Peter Kropotkin - An die westeuropäischen Arbeiter (Juni 1920)
Man fragte mich, ob ich den Arbeitern der westlichen Welt nicht eine Botschaft zu senden hätte? Sicherlich ist Vieles über die augenblicklichen Ereignisse in Rußland zu sagen und vieles aus ihnen zu lernen. Die Botschaft könnte eine sehr ausführliche sein, doch will ich nur einige hauptsächliche Punkte ausführen:
Vor allen Dingen sollten die Arbeiter der zivilisierten Länder und deren Freunde der anderen Gesellschaftsklassen auf ihre Regierungen dahinwirken, daß diese gänzlich von dem Gedanken eines bewaffneten Eingreifens in russische Angelegenheiten absehen, sei es ein Eingreifen offener oder verkappter Art, ein militärisches oder in der Form von Unterstützungen durch verschiedene Nationen.
Rußland durchlebt jetzt eine Revolution von der gleichen Wichtigkeit und Tragweite wie sie von 1639 bis 1648 die Britische Nation und Frankreich von 1789 bis 1794 durchgemacht haben; und jede dieser Nationen muß sich weigern, eine so beschämende Rolle wie Großbritannien, Preußen und Österreich zur Zeit der französischen Revolution zu spielen. Überdies muß berücksichtigt werden, daß die russische Revolution - indem sie versucht, eine Gesellschaft zu bilden, in der alle Produkte aus Arbeit, Technik und Wissenschaft dem Allgemeinwohl zugute kommen sollen -, nicht nur durch einen bloßen Zufall im Kampf der verschiedenen Parteien entstanden ist. Sie ist fast ein Jahrhundert lang, seit den Zeiten Robert Owens, Saint-Simons und Fouriers durch kommunistische und sozialistische Propaganda vorbereitet worden; und obgleich der Versuch, die neue Gesellschaftsform durch die Diktatur einzuführen, ganz offenbar ein Mißgriff ist, muß trotzdem anerkannt werden, daß die Revolution schon jetzt in das tägliche Leben neue Begriffe über die Arbeit, die wirkliche Stellung des Staats und die Pflichten jedes Bürgers eingeführt hat.
Überhaupt sollten nicht nur die Arbeiter, sondern alle fortschrittlichen Elemente der zivilisierten Nationen versuchen, die Unterstützung, die bisher den Gegnern der Revolution zuteil wurde, zu verhindern. Das heißt nicht etwa, als wäre nichts gegen die Methoden der bolschewistischen Regierung einzuwenden; weit davon entfernt! Aber jedes bewaffnete Eingreifen einer ausländischen Macht verursacht eine Verstärkung der diktatorischen Tendenzen der Regierenden und schwächt die Bestrebungen jener Russen, die unabhängig von der Regierung bereit sind, Rußland beim Wiederaufbau seines Lebens nach neuen Grundsätzen zu helfen. Die Übel, die natürlicherweise eine Parteidiktatur mit sich bringt, sind durch den Kriegszustand, in dem sich die Partei behaupten muß, vermehrt worden. Der Kriegszustand gibt den Vorwand ab sowohl für das Erstarken der diktatorischen Methoden der Partei, als auch für ihre Tendenz, alle Einzelheiten des Lebens in den Händen der Regierung zu zentralisieren, mit dem Erfolg, daß ungeheure Kräfte innerhalb der Nation zum Stillstand gebracht wurden. Die natürlichen Übel des staatlichen Kommunismus sind verzehnfacht durch die Entschuldigung, daß alles Unglück unseres Lebens der Intervention Fremder zu verdanken ist.
Außerdem will ich erwähnen, daß eine Fortsetzung der militärischen Intervention der Alliierten unbedingt in Rußland ein bitteres Gefühl gegen die westlichen Nationen hervorrufen wird, und daraus wird man eines Tages bei Konflikten Nutzen ziehen. Eine solche Bitterkeit ist schon jetzt im Entstehen. Kurzum, es ist höchste Zeit, daß die westeuropäischen Nationen in direkte Beziehungen zu Rußland treten. Und hierin habt ihr, ihr Arbeiter und ihr Fortschrittler aller Nationen, auch mitzureden.
Noch ein Wort über allgemeine Fragen. Eine Erneuerung der Beziehungen zwischen den europäischen und amerikanischen Nationen und Rußland bedeutet natürlich nicht eine Vorherrschaft der russischen Nation über jene Nationalitäten, die das ehemalige Zarenreich bildeten. Das imperialistische Rußland ist tot und wird nie wieder auferstehen. Die Zukunft der verschiedenen Provinzen, aus denen sich das Reich zusammensetzte, liegt in der Richtung auf eine große Föderation. Die natürlichen Territorien der verschiedenen Teile der Föderation sind denen unter uns genau bekannt, die mit der Geschichte Rußlands, seiner Ethnographie und seiner Wirtschaftslage vertraut sind. Und alle Versuche, die sich selbst verwaltenden Teile Rußlands - Litauen, Finland, die baltischen Provinzen, die Ukraine, Georgien, Armenien, Sibirien usw. - unter eine Herrschaft zu bringen, werden sicherlich mißlingen. Die Zukunft des ehemaligen Russischen Reichs liegt im Bündnis von einander unabhängiger Gebiete. Es liegt daher im Interesse der Allgemeinheit, wenn die westlichen Nationen bereits im voraus das Recht der Selbstregierung jedes einzelnen Gebietes des ehemaligen Russischen Reichs anerkennen.
Meiner Ansicht nach wird die Entwicklung in dieser Richtung fortgehen. Ich sehe die Zeit nahen, wo jeder Teil dieser Föderation desgleichen eine Föderation freier Gemeinden und freier Städte sein wird. Und ich glaube doch, daß ein Teil des westlichen Europas bald dieser Entwicklung folgen wird. Was nun unsere gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage anbetrifft - die russische Revolution muß als eine Fortsetzung der beiden großen Revolutionen in England und Frankreich betrachtet werden - so versucht Rußland dort einen Schritt weiterzugehen, wo Frankreich stehen blieb, als es im Leben verwirklichen wollte, was es die wahre Gleichheit (egalite de fait) nannte, nämlich die wirtschaftliche Gleichheit.
Unglücklicherweise ist der Versuch, jenen Schritt zu unternehmen, in Rußland unter der streng zentralisierten Diktatur einer Partei - den sozialdemokratischen Maximalisten - unternommen worden; und der Versuch wurde auf dieselbe Weise wie die Verschwörung Babeufs unternommen, extrem zentralistisch und jakobinerhaft. Ich muß euch offen gestehen, daß meiner Meinung nach der Versuch, eine kommunistische Republik gemäß den Richtlinien eines streng zentralisierten Staatskommunismus, unter der eisernen Herrschaft der Diktatur einer Partei aufzubauen, dabei ist, in einem Fiasko zu enden. Aus den russischen Verhältnissen lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden sollte, obgleich die durch das alte Regime entkräftete Bevölkerung bei dem Experiment der neuen Regierung keinen aktiven Widerstand leistete.
Die Idee der Soviets, das heißt, der Arbeiter- und Bauernräte, wurde zuerst während der Revolution von 1905 ausgesprochen und sofort, als das Zarenregime zusammenbrach, durch die Revolution im Februar 1917 verwirklicht. Die Idee solcher Räte, die das politische und wirtschaftliche Leben des Landes kontrollieren, ist außerordentlich bedeutungsvoll. Um so mehr, da sie notwendig zu der Idee führt, daß diese Räte aus all denen gebildet sein müssen, die durch ihre persönliche Anstrengung einen realen Beitrag zu der Produktion des nationalen Reichtums leisten.
Doch so lange das Land von der Diktatur einer Partei beherrscht wird, verlieren die Arbeiter- und Bauernräte augenscheinlich ihre Bedeutung. Sie sind zu eben der passiven Rolle verdammt, welche einstmals die durch den König einberufenen Generalstände und Parlamente spielen mußten, die der Allmacht der königlichen Regierung opponieren durften. Ein Arbeiterrat hört auf, ein freier und wertvoller Ratgeber zu sein, sobald nicht Pressefreiheit im Lande herrscht, wie wir es seit fast zwei Jahren im Lande durchgemacht haben; als Vorwand hierfür dient der Kriegszustand. Mehr als das: Die Arbeiter- und Bauernräte verlieren all ihre Bedeutung, wenn den Wahlen nicht eine freie Wahlkampagne vorhergeht und wenn sie unter dem Druck der Parteidiktatur vor sich gehen.
Natürlich ist die übliche Entschuldigung, daß eine diktatorische Herrschaft als Kampfmittel gegen die alte Regierung unvermeidlich ist. Jedoch bedeutet solch eine Herrschaft einen Schritt zurück, sobald die Revolution zur Errichtung einer neuen Gesellschaft auf neuer wirtschaftlicher Basis fortschreitet; sie wird zum Todesurteil für diese neue Gesellschaft. Die Wege, die zur Überwältigung einer bereits geschwächten Regierung führen, sind aus der alten und neuen Geschichte wohl bekannt. Doch wenn ganz neue Lebensbedingungen geschaffen werden sollen, besonders neue Formen der Produktion und des Austausches, ohne einem Beispiel folgen zu können, - wenn alles gleich auf der Stelle geleistet werden muß, dann wird eine machtvolle zentralisierte Regierung, die es sich zur Aufgabe macht, jedem Einwohner mit jedem Lampenzylinder und jedem Streichholz zum Anzünden der Lampe zu versehen, sich absolut unfähig erweisen, dieses mittels ihrer Funktionäre, so zahlreich sie auch sein mögen, zu leisten, und sie wird schädlich. Sie entwickelt eine ungeheure Bürokratie, verglichen mit der das französische bürokratische System, welches die Intervention von 40 Funktionären benötigt, um einen vom Sturm auf der Nationalstraße gefällten Baum zu verkaufen, als Bagatelle erscheint. So etwas sehen wir jetzt in Rußland. Und das könnt und müßt ihr, ihr Arbeiter des Westens, unter allen Umständen vermeiden, wenn euch an dem Erfolg eines sozialen Ausbaues gelegen ist und die ihre eure Delegierten hierher gesandt habt, um zu sehen, wie die Revolution in Wirklichkeit ist.
Die ungeheure Aufbauarbeit, die eine soziale Revolution erfordert, kann durch eine zentrale Regierung nicht geleistet werden, selbst wenn ihr als Führer wertvollere Dinge zur Verfügung stehen als einige sozialistische und anarchistische Schriften. Sie erfordert das Wissen, die geistige Arbeit und die Zusammenarbeit einer Masse örtlicher und spezialisierter Kräfte, die allein mit der Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen Probleme in ihrem örtlichen Umkreis kämpfen können. Diese Zusammenarbeit hinwegzufegen und das Vertrauen auf den Genius der Parteidiktatoren zu befestigen, den unabhängigen Kern zu zerstreuen, wie er in den Gewerkschaften und in örtlichen Konsumgenossenschaften sich findet - indem man sie in bürokratische Organe der Partei verwandelt -, das ist das, was jetzt geschieht, doch das ist nicht der Weg, die Revolution weiterzuführen; das ist der Weg, ihre Verwirklichung unmöglich zu machen. Und daher betrachte ich es als meine Pflicht, euch vor diesen Grundsätzen für die Aktion ernstlich zu warnen.
Imperialistische Eroberer aller Nationalitäten mögen wünschen, daß die Bevölkerung des Ex-Zarenreiches Rußland so lange als möglich in elenden wirtschaftlichen Verhältnissen leben sollte, um dazu verdammt zu sein, das westliche und Mitteleuropa mit Rohstoffen zu versehen, während die Fabrikanten des Westens die Fertigware produzieren und all den Nutzen einstreichen, den die russische Bevölkerung für ihre Leistung erhalten müßte. Aber die Arbeiterklassen Europas und Amerikas sowie der intellektuelle Kern dieser Länder begreifen sicherlich, daß einzig die Gewalt Rußland in diesem unterdrückten Zustand erhalten könnte. Gleichzeitig zeigen die Sympathien, die man unserer Revolution von ganz Europa und Amerika her bezeugt, daß ihr glücklich wäret, Rußland als ein neues Glied der Internationalen Gemeinschaft der Nationen zu begrüßen. Und bald werdet ihr sehen, daß es im Interesse der Arbeiter der ganzen Welt liegt, daß Rußland aus den Verhältnissen baldmöglichst herauskommt, die seine Entwicklung hemmen.
Noch ein paar Worte: Der letzte Krieg hat neue Lebensbedingungen für die zivilisierte Welt geschaffen. Der Sozialismus wird einen ganz bedeutenden Aufschwung erfahren, und neue Formen eines unabhängigen Lebens werden sicherlich bald gemäß den Richtlinien lokalpolitischer Unabhängigkeit und schöpferischer Initiative geschaffen werden; entweder auf friedlichem Wege oder durch revolutionäre Mittel, wenn die intelligenteren Kreise der zivilisierten Nationen sich nicht an der Arbeit des unausbleiblichen Wiederaufbaues beteiligen.
Aber der Erfolg des Wiederaufbaus hängt zum größten Teil von der Möglichkeit einer Zusammenarbeit der verschiedenen Nationen ab. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Arbeiterklassen aller Nationen eng verbunden sein, und gilt es, die Idee einer großen Internationale aller Arbeiter der Welt zu erneuern; nicht in der Form einer Vereinigung, die von einer einzelnen Partei geführt wird, wie es bei der zweiten Internationale der Fall war, und wie es wieder in der dritten Internationale der Fall ist. Solche Vereinigungen haben natürlich volle Daseinsberechtigung, aber außer ihnen muß sie alle zusammenfassen, eine Vereinigung aller Arbeiterorganisationen der Welt entstehen, vereinigt zu diesem Zweck, die Arbeit der ganzen Welt von der gegenwärtigen Versklavung durch das Kapital zu befreien.
Aus: Peter Kropotkin – Unterredung mit Lenin sowie andere Schriften zur russischen Revolution, Verlag „Die Freie Gesellschaft“, Hannover 1980
Der Text wurde von Max Otto Lorenzen übersetzt, die Originalquelle ist in der Broschüre leider nicht angegeben. Eine andere Übersetzung des Textes findet sich in dem Buch Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie; Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970.
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