Victor Serge - Die Liquidation
Die Tragödien gingen weiter. Aus Odessa kam eine ungeheuerliche Nachricht: Die Tscheka hatte Fanny Baron (die Frau Aaron Barons) und Lew Tschorny, einen der Ideologen des russischen Anarchismus, erschossen. (Es war eine schmutzige Geschichte provinzieller Provokation gewesen.) Lew Tschorny hatte ich ein Dutzend Jahre früher in Paris gut gekannt, als er mit seinem wächsernen Teint, den tiefen Augenhöhlen und den glühenden Augen wie eine Figur, die aus einer byzantinischen Ikone herabgestiegen zu sein schien, im Quartier Latin lebte, wo er die Fensterscheiben der Restaurants wusch, um dann unter den Bäumen des Luxembourg seine Soziometrie zu schreiben. Er kam natürlich aus irgendeinem Gefängnis oder Zuchthaus, ein systematischer Geist, ein großer Gläubiger und Asket. Sein Tod empörte Emma Goldman und Alexander Berkman. Während des III. Kongresses der Internationale hatte Emma Goldman daran gedacht, einen Skandal im Stil der englischen Suffragetten heraufzubeschwören: Sie wollte sich an einen Sitz auf den Publikumstribünen anketten lassen und dem Kongreß ihren Protest zuschreien ... Die russischen Anarchisten redeten es ihr aus. Im Lande der Skythen bedeuteten solche Demonstrationen nicht viel; besser war es, Lenin und Sinowjew zu belästigen. Emma Goldman und Alexander Berkman, die doch aus einer Regung lebhafter Sympathie nach Rußland gekommen waren, lebten in einer solchen Entrüstung, daß ihnen jede Gelassenheit des Urteils abhanden gekommen war und sie in der großen Revolution nur noch das erbärmliche Elend, eine unmenschliche Entfesselung der Macht, das Ende aller Hoffnungen sahen. Meine Beziehungen zu ihnen wurden schwierig, ebenso schwierig wie die zu Sinowjew, an den ich schon mehrmals die Frage nach der Verfolgung der Anarchisten gerichtet hatte - und den ich seit Kronstadt mied. Unsere hartnäckige Kampagne für die Befreiung der Verfolgten erreichte dennoch etwas: etwa zehn gefangen gehaltene Anarchisten, unter ihnen der Syndikalist Maximow und Boris Wolin, erhielten die Erlaubnis, Rußland zu verlassen. Andere wurden freigelassen. Kamenew versprach, Aaron Baron werde verbannt werden, aber dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Die Tscheka widersetzte sich. Auch Menschewiken, unter ihnen Martow, erhielten Pässe für das Ausland.
Die Affäre von Kronstadt, diese letzten Tragödien, der Einfluß Emma Goldmans und Alexander Berkmans auf die Arbeiterbewegung beider Welten, sollten von da an einen unüberschreitbaren Graben zwischen Marxisten und Anarchisten ziehen. Und diese Trennung sollte später in der Geschichte eine verhängnisvolle Rolle spielen: sie war eine der Ursachen der intellektuellen Verwirrung und des Scheiterns der spanischen Revolution. In dieser Hinsicht haben sich meine schlimmsten Ahnungen bestätigt. Aber die Mehrzahl der Bolschewiken betrachtete den Anarchismus als eine kleinbürgerliche Bewegung, die mitten im Verfall, ja sogar schon im Begriff war, eines natürlichen Todes zu sterben. Die amerikanische Erziehung Emma Goldmans und Alexander Berkmans hielt sie den Russen fern und machte sie zu Vertretern einer in Rußland völlig verschwundenen idealistischen Generation. (Denn ich zweifle nicht, daß sie sich im Schoße der Bewegung Machnos genau so heimatlos und von einer Menge von Dingen abgestoßen gefühlt hätten.) Sie verkörperten die humanistische Rebellion vom Ende des vorigen Jahrhunderts, Emma Goldman in ihrem Organisationsgeist, ihrem praktischen Verstand, ihren engen und zugleich großherzigen Vorurteilen, mit der Sorge um sich selbst, wie sie einer Amerikanerin eignet, die sich einem sozialen Wirken verschrieben hat, Berkman mit der inneren Spannung seines alten Idealismus. Seine 18 Jahre Gefängnis (in den Vereinigten Staaten) hatten in ihm die geistige Einstellung seiner Jugend aufrechterhalten, wo er zur Unterstützung eines Streiks sein Leben eingesetzt hatte, indem er auf einen der Stahlkönige schoß. Als die Spannung aussetzte, wurde er trübsinnig, und ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, daß ihn schon damals Selbstmordgedanken heimsuchten, obgleich er erst viel später (1936, an der Cote d'Azur) seinem Leben ein Ende setzen sollte.
Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970
Nach: Beruf: Revolutionär. Erinnerungen 1901/1917-1941.Aus dem Französischen von Cajetan Freund. Frankfurt/M. 1967, S. 174-76.
Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s
Gescannt von anarchismus.at