Stunde nach seinem Tode. Dank der üblichen bürokratischen Konfusion, Unfähigkeit und Verzögerung verlor ich die Gelegenheit, Kropotkin einen kleinen Teil von dem vergelten zu können, was er mir alles getan hatte.

Zwei Dinge berührten mich tief bei Kropotkin während meiner beiden letzten Besuche: die Abwesenheit jedes bitteren Gefühls den Bolschewiki gegenüber und die Tatsache, daß er niemals auf seine eigne Not und Entbehrung zu sprechen kam. Erst nach seinem Tode erfuhr ich einige Einzelheiten über sein Leben unter dem bolschewistischen Regime. Früh im Jahre 1918 hatte Kropotkin eine Gruppe der fähigsten Spezialisten aus allen Zweigen der politischen Ökonomie um sich versammelt. Die Aufgabe dieses Zirkels war eine sorgfältige Untersuchung aller wirtschaftlichen Hilfsquellen, die Rußland damals zur Verfügung standen, das gesammelte Material in bestimmten Monographien zusammenzutragen, damit es beim Wiederaufbau des Landes praktische Verwendung finden könnte.

Kropotkin war der Chefredakteur des Unternehmens. Ein Band war zur Drucklegung vorbereitet, wurde aber nie veröffentlicht. Die "Föderalistische Liga" - so nannte sich diese Gruppe von Männern der Wissenschaft - wurde von der Regierung aufgelöst, das Material, das sie gesammelt hatte, konfisziert. Bei zwei Gelegenheiten wurde Kropotkins Wohnung requiriert und die Familie gezwungen, ein anderes Unterkommen zu suchen. Erst nach diesen Erfahrungen entschloß sich Kropotkin, nach Dmitrow überzusiedeln, wo er in einem unfreiwilligen Exil lebte. Sogar im Sommer war es schwierig, ihn zu besuchen. Man mußte sich eine besondere Reiseerlaubnis verschaffen, und dies erforderte viel Zeit und Mühe. Im Winter war es fast ausgeschlossen, ihn zu erreichen. So wurde der Mann, der früher in seinem Hause die besten und ideenreichsten Köpfe zu empfangen pflegte, zum Leben eines Einsiedlers verdammt.

Seine einzigen Besucher waren unglückliche Bauern, Dorfarbeiter und einige Intellektuelle, die ihm ihr tägliches Elend klagten. Ich erinnere mich, daß Kropotkin am Abend unseres Besuches von einem alten Freunde aus Moskau, einem Gelehrten, einen Brief empfing. Der Mann lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer Stube. Eine kleine Lampe stand auf dem Familientisch, an dem die Kinder ihre Aufgaben machen und die Frau Manuskripte abschreiben mußte, während er selbst an einer Ecke des Tisches seine wissenschaftlichen Untersuchungen anstellte. Er war auf einem Platze beschäftigt, der zwölf Werst von seiner Wohnung entfernt lag und mußte diesen Weg täglich zu Fuß zurücklegen.

Kropotkin, der stets mit der Welt in Berührung war durch zahlreiche Publikationen in allen Sprachen, war nun gänzlich von dieser Quelle geistigen Lebens abgeschnitten. Er konnte sogar nicht erfahren, was in Moskau und Petrograd vor sich ging. Seine einzige Quelle, etwas Neues zu erfahren, waren die beiden Regierungsblätter Prawda und Istwestja. Indem er gezwungen war, in Dmitrow zu wohnen, wurde er in seiner Arbeit an seinem Werke über die Ethik stark behindert, da es ihm dort unmöglich war, die notwendigen Quellenwerke aufzutreiben. Mit einem Wort, Kropotkin wurde geistig ausgehungert, was für ihn zweifellos eine größere Folter war als physische Unterernährung. Er erhielt einen viel größeren Pajok (Ration) als die meisten anderen Leute. Aber sogar das war lange nicht genug, seine Lebenskraft zu bewahren.

Glücklicherweise erhielt er von Zeit zu Zeit von verschiedenen Seiten Unterstützung in der Gestalt von Lebensmitteln. So sandten ihm seine Freunde des Auslands und die in der Ukraine öfter Nahrungsstoffe. Ähnliche Geschenke erhielt er auch von Machno, den die Bolschewiki in jener Zeit als den Schrecken der konterrevolutionären Streitkräfte in Südrußland feierten. Am meisten machte sich bei ihm der Mangel an Licht und Brennstoffen bemerkbar. Als ich Kropotkin und seine Familie 1920 besuchte, schätzten sie sich glücklich, daß sie in mehr als einem Zimmer Licht brennen konnten. Teilweise in den letzten Monaten von 1918 und während des ganzen Jahres von 1919 schrieb Kropotkin an seiner Ethik bei dem flackernden Scheine eines kleinen Öllämpchens, so daß er von der Arbeit bald blind wurde.

Während der kurzen Tagesstunden pflegte er seine Notizen auf einer Schreibmaschine abzuschreiben, wobei er jeden Buchstaben langsam und mit peinvoller Schwere herauspreßte. Trotzdem waren es nicht die eignen Nöte und Unbequemlichkeiten, die an der Lebenskraft Kropotkins zehrten. Es war die Not Rußlands, waren die ungeheuren Leiden rings um ihn, die Unterdrückung jedes selbständigen Gedankens, die Verfolgungen und Verhaftungen der Meinung wegen, die endlosen "Rastreis" auf das Volk, die das letzte Jahr seines Lebens zu einer tiefen Tragödie machten.

Wenn er wenigstens imstande gewesen wäre, etwas mithelfen zu können, um die Leiden zu lindern und die Diktatoren Rußlands zur Vernunft zu bringen. Aber er konnte nicht. Er konnte nicht, wie manche von der alten revolutionären Garde, mit den Feinden der Revolution gemeinschaftliche Sache machen. Sogar, wenn sich ihm die Möglichkeit geboten hätte, seine Proteste in der europäischen Presse erscheinen zu lassen, würden die Reaktionäre dieselben gegen Rußland ausgeschlachtet haben. Nein, er konnte das nicht tun. Und er wußte nur zu gut, daß jeder Protest an die bolschewistische Regierung fruchtlos bleiben würde.

Doch so groß war sein Schmerz, daß er sich bei zwei Gelegenheiten selbst an diese tauben Ohren wandte. Einmal protestierte er gegen die furchtbare Maßregel, Geiseln zu nehmen, das andere Mal gegen die vollständige Unterdrückung aller Verlagsunternehmungen, außer denen des Staates.

Seit die Tscheka ihre unheilvolle Tätigkeit begonnen hatte, hatte die bolschewistische Regierung die Methode des Geiselnehmens sanktioniert. Alt und Jung, Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, sogar Kinder, wurden festgesetzt und oft erschossen für die Vergehen eines der ihrigen, von denen sie in neun von zehn Fällen nicht die kleinste Ahnung hatten.

Im Herbst 1920 drohten die Sozialrevolutionäre, die nach Europa emigriert waren, Vergeltung zu üben, wenn man ihre Kameraden in Rußland weiter verfolgen sollte. Die bolschewistische Regierung veröffentlichte darauf in ihrer offiziellen Presse eine Erklärung, daß man für jeden Kommunisten zehn Sozialrevolutionäre hinrichten würde. Es war damals, daß die berühmte Revolutionärin Wera Figner und Peter Kropotkin ihren Protest an die rentierenden Machthaber sandten. Sie erklärten, daß die Methode, Geiseln zu nehmen, einen Flecken auf dem Schild der russischen Revolution bedeute, daß sie ein Übel sei, das bereits furchtbare Ergebnisse gezeitigt habe, und daß die Nachwelt den Urhebern einer solch barbarischen Methode niemals vergeben werde.

Der zweite Protest wurde erhoben, als die Regierung den Versuch machte, alle Verlagsunternehmen, sowohl politische, genossenschaftliche oder private, zu "liquidieren". Dieser Protest war an das Präsidium des damals tagenden Achten Allrussischen Sowjetkongresses gerichtet. Es ist interessant zu bemerken, daß Gorki, der selbst ein Mitglied des Kommissariats für Erziehung ist, fast am selben Tage einen ähnlichen Protest von Petrograd absandte.

Kropotkin betonte in seiner Darlegung die Gefahr, die eine solche Politik für jeden Fortschritt, in Wahrheit für jedes und alles Gedankenleben nach sich ziehen müsse. Ein solches Geistesmonopol des Staates müsse jede schöpferische Arbeit unmöglich machen. Die Lage in Rußland seit den letzten vier Jahren legt ein beredetes Zeugnis für die Wahrheit dieser Behauptung ab.

Eine der charakteristischsten Merkmale bei Kropotkin war seine Verschwiegenheit in allen Dingen, die ihn selbst betrafen. Während der 36 Stunden, die ich in seinem Hause in Dmitrow zubrachte, als er tot im Sarge lag, habe ich mehr von seinem persönlichen Leben erfahren als in all den Jahren, die ich mit ihm bekannt war. So wußten z.B. nur wenige, selbst aus dem intimeren Zirkel seiner Freunde, daß Peter Alexewitsch ein Künstler und Musiker von bedeutendem Talent war. Unter seinen Sachen fand ich eine ganze Sammlung seiner Zeichnungen, die von großer Kraft zeugen.

Er liebte leidenschaftlich die Musik und war selbst ein Musiker von nicht unbedeutenden Fähigkeiten. Einen großen Teil seiner Mußestunden brachte er am Piano zu. Zweifellos fand er in den Werken der Meister, die er mit tiefem Verständnis erfaßt hatte, Frieden und Vergessenheit.

Er lag in seinem Arbeitszimmer, wie in friedlichem Schlaf versunken, und seine Züge waren noch im Tode so zart und gütig, wie sie im Leben gewesen waren. Da lag er nun, dieser große Sohn Rußlands. In Sturm und Wetter war er der Revolution treu geblieben und würde sie nie aufgegeben haben. Er erlebte es nicht mehr, wie man in Rußland den Kapitalismus gleichsam als Monument auf dem Grabe der Revolution wieder aufgerichtet hat. Aber sogar dies würde ihm seinen inbrünstigen Glauben an die Auferstehung des Volkes und den endlichen Triumph der freiheitlichen Revolution nicht geraubt haben.

Das Schicksal Spiridonowas

Das vorrevolutionäre Rußland stand einzig da in der Hervorbringung von Frauen der revolutionären Bewegung. Vor fast einem Jahrhundert waren es die Dekabristen, deren Frauen ihren Männern in die Verbannung folgten; und dieser Faden spann sich weiter bis in die letzten Stunden des Zarenregimes. Die russischen Frauen nahmen an den heroischen Kämpfen teil, sie gingen mit einem Lächeln auf den Lippen zur Zwangsarbeit oder zum Tode. Unter der großen Anzahl war eine der wunderbarsten Erscheinungen Maria Spiridonowa.

In den Jahren 1905 und 1906 war das Bauerntum Rußlands in großer Bewegung. In der Provinz Tamboff waren die Bauern durch die übertriebene Steuereintreibung und die Brutalität der Behörden sehr erbittert, sie erhoben sich gegen ihre Unterdrücker und steckten einige Güter in Brand. Der Gouverneur von Tamboff, Luschenowsky, weit und breit wegen seines barbarischen Vorgehens berüchtigt, ließ ganze Dörfer durch Kosaken züchtigen. Die Bauern mußten halb nackt stundenlang im tiefen Schnee knieen, während Scharen von ihnen, die aufstanden, niedergemetzelt wurden. Maria Spiridonowa, damals noch ein blutjunges Mädchen, wurde von ihrer Partei, den Sozialrevolutionären, mit der Aufgabe betraut, den Vandalismus, der an den Bauern verübt worden war, durch die Tötung von Luschenowsky zu rächen.

Es war eine schwere Aufgabe. Luschenowsky war wohl bewacht. Mit einer Strafexpedition von Kosaken umgeben, reiste er seit Jahren umher, von Dorf zu Dorf, terrorisierte die Bauern und entzog ihnen das Letzte an Provision, um es für die Kriegführung gegen Japan abzuliefern. Aber all diese Schwierigkeiten schreckten Spiridonowa nicht zurück. Verkleidet als Bäuerin wurde sie Luschenowskys Schatten. Sie hielt sich in Landstraßen und Eisenbahnstationen auf, denn sie war, wie sie erklärte, "auf der Suche" nach ihrem vermißten Manne, der Soldat war. Sie trotzte allen Gefahren, ertrug Entbehrungen und Kälte und hielt treulich an ihrem Vorhaben fest, ständig auf der Wacht hinter dem Gouverneur her, bis sich endlich eine Gelegenheit bot. Als der Zug, auf dem Luschenowsky sich befand, in die Station einlief, wo Spiridonowa geduldig wartete und er, von seinen Offizieren umgeben, auf den Bahnsteig trat, durchbrach Spiridonowa die Kette der Wache und erschoß ihn. Luschenowsky war tot.

Die russischen Zaren waren in der Behandlung weiblicher Revolutionäre ebenso brutal wie gegen Männer. In dem Falle von Spiridonowa überschritten die Menschenjäger des Zaren Nikolaus jedoch die Methoden von Iwan dem Schrecklichen. In dem Wartesaal der Eisenbahnstation wurde sie bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen, ihre Kleider vom Leibe gerissen und dann in die Hände ihrer betrunkenen Wächter übergeben.

Diese machten sich ein Vergnügen daraus, ihren nackten Körper mit brennenden Zigaretten zu verletzen, sie mit Fußtritten zu traktieren und sie schließlich zu vergewaltigen. Mehrere Wochen schwebte sie zwischen Leben und Tod. Schließlich wurde sie zum Tode verurteilt.

Die Nachricht über die Mißhandlungen Spiridonowas brachten in der ganzen Welt Proteste hervor, und dadurch wurde sie vom Schaffot errettet. Das Todesurteil wurde in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien umgewandelt. Nach den Angaben von Gerschuny kam sie dort fast als ein "Bündel rohes Fleisch" an. Durch die Pflege ihrer Kameraden wurde sie im Gefängnis wieder hergestellt. Es blieben ihr jedoch als Folge der furchtbaren Behandlung der sie ausgesetzt war die Schwindsucht, eine verkrüppelte Hand und außerdem verlor sie die Sehkraft eines Auges. Indes, obgleich ihr Körper geschwächt und gebrochen war, flammte ihr Geist weiter, wie vorher.

Die Februar-Revolution öffnete die Tore für alle politischen Gefangenen Rußlands. Auch Spiridonowa befand sich unter ihnen. Wer beschreibt ihre Freude, als sie die Freiheit begrüßte! Sie wollte jedoch das Gefängnis nicht verlassen, ehe sie die Gewißheit hatte, daß alle politischen Gefangenen befreit würden. Unter dem großen Jubel der Bevölkerung kam Maria Spiridonowa nach Rußland zurück. Sie setzte sich jedoch nicht in den Winterpalast, um sich zu mästen, sie wollte nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Sie fand sich selbst in den hohen Wogen der sich türmenden Massenenergien wieder, insbesondere in der Bauernbewegung, denn die Bauern achteten sie und vertrauten ihr. Sie wurde Vorsitzende des Exekutivkomitees des allrussischen Sowjets der Bauernvertreter. Sie begeisterte, organisierte und leitete die neuerstandene Bewegung und Tätigkeit der Bauern. Viele alte Revolutionäre, die jahrelang den revolutionären Boden mit ihren Tränen und ihrem Blute befruchteten, konnten den Zug der neuen Zeit nicht fassen; Maria Spiridonowa jedoch war sich bald klar darüber, daß die Februar-Revolution nur das Vorspiel zu einer größeren und tieferen Veränderung sei.

Als die Oktober-Revolution gleich einer mächtigen Lawine viele der alten revolutionären Kämpfer übermannte, blieb Spiridonowa ihrem revolutionären Glauben treu und hielt sich stets in den Zeiten der größten Not an der Seite des Volkes. Sie arbeitete Tag und Nacht, immer im Dienste ihrer geliebten Bauern.

Sie war die Seele des Landwirtschafts-Departements und arbeitete einen Plan für die Sozialisierung des Landes aus. Das war ein Lebensproblem Rußlands zu dieser Zeit. Wie ihr zarter Körper und ihre schwachen Lungen diese furchtbaren Anstrengungen aushalten konnten, ist in der Tat ein Rätsel. Nur ihre große Willensmacht und beispiellose Ergebenheit konnten sie in dieser schweren Zeit aufrecht erhalten.

Bereits anfangs 1918 wurde Maria Spiridonowa gewahr, daß die Revolution von ihren Freunden stärker bedroht war, als von ihren Feinden. Die Bolschewisten, zur Macht gelangt durch revolutionäre Parolen, die sieteils von den Anarchisten und teils von den Sozialrevolutionären geliehen hatten, schlugen bald andere Pfade ein. Der erste Schritt in dieser Richtung war der Frieden zu Brest-Litowsk. Lenin bestand auf der Bestätigung dieses "Friedens", nur "um der Revolution eine Atempause zu verschaffen". Maria Spiridonowa, gleich vielen anderen Revolutionären verschiedener Schulen, für welche die Revolution nicht nur ein Laboratorium für politische Experimente war, bekämpfte diese Bestätigung. Sie alle behaupteten, daß dieser Frieden den Verrat der Ukraine in sich schloß, die gerade damals begeistert und siegreich die deutschen Eindringlinge aus Südrußland vertrieb; daß er ferner die ausschließliche Herrschaft der bolschewistischen Partei über das russische Volk bedeutete, sowie die Unterdrückung aller politichen Bewegungen, daß er außerdem den bittersten Bürgerkrieg zur Folge haben würde, kurz, die Leninsche Atempause würde die vollständige Erstickung der Revolution mit sich bringen.

Auch viele andere Kommunisten waren zu dieser Zeit gegen den Brests-Litowsk-Frieden, denn auch sie sahen die Gefahr, die hierin lag. Sie wurden jedoch bald zur Annahme durch die eiserne Disziplin der Partei gezwungen. Lenin setzte sich durch, und der Leidensweg der russischen Revolution begann.

Noch in Amerika hörte ich viele sich widersprechende Nachrichten über das Schicksal Maria Spiridonowas in Sowjet-Rußland. Bei meiner Ankunft in Rußland zog ich sofort Erkundigungen über sie ein. Mir wurde von verantwortlichen Kommunisten mitgeteilt, daß ihr Nervensystem vollständig zerrüttet, daß sie an hysterischen Anfällen leide und daß sie "zu ihrem eigenen Besten" in einem Sanatorium untergebracht sei und "die beste Pflege" genösse.

Ich konnte mit ihr nicht eher als im Juli 1920 zusammenkommen. Sie lebte illegal, d.h. verborgen in Moskau, verkleidet als Bäuerin, genau so wie in den Tagen des Zarismus. Es gelang ihr, sich aus dem "Sanatorium mit der besten Pflege" zu befreien, das sich als ein bolschewistisches Gefängnis erwies. Ich fand keine Spur von Hysterie bei Maria Spiridonowa. Ich fand eine Person in ihr mit dem größten Gleichgewicht, Selbstkontrolle und der schönsten Ruhe, wie ich sie bis dahin noch nie in Rußland antraf. Volle zwei Tage hielten mich bei ihr fest, um ihre Erfahrungen über die russische Revolution zu hören. Ich vernahm, wie das Volk sich begeistert erhob, die schönsten Hoffnungen und Möglichkeitcn an die Revolution knüpfte und dann von der kommunistischen Staatsmaschine ins Elend und in Enttäuschungen hinabßeschleudert wurde. Sie sprach mit bewundernswerter Klarheit und mit großer Kraft der Überzeugung.

Jetzt hörte ich auch, daß sie von den Bolschewisten zweimal ins Gefängnis gesteckt wurde. Das erste Mal nach der Ermordung von Mirbach, als die Bolschewisten den 5. Kongreß der Sowjets geschlossen hatten und die gesamte Fraktion der linken Sozialrevolutionäre verhafteten, die von Maria Spiridonowa geleitet wurde. Nach fünf Monaten freigelassen, wurde sie Ende Januar 1919 wieder verhaftet und in ein "Sanatorium" gesperrt - nicht weil sie hysterisch oder ihr Geist gebrochen war, sondern weil sie nicht den Schmeicheleien zugänglich war und nicht bestochen werden konnte, die sogenannte Diktatur des Proletariats anzuerkennen.

Sie sprach frei und frank zu dem Volke von der Gefahr, die der Revolution von den neuen Politikanten, den Bolschewisten drohte; und das Volk hörte ihr freudig zu. Die Bolschewisten behaupteten der Welt gegenüber, Spiridonowa hätte erklärt, die grimmigen Verfolgungen, die nach der Hinrichtung von Mirbach gegen die linken Sozialrevolutionäre einsetzten, seien darauf zurückzuführen, daß diese die Regierungsmacht zu erobern suchten. Sie verneinte leidenschaftlich und bestimmt, daß ihre Fraktion jemals die Absicht hatte, den Kommunisten die Macht streitig zu machen. Und diese ihre Worte sind durch eine Menge Dokumente belegt.

Spiridonowa und ihre Gesinnungsgenossen sehen in dem Frieden von Brest-Litowsk den größten Verrat an der Revolution. Sie betrachteten die Anwesenheit Mirbachs in Sowjet-Rußland als eine Beleidiguiig und als eine Bedrohung seitens des Imperialismus. Sie forderten offen zur Tötung von Mirbach und zur Erhebung gegen die deutschen Eindringlinge auf. Sie sahen die Revolution in Gefahr. Sie bekannten ihren Glauben offen, nie aber hatten Spiridonowa und ihre Kameraden Kenntnis oder gar Anteil an irgend einem Komplott zur Eroberung der Macht.

Nach der Tötung Mirbachs ging Spiridonowa selbst zur Sitzung des fünften Allrussischen Kongresses der Sowjets, um eine offizielle Erklärung ihrer Fraktion abzugeben. In dieser Erklärung wurde die Notwendigkeit und die Rechtfertigung für den Tod Mirbachs gegeben. Sie und ihre Genossen waren auf alle Folgen, die aus diesem Akte entstehen konnten, gefaßt. Die Bolschewisten verhinderten die Verlesung der Erklärung durch die Schließung des Kongresses und verhafteten die gesamte Bauernpräsentation mit Maria Spiridonowa an der Spitze.

Im September war die Tscheka wieder bestrebt, ihre Notwendigkeit für die Revolution durch eine ihrer periodischen Razzien und Entdeckungen von Verschwörungen zu erweisen. Bei der Razzia, die in Moskau stattfand, wurde der verborgene Aufenthaltsort Spiridonowas zufällig entdeckt. Sie war gerade an Typhus erkrankt und konnte nicht transportiert werden. Das ganze Haus wurde von einer schweren Wache umgeben und niemand von außen zu ihr gelassen.

Nachdem die Krise vorüber war, wurde Spiridonowa, obzwar sie immer noch sehr krank war, in das Gefängnishospital der Ossoby Odell (Geheimpolizei) gebracht. Sie befand sich aber noch in einer solch hilflosen Lage, daß eine ihrer politischen Freundinnen von den linken Sozialrevolutionären, die sie noch von Sibirien her kannte, zur Pflege zugelassen wurde. Beide wurden der strengsten Bewachung unterworfen und waren von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten.

Im Juni 1921 gab sie in einem Briefe ein traurigeis Bild von ihrem bedauernswerten Dasein. Die ständige Bewachung der "Genossen" von der Tschcka, die anhaltende Einzelhaft, die Beraubung von geistiger und körperlicher Nahrung vollendeten langsam, was die Foltern in der Zarenzeit nicht fertig brachten. Dazu kommen noch die Halluzinationen, daß sie von den Polizeibütteln des Zaren und den Tschekisten Lenins verfolgt sei.

Schließlich entschloß sie sich, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen, sie wünschte zu sterben. Die Tscheka drohte ihr zwangsweise Nahrung beizubringen und ließ dann auch auf die Forderung Spiridonowas zwei ihrer intimsten Freunde zu ihr. Diesen, Ismaelowitsch und Kamkoff, die selbst Gefangene waren, gelang es, Maria zu überreden, wieder zu essen.

Während der beiden Kongresse im Juli 1921 in Moskau (der III. Internationale und der Roten Gewerkschaftsinternationale) verteilten die Kameraden Spiridonowas ein Manifest an die ausländischen Delegierten. Dies Manifest wurde dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und der Regierung übersandt und lenkte die Aufmerksamkeit auf den Zustand Spiridonowas. Es wurde ihre Freilassung gefordert, damit sie sich einer ärztlichen Behandlung und Pflege unterziehen könne.

Eine hervorragende ausländische Delegierte des Kongresses der III. Internationale bekam Gelegenheit, sich mit der Sache zu befassen. Sie sprach mit Trotzky in der Angelegenheit und dieser sagte, daß Spiridonowa noch zu gefährlich sei, um entlassen zu werden. Erst später, als Berichte über ihren Zustand in der sozialistischen Presse Europas erschienen waren, hat man sie unter dem Vorbehalt freigegeben, daß sie nach ihrer Genesung die Gefängnishaft nachholen müsse. Ihre Freunde, die sich jetzt ihrer angenommen haben, können nur zwischen der Alternative wählen, sie entweder umkommen zu lassen oder in die "allerbeste Pflege" der Tscheka zurückzugeben.

Maria Spiridonowa kann nur gerettet werden, wenn man ihr die Möglichkeit gibt, Rußland zu verlassen.

Ihre Freunde machten diesen Versuch und forderten dies von der bolschewistischen Regierung, bis jetzt aber vergeblich. 1906 rettete der Protest der ganzen zivilisierten Welt Spiridonowa das Leben. Es ist wirklich tragisch, daß ein ähnlicher Protest sich ihretwegen wieder notwendig erweist. Fern von den wachsamen Augen der Tscheka, von dem Leid und Weh des gequälten Rußland, irgendwo in reiner, freier Bergluft, kann Spiridonowa wohl noch genesen. Sie hat hundertfach Leiden ertragen, kann sie nicht noch dem Leben zurückgegeben werden?

Nachdem dieser Artikel bereits geschrieben war, richtete das Rote Kreuz Rußlands an den Präsidenten der Moskauer Tscheka (die jetzt politische Ochrana heißt) namens Unschlicht, das Ersuchen, Spiridonowa zu gestatten, Rußland zu verlassen. In seiner Antwort soll dieser redliche Verteidiger des bolschewistichen Staates gesagt haben, daß die Verhältnisse in Europa für Spiridonowa schädlich sein würden. Also kann man ihr nicht gestatten, das Land zu verlassen. Diese Entschuldigung Unschlichts ist sehr seltsam angesichts der Tatsache, daß die Verhältnisse in Europa für die Gesundheit der russischen Delegation in Genua keineswegs schädlich zu sein scheinen. Auch die zahlreichen Vertreter der Sowjetregierung in den Hauptstädten Europas sind nicht von den Verhältnissen angesteckt worden. Warum sollen also die europäischen Verhältnisse Maria Spiridonowa schaden?

Unschlichts Grund ist nur einer der vielen unverschämten Ausflüchte, deren sich die Bolschewisten stets bedienen, wenn sie sich aus einer unangenehmen Situation ziehen wollen. Sie sind nicht nur völlig unbekümmert um das Wohlergehen Spiridonowas, sondern haben im Gegenteil alles getan, um sie los zu werden, und sie würden sicher einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, wenn Spiridonowa ihnen den Gefallen täte, das Zeitliche ganz zu segnen. Nachdem sie vom Ossoby Odell freigegeben wurde, waren es wahrlich nicht die Bolschewisten, sondern das Rote Kreuz und ihre persönlichen Freunde, die für ihren Unterhalt sorgten. Warum also mit einem Male die Fürsorge seitens Unschlichts?

Die Wahrheit in dem Falle Spiridonowas ist unverrückbar. In Rußland ist sie mundtot gemacht, in Europa kann ihre Stimme gehört werden. Herr Unschlicht weiß das, im Kreml weiß man dies auch, deshalb läßt man sie nicht aus Rußland. Die Arbeiter Europas dürfen sich aber mit den Entschuldigungen Unschlichts nicht zufrieden geben. Sie müssen von der bolschewistischen Regierung fordern, Maria Spiridonowa freizugeben. Das ist das wenigste, was ein revolutionärer Arbeiter tun kann für eine von denen, die so anhaltend und heroisch für die Freiheit in Rußland und in der Welt gekämpft haben.

Maria Spiridonowa, die sich weder von der zaristischen noch von der bolschewistischen Regierung bestechen, noch durch Schmeicheleien fangen ließ, sollte von dem revolutionären Proletariat fordern dürfen, daß es ihr aus der "zarten Pflege" und Fürsorge von Leuten wie Unschlicht und deren Regierung zur Freiheit verhilft.

Verlag: "Der Syndikalist", 1922

Originaltext: http://www.archive.org/details/dieursachendesni00gold (Rechtschreibung und Scanfehler bearbeitet)

 


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